Historische Singularität

Von Jürgen Fritz, Di. 21. Jul 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Public Domain

Wir erleben derzeit etwas, was es wohl nie zuvor in der Menschheits-, ja überhaupt in der Naturgeschichte gab. Wir sehen eine Kultur, die mehr ist als das: eine Zivilisation, welche für hunderte Millionen so attraktiv ist, dass sie an den Früchten dieser Zivilisation, welche sie selbst hervorzubringen, nicht fähig sind, gerne partizipieren möchten. Diese Zivilisation hat aber zugleich einen Grad der Verfeinerung erreicht, dass sie nun gleichsam beginnt, sich nicht gegen das Unzivilisierte zu wenden, sondern gegen sich selbst. Wie ist das möglich? Wie konnte es soweit kommen?

Der schiefe Blick und die Blindheit gegenüber der eigenen Blindheit

Zunächst muss man sich wohl verdeutlichen, dass sowohl Gewalt als auch Ungerechtigkeit zum Wesen des Menschen dazugehören, mithin sogar konstitutive Momente seiner Gattung sein dürften. Die Entwicklung nicht nur einer Kultur, sondern einer Zivilisation bemüht sich dies beides, die Gewalt und die Ungerechtigkeit, halbwegs unter Kontrolle zu bringen, beide nicht auf Null zu senken, das dürfte schwerlich möglich sein, aber doch merklich zu reduzieren auf ein für fast alle erträgliches Maß, wie es die Welt vielleicht nie zuvor gesehen hat. Nun kommt aber das Verrückte.

Diese Zivilisation entwickelte nun eine immense Verfeinerung und höchste Sensibilisierung gegen jede Form der Gewalt und Ungerechtigkeit, das aber mit der Zeit seltsamerweise nur noch bei sich selbst, nicht mehr anderen gegenüber. Sie entwickelte also ein Höchstmaß an Sensibilisierung bei gleichzeitig völliger Unsensibilität gegenüber fremder Gewalt und Ungerechtigkeit. Sieht sie hier, bei sich, jede Kleinigkeit, erkennt quasi jeden noch so winzigen Floh, so sieht sie dort, bei den anderen, nicht einmal den größten Elefantenbullen. Wie ist das möglich? Woher kommt diese völlige Blindheit wie auch die Blindheit in Bezug auf dieses Blind-sein?

Die kulturelle Fehlprogrammierung

Diese Blindheit ist nicht zivilisatorisch, sondern kulturell bedingt. Das heißt, dies muss nicht so sein in einer zivilisierten Gesellschaft, in dieser speziellen ist es de facto aber so. Dabei geht diese kulturelle (Fehl)-Prägung geht so tief, dass sie nicht kaum noch gewendet werden kann. Dazu müsste man quasi die Seelen komplett neu konfigurieren und das dürfte nicht möglich sein. Denn das, wenn man so will, geistige, selbstzerstörerische Virus wurde bereits vor rund zweitausend Jahren eingepflanzt beziehungsweise hat sich die westliche Welt nein, nicht aus China, sondern aus dem Morgenland, dem nahen Osten eingefangen. So lange war gleichsam seine Inkubationszeit und jetzt erst schlägt es voll durch, nachdem es – um im Bild zu bleiben – nahezu sämtliche Zellen des Organismus durchdrungen hat und so das kritische Denken völlig einseitig von jedem anderen weg, immer auf das Selbst umlenkte.

Drei markante Maximen sollen dies verdeutlichen:

  1. „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ (Matthäus 7,3) ==> Umlenkung jeglicher Kritik weg von dem anderen, ganz hin auf das Selbst
  2. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Matthäus 7,1) ==> Verächtlichmachung des Urteilens, das als Hybris gekennzeichnet wird, man denken hier beispielsweise nur an die überaus milde Rechtsprechung selbst gegenüber schlimmsten Gewaltverbrechern, aber auch die generelle Attitüde, nicht über andere urteilen zu wollen.
  3. „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“ (Matthäus 19,30) ==> völlig Umwertung der Werte: gewinnen ist schlecht, verlieren ist gut, oben ist negativ, unten ist per se positiv

Das Gewinnen und besser sein wird verächtlich gemacht

Diese Maximen fördern eine Einstellung, jegliche Kritik an anderen, insbesondere an anderen Kulturen als etwas Verächtliches, Übergriffiges erscheinen zu lassen. Kritik wird mithin nur in eine Richtung gelenkt, nämlich weg von dem anderen, hin zu sich selbst, während es bei anderen Kulturen bisweilen genau umgekehrt ist: Selbstkritik hat dort keinerlei Tradition, ja wird dort als Schwäche, als etwas Verächtliches und als Verrat an dem Eigenen angesehen, alles Fremde dafür umso heftiger kritisiert, bisweilen sogar herabgewürdigt.

Damit bekommen wir folgende Situation: Es treten quasi verschiedene Fußballmannschaften gegeneinander an und die Mannschaft, welchen die besten Spieler hat, lehnt es inzwischen ab, auf das gegnerische Tor zu schießen, weil sie das als unfair empfindet. Außerdem denkt sie, dass der Gewinner der Verlierer sein wird: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“. Dies ist eine typisch metaphysische Konstruktion einer Verlierer-Moral, die eigentlich den Sinn hatte, den Juden, die schwere Zeiten durchmachen mussten, Trost zu spenden, dass sie irgendwann dafür zum Ausgleich belohnt werden würden.

Auf lange Sicht führen solche Überzeugungen aber dazu, dass das Gewinnen nicht mehr als etwas Gutes, als Zeichen der eigenen Vortrefflichkeit, sondern als etwas Schlechtes empfunden wird, als eine Art Unrecht, für das man später büßen muss. Diese Prägung geht nun nach fast zweitausend Jahren bis ins Innerste der Seelen.

Eine historische Singularität

Während nun also die anderen Mannschaften nicht nur mit aller Macht und den Fähigkeiten, die sie eben haben, aufs Tor all ihrer Gegner schießen, sondern einige auch wenig Hemmungen haben, zusätzlich noch andere Mittel einzusetzen, die man gemeinhin als Regelverstoß oder Foul bezeichnet, sehen wir zugleich einige Mannschaften, die es vorziehen, gar nicht mehr aufs Tor der anderen zu schießen, wobei sie sich besonders edel vorkommen. Sie spielen gleichsam gegen das eigene Tor, da sie denken, der Balken wäre ausschließlich und immer in ihrem Auge, nicht in den Augen der anderen, richten respektive andere beurteilen und gewinnen wären a priori und immer etwas Schlechtes. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte.

Damit dürfte klar sein, wie dieses Spiel auf lange Sicht ausgehen, was von dieser Zivilisation, die sich blindwütig und immer noch blindwütiger gegen sich selbst wendet, übrig bleiben wird.

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