Von Jürgen Fritz, Sa. 05. Dez. 2020, Titelbild: Tennis TV-Screenshots
Novak Djokovic ist 2020 zum sechsten Mal am Jahresende die Nr. 1 der Welt, wird von der ATP sicherlich zum Spieler des Jahres gekürt, keine Frage. Damit ist er in dieser Rubrik nun zwar an Federer und Nadal vorbeigezogen, steht aber noch nicht auf einer Stufe mit Sampras. Weshalb nicht? Weil 2020 keine vollständige Saison war, sondern nur gut eine halbe.
Djokovic ist zwar Spieler des Jahres 2020, aber er steht in dieser Kategorie noch nicht auf einer Stufe mit Sampras
Die Association of Tennis Professionals (ATP) gibt Novak Djokovic nicht nur als die Nr. 1 ihres Worldranking zum Jahresende aus, sondern sie setzt ihn nun auf eine Stufe oder sogar über Pete Sampras, der in den Jahren 1993 bis 1998 durchgehend am Jahresende die Nr. 1 im ATP-Ranking war und sechsmal in Folge zum ATP-Player of the year gekrönt wurde.
Ich behaupte, dass das Eine völlig richtig ist, das Andere aber nicht ganz. Djokovic führt nicht nur das inzwischen leider nicht mehr 52 Wochen-Ranking der ATP an, sondern auch die wahre Weltrangliste 2020, welche nur die Ergebnisse dieser Saison wertet. Das stimmt alles und ist auch völlig korrekt so. Aber dass Djokovic in der Rubrik „Tennisspieler des Jahres“ nun schon auf einer Stufe stünde mit Sampras oder gar über ihm, das stimmt nicht. Weshalb nicht?
Die zwei Konkurrenten ATP und ITF
Um das Ganze besser zu verstehen, seien zunächst einige Hintergründe beleuchtet und erläutert. Die Weltrangliste wird seit 1973 von der ATP geführt, die 1972 gegründet wurde. Die ATP ist offiziell die Vereinigung der professionellen männlichen Tennisspieler. Die Gründung erfolgte, um Tennisturniere besser vermarkten zu können. Sehr stark bestimmend waren von Anfang an die Turnierdirektoren. Seit etwa 1988 haben die Spieler selbst mehr Einfluss zusammen mit den Turnierdirektoren, dies aber nicht alle Turniere repräsentieren. Insofern vertritt die ATP oft auch stark ihre eigenen Interessen und das heißt ihre eigenen Turniere.
Sie organisiert die B-, C- und D-Turniere (Masters 1000, 500er- und 250er Serie) sowie ihr wichtigstes Event, die ATP Finals (B+), früher Masters Cup genannt, nicht aber die viel älteren, traditionsreicheren und wichtigeren Grand Slam-Turniere (A). Diese werden von der ITF (International Tennis Federation) veranstaltet, die schon 1913, also fast sechs Jahrzehnte früher gegründet wurde. Die vier Grand Slam-Turniere sind so bedeutend, dass sie im Grunde weitgehend unabhängig sind von der ATP, was dieser wohl nicht so gut gefällt.
Die ITF organisiert außerdem, neben den Grand Slam-, auch kleinere als die D-Turniere (E- und F-Turniere: Challenge und Future-Tournaments) und sie kürt oftmals ihren eigenen „Player of the year“ und betrachtet dabei nur die Ergebnisse bei ihren Turnieren, während die ATP in ihrem Ranking zwar auch die ITF-Turniere berücksichtigt, aber ihre eigenen Turniere tendenziell etwas zu hoch gewichtet und die ITF-Turniere tendenziell zu niedrig, wobei sich das stark gebessert hat. Das heißt, jede der beiden Organisationen vertritt eigene Interessen und ist daher parteiisch. Das ATP-Ranking ist aber seit den 1990er Jahren zumindest deutlich besser geworden, war in den 1980ern und vor allem in den 1970ern aber extrem einseitig.
Die ATP selbst kürte Connors nur einmal zum Spieler des Jahres, obschon er fünfmal am Jahresende ihr Ranking anführte
Das Ganze sei an einigen wenigen Beispielen verdeutlicht. Dass Jimmy Connors, der oben im Bild auf eine Stufe mit Federer und Nadal gestellt wird, fünfmal Spieler des Jahres war und Björn Borg nur zweimal, wie es das ATP Ranking damals auswies, sieht kaum ein unabhängiger Fachmann so. Borg wird von den meisten Fachleuten drei- bis viermal als bester Spieler des Jahres angesehen, Connors nicht fünf-, sondern dreimal, nämlich 1974, 1976 und 1982.
Ja die ATP selbst kürte Björn Borg entgegen ihrer eigenen Weltrangliste (!), dem ATP-Ranking, sogar fünfmal zum Spieler des Jahres (1976 bis 1980), obschon er nur zweimal am Jahresende das Ranking anführte, sah ihn also am Jahresende als besten Spieler der Welt an, obschon ihr eigenes Ranking etwas anderes aussagte. 1977 war außer dem ATP-Ranking niemand der Ansicht, dass Connors der beste Spieler der Welt war. Alle waren sich einig, dass Björn Borg und Guillermo Vilas die beiden besten Tennisspieler des Jahres waren, doch die ATP-Weltrangliste behauptete etwas völlig anderes, sie sah Connors ganz vorne.
Nun wird es aber völlig verrückt, denn Jimmy Connors kürte die ATP nur einmal (1982) zum Spieler des Jahres, obwohl er von 1974 bis 1978 fünfmal am Jahresende ihr eigene Rangliste anführte. Dabei war Connors 1974 und 1976 wirklich überragend. 1974 vergab die ATP diesen Titel aber noch nicht. Hätte sie ihn da schon vergeben und Connors verliehen, so hätte die ATP Connors zweimal zum Spieler des Jahres gekürt, während ihre eigene Rangliste ihn fünfmal ganz oben sah. Dies ist aber nicht die einzige Absurdität, weitere sollten folgen.
1982 listet die ATP McEnore auf 1, kürt nun aber Connors zum ersten und einzigen Mal zum Spieler des Jahres
1982 stand am Jahresende John McEnroe auf Position 1 im ATP-Ranking. So wird er heute auch oft vorgestellt: als die Nr. 1 der Jahre 1981 bis 1984. McEnroe gewann 1982 aber kein einziges Grand Slam-Turnier, auch nicht das fünftwichtigste Event, die ATP Finals (die damals Masters Grand Prix hießen). Die gewann Ivan Lendl. Jimmy Connors siegte dagegen sowohl in Wimbledon, wo er McEnroe schlug, als auch bei den US Open, wo er sowohl Vilas als auch Lendl besiegte, der zuvor McEnroe aus dem Turnier geworfen hatte. Connors gewann also die zwei wichtigsten Turniere der Welt in diesem Jahr. Folglich kürte die ITF ihn zu ihrem „World Champion“. So weit, so gut. All das kann man noch nachvollziehen, aber jetzt kommt’s:
Die ATP, die McEnroe am Jahresende auf 1 listete, Connors auf 2 und Lendl auf 3, kürte nun nicht McEnroe zum „Player of the year“, sondern ebenfalls Connors – entgegen ihrem eigenen Ranking! Auch das wichtige Tennis Magazine (France) und einer der maßgeblichen Tennisjournalisten Bud Collins, sie alle listeten 1982 Connors auf 1, nicht McEnroe. Jimmy Connors war also nicht nur einmal Spieler des Jahres, wie die Auszeichnungen der ATP das vermuten ließen, aber auch nicht fünfmal, wie ihr eigenes Ranking das ausspuckte, sondern dreimal und steht damit sicherlich nicht auf einer Stufe mit Federer und Nadal.
Und noch etwas wird hier schon deutlich: Die Übersichten, die man oft sieht, wer wie viele Wochen das ATP-Ranking angeführt hat, sind mit ein wenig Vorsicht zu genießen, einfach weil die ATP-Weltrangliste nicht immer sehr genau war, vor allem in den ersten Jahrzehnten nicht. Wichtiger ist daher, wer jeweils der Spieler des Jahres war.
Spieler des Jahres 1989 war nach Auffassung der ITF, des Tennis Magazine (France) und von Bud Collins Boris Becker (es war das einzige Mal, dass Becker diese Ehre zuteil wurde). Das ATP-Ranking führte am Jahresende jedoch Ivan Lendl zum vierten Mal als die Nr. 1 der Welt. Und was machte nun die ATP? Wen kürte sie zum Player of the year? Auch sie entschied sich wieder entgegen ihrem eigenen Ranking ebenfalls für Becker, der sowohl Wimbledon als auch die US Open, also die zwei wichtigsten Turniere der Welt gewonnen hatte und auch den Davis Cup, wo er in sieben Matches ungeschlagen geblieben war und hierbei Agassi, Wilander and Edberg besiegte.
Die ATP gewichtet generell eigene Turniere tendenziell zu hoch, die Turniere anderer zu niedrig, manchmal sogar gar nicht
Kurzum, das System war vor allem in den 1970er Jahren, auch noch in den 1980ern teilweise deutlich zu ungenau, weil die Gewichtungen der Turniere nicht stimmten. Wie ist das zu erklären? Der wohl wichtigste Grund war – und ist es noch immer, wenngleich nicht mehr so drastisch wie früher -, dass die ATP vor allem die von der ITF organisierten Grand Slam-Turniere, wie auch den Davis Cup, der ebenfalls von der ITF ausgerichtet wird, und neuerdings auch die Olympischen Spiele zu niedrig, teilweise deutlich zu niedrig, manchmal sogar gar nicht wertet.
So vergibt sie immer wieder für Siege im Davis Cup und den Olympischen Spielen, Veranstaltungen, die nach den Grand Slam-Turnieren mit die höchste Bedeutung haben, gar keine Punkte. Für ihren eigenen Mannschaftswettbewerb, den 2019 neugeschaffenen ATP Cup, schüttet sie dagegen reichlich Punkte aus, obschon dieser sicherlich nicht die Bedeutung hat wie der traditionsreiche Davis Cup. Das Ganze hat also auch politische, genauer: Verbandsgründe. Wir haben es hier mir rivalisierenden Organisationen zu tun. Das Ganze ist nicht extrem, aber in manchen Punkten beeinflusst es aber Entscheidungen und das manchmal nicht im Sinne der Sachlichkeit und Fairness.
Das Ganze wurde ab 1990 besser, ist aber in abgeschwächter Form noch immer der Fall. Kein Spieler der Welt würde wohl einen Grand Slam-Titel (A) für zwei Masters 1000-Titel (B) hergeben. Umgekehrt würden wahrscheinlich viele auch drei B- für einen Major-Titel eintauschen. Die ATP wertet die Grand Slam-Turniere aber nur doppelt so stark wie ihre eigenen Masters 1000er und früher wertete sie die A-Turniere der ITF sogar noch schwächer. Dieses Grundsatzproblem ist nicht mehr so drastisch wie in den 1970er und 1980ern, aber es besteht noch immer.
Agassi 1996: „Die ATP verfälscht mit der Computer-Weltrangliste die Verhältnisse“
1996 sagte Andre Agassi: „Die ATP verfälscht mit der Computer-Weltrangliste die Verhältnisse. Es ist enttäuschend für mich, dass Muster Wimbledon auslassen kann und trotzdem Nummer eins wird. Ich will das nicht sehen. Muster gehört nicht in die gleiche Liga. Der Computer führt in die Irre.“ Agassi hatte natürlich völlig Recht, Muster war ein klasse Spieler, aber er gehörte nicht in die gleiche Liga wie Sampras und Agassi. Dass er im Ranking auf 1 kommen konnte, hing eben damit zusammen, dass die ATP teilweise nicht angemessen gewichtete.
Gleichwohl ist es gut, dass wir das computergestützte Ranking der ATP haben und dieses soll hier auch nicht schlecht geredet werden. Die ATP Weltrangliste ist grundsätzlich gut und richtig. Sie weist nur an einigen Stellen doch noch immer kleinere Ungenauigkeiten und Ungerechtigkeiten auf, die eben zum Teil verbandspolitisch begründet sind. Immerhin hatte man jetzt aber eine bessere Orientierung als vor 1973 und die Rangliste war wichtig für die Setzlisten bei den Turnieren, damit die zwei, drei, vier Besten nicht gleich in der ersten oder zweiten Runde aufeinander trafen. Vorher wurde zwar auch schon gesetzt, aber mehr so Pi mal Daumen.
Zverev zur aktuellen Corona-Sonderregelung im ATP-Ranking: „Das ganze System ist beschissen“
Seit den 1990er Jahren ist das ATP-Ranking, wie gesagt, wesentlich besser und aussagekräftiger geworden. Das Punktesystem wurde modifiziert und der wahren Bedeutung der Turniere eher angepasst, wenngleich die Grand Slam-Turniere der ITF noch immer zu schwach gewertet werden, siehe Agassis Kritik von 1996.
Derzeit aber ist das ATP-Ranking auf Grund der Corona-Sonderregelungen, die unfassbar kompliziert sind, so dass die ATP-Leute wohl selbst nicht mehr so ganz durchblicken, völlig wettbewerbsverzerrend, ja eine mittlere Katastrophe. „Das ganze System ist beschissen“, sagte Alexander Zverev dazu Ende November.
Dirk Hordoff: „Federer bastelt sich (über die ATP) sein eigenes Ranking zusammen“
Und der Vizepräsident des Deutschen Tennisverbandes Dirk Hordorff sagte diese Woche, dass vor allem Federer von der Corona-Sonderregelung und seiner Macht im ATP-Council profitiere respektive diese für sich selbst ausnutze, indem er Einfluss nimmt, wie die ATP ihr Ranking-System zu seinen Gunsten gestaltet. „Federer bastelt sich sein eigenes Ranking zusammen“, so Hordoff. Dies sei „verantwortungslos“ und „nicht korrekt“. Dass die ATP Finals zwei Jahre im Ranking drin bleiben, sei zudem „eine Roger-Federer-Entscheidung“.
Tatsächlich ist es so, dass die ATP mit all ihren Corona-Sonderregeln Federer aktuell auf Position 5 führt, obschon dieser die gesamte Saison nur ein Turnier spielte, nämlich die Australian Open im Januar, wo er bis ins Halbfinale kam. Dann unterzog er sich unabhängig von der Pandemie zwei Knie-OPs und konnte seither nicht mehr spielen. Ohne die Sonderregelung wäre Federer gar nicht mehr in den Top 50, meinte Hordoff. In der wahren Weltrangliste 2020 ist er auf jeden Fall deutlich von den Top 20 entfernt. Die Corona-Sonderregeln helfen ihm jedoch, dass ihn die ATP weiter auf 5 führt, wodurch er 2021 große Vorteile bei den Turnieren hat, da er weit oben gesetzt wird. Und Federer ist eben selbst im ATP-Counciel und dürfte da als der Superstar des weißen Sports über nicht wenig Einfluss verfügen.
Djokovic war 2011, 2012, 2014, 2015, 2018 und 2020 der beste Tennisspieler der Welt
Nun zurück zur Ausgangsfrage, ob Novak Djokovic wirklich schon auf einer Stufe steht mit Pete Sampras, was die Rubrik „Tennisspieler des Jahres“ anbelangt. In vielen anderen Punkten ist Djokovic ja bereits an Sampras vorbeigezogen, er hat – das wichtigste Kriterium von allen – mehr Grand Slam-Turniere (A) gewonnen, nämlich 17, Sampras 14. Djokovic hat wie Sampras fünfmal die ATP Finals (B+) gewonnen, stand aber öfters im Endspiel. Er hat viel mehr B-Turniere (Masters 1000) gewonnen, nämlich 36, Sampras nur 11. Nole hat also also mehr als dreimal so viele B-Titel wie Sampras. Insgesamt ist Djokovic in der ewigen Weltrangliste also sicherlich schon an Sampras vorbeigezogen. Es geht hier nur um die Frage, ob er den US-Amerikaner auch in dieser Rubrik, Tennisspieler des Jahres, bereits eingeholt hat. Und hier sage ich: Nein, das hat er nicht. Nicht ganz. Weshalb nicht?
Dass Djokovic 2011, 2012, 2014, 2015, 2018 und 2020 der beste Spieler der Welt war, ja der überragende Spieler der 2010er-Dekade, so wie Sampras der überragende Spieler der 1990er, daran kann kaum ernsthaft gezweifelt werden. Zwar gewann Djokovic dieses Jahr nur eines von drei Grand Slam-Turnieren, nämlich die Australian Open im Januar, aber er war, wenn man die gesamte Saison betrachtet, doch deutlich besser als jeder andere. Djokovic gewann zwei der drei Masters 1000-Events (B) und seine Punktevorsprung ist enorm.
Djokovic war auch in dieser Saison die Nr. 1
Schauen wir uns die wahre Weltrangliste 2020 an, die nur die Ergebnisse dieser Saison enthält, so können wir feststellen: Novak hat mit 6.855 Punkten einen riesigen Vorsprung vor Thiem (4.615 Punkte) und Nadal (4.050 Punkte). Selbst wenn Wimbledon hätte ausgetragen werden können und Djokovic dort in der ersten Runde ausgeschieden wäre, wenn zudem Thiem oder Nadal Wimbledon gewonnen hätte, wofür es eben nur 2.000 Punkte gibt (hier liegt der Fehler), so hätte das nicht gereicht, um Djokovic einzuholen.
Auch hier zeigt sich wieder die systematische Verzerrung des ATP-Rankings. Hätte Thiem, rein hypothetisch, auch noch Wimbledon gewonnen, dann hätte er bei drei der vier Grand Slam-Turniere das Endspiel erreicht, und zwei gewonnen, trotzdem wäre Djokovic die Nr. 1 gewesen laut ATP, selbst wenn er in Wimbledon in Runde 1 verloren hätte und bei den US Open mit 0 Punkten disqualifiziert wurde. Das zeigt, dass die Grand Slam-Turniere noch immer unterbewertet werden vom ATP-Ranking.
Also halten wir fest: Djokovic war de facto eindeutig der beste Spieler dieser Saison, wie auch schon in den Jahren 2011, 2012, 2014, 2015 und 2018. „Ja dann war er aber doch sechsmal Spieler des Jahres, genau wie Sampras“, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Und damit sind wir beim Kackpunkt: „des Jahres“. „Djokovic war de facto eindeutig der beste Spieler dieser Saison“, schrieb ich zu Beginn dieses Absatzes. Und hier stellt sich die Frage: Was für eine Saison war das denn 2020? War die so wie all die Jahre zuvor? War die so wie die Saisons 1993 bis 1998, als Sampras jeweils der beste war?
2020 war aber keine vollständige Saison, sondern letztlich nur gut eine halbe
Die mit großem Abstand wichtigsten Turniere sind die Grand Slam-Events (A). Erstmals seit 1945 konnten diese aber nicht alle ausgetragen werden, sondern nur drei von vier (75 Prozent). Wimbledon, das wohl noch immer wichtigste Tennisturnier überhaupt, musste wegen der COVID-19-Pandemie abgesagt werden. Ebenso mussten die Olympischen Spiele auf 2021 verschoben werden. Aber lassen wir das mal außen vor, weil Olympia ja sowieso nur jedes vierte Jahr gespielt wird und nur verschoben, nicht abgesagt ist. Völlig abgesagt wurde aber auch der Davis Cup, der wichtigste und traditionsreichste Mannschaftswettbewerb im Herrentennis. Die ATP Finals (B+), das fünftwichtigste Einzelturnier in regulären Jahren, konnte dagegen gespielt werden, ebenso drei der neun (33 Prozent) Masters 1000 Turniere (B) und sieben statt normalerweise 13 der C-Turniere (500er Serie), das entspricht knapp 54 Prozent.
Das heißt, es musste ein Grand Slam-Turnier, der Davis Cup, sechs von neun Masters 1000, sechs von 13 C-Turnieren (500er Serie) sowie über 20 von insgesamt knapp 40 D-Turnieren (250er) abgesagt werden. Nehmen wir nur die wichtigsten Einzelturniere ab der Masters 1000 Kategorie (B) und zählen alle Punkte, die ein Spieler diese Saison maximal erspielen konnte zusammen und vergleichen dies mit regulären Jahren, kommen wir zu folgendem Ergebnis:
- 2020: 3 x 200 (Grand Slam) + 150 (ATP Finals) + 300 (Masters 1000) = 1.050
- reguläre Saison: 4 x 200 + 150 + 900 = 1.850
Dieses Jahr waren also aus der Kategorie A- und B-Turniere maximal 1.050 Weltranglistenpunkte erreichbar, nicht wie sonst 1.850. Dies entspricht knapp 57 Prozent.
Bei den C-Turnieren fanden nicht 13, sondern nur sieben statt, also nur knapp 54 Prozent. Bei den D-Turnieren waren es sogar noch weniger: 18 statt normalerweise 38 (47 Prozent) und der Davis Cup fiel völlig aus. Selbst wenn wir die D-Turniere und den Davis Cup mal völlig außen vor lassen, so müssen wir sagen:
Die Saison 2020 ist nur 0,5, maximal 0,6 Punkte wert und nicht einen vollen Punkt
Insgesamt war das also maximal eine 57 Prozent-Saison, eher noch ein bisschen weniger. Sind wir großzügig und runden auf, dann können wir sagen: Es war eine knapp 60 Prozent-Saison, mehr aber auf keinen Fall. Immerhin! Das ist ja schon nicht wenig angesichts der Pandemie, die derzeit über den Globus fegt. Aber es ist eben keine vollständige Saison, auch nicht eine fast vollständige, sondern letztlich nur eine halbe oder eine bisschen mehr als eine halbe.
Und deshalb kann für eine halbe oder, wenn wir nach oben runden, eine 60 Prozent-Saison kein voller Punkte gegeben werden, sondern eben nur 0,5 oder wenn wir großzügig sind, 0,6 Punkte. Stellen Sie sich einfach vor, der Spielbetrieb hätte im August nicht wieder aufgenommen werden und nach dem 28. Februar hätte kein Turnier mehr gespielt werden können. Oder stellen Sie sich vor, die Saison hätte schon Ende Januar abgebrochen werden müssen. Dann kann man nicht sagen, wer Ende Januar oder Ende Februar 2020 in der Rangliste die Nr. 1 ist, ist der Spieler des Jahres 2020 und zählt dies voll. Die Rangliste Ende Februar 2020 zeigt ja, wie stark die Spieler von März 2019 bis Februar 2020 waren, bildet also vor allem die Ergebnisse 2019 ab. Und wer 2019 der Beste war, bekam ja Ende 2019 bereits seinen Punkt hierfür. Man kann in 2020 nicht die Ergebnisse von 2019 nochmal krönen, für die man Ende 2019 schon einen Preis verlieh. Für 2020 zählen nur die Ergebnisse 2020 und die fielen fast zur Hälfte weg. Ergo war das nur eine halbe Saison und dafür kann man fairerweise auch nur einen halben Punkt oder maximal 0,6 Punkte vergeben. Aber immerhin, es hätte ja auch viel schlimmer kommen und die Saison hätte zu 80 oder 90 Prozent ausfallen können.
Tennisspieler des Jahres ab 1973 (Einführung des ATP-Rankings)
Das heißt, Djokovic zieht bei der Punktzahl auf jeden Fall an Federer und Nadal vorbei – Connors ist eh nur bei 3, nicht bei 5, wie oben erläutert -, aber der Djoker steht in dieser Rubrik „Player of the year“ noch nicht ganz auf einer Stufe mit Sampras, der wirklich sechs vollständige Saisons am Jahresende die Nr. 1 war. Dafür kann Djokovic natürlich nichts, dass 25 Wochen ausfielen, und er wäre wahrscheinlich auch die Nr. 1, wenn durchgespielt hätte werden können, da er sich dieses Jahr, zumindest bis zu den US Open, in überragender Form zeigte. Aber erstens wissen wir das nicht ganz sicher – er hätte sich zum Beispiel im Frühjahr oder Sommer verletzen können oder seine Formkurve hätte abreißen können – und zweitens ist das einfach persönliches Pech. Wir müssen aber letztlich immer nur die Fakten zählen. Und Fakt ist, dies war keine vollständige, sondern nur eine halbe oder eine 60 Prozent-Saison. Immerhin!
Djokovic ist damit im ewigen Ranking der Nomber 1-Player of the year seit 1973 nunmehr alleine auf Platz 2, aber nicht zusammen mit Sampras auf 1.
- Pete Sampras: 6
- Novak Djokovic: 5,6
- Roger Federer: 5
- Rafael Nadal: 5
- Björn Borg: 3,5
- Ivan Lendl: 3
- John McEnroe: 3
- Jimmy Connors: 3
Tennisspieler des Jahres seit 1877
Und wenn wir die Zeit von 1877 bis 1973 mit berücksichtigen, dann sieht es wie folgt aus. Dabei wurde in den Jahren, wenn zwei Spieler zusammen als beste Spieler des Jahres angesehen wurden, jedem von beiden ein halber Punkt zugerechnet, und wenn es drei Spieler waren, dann jedem 0,33 Punkte.
Vor 1973 gab es ja kein exaktes Punktesystem, so dass die Messung in manchen Jahren nicht eindeutig war, meist aber schon. Außerdem durften bis 1968 Amateure nicht mit Profis zusammen bei Turnieren antreten und die besseren Profi-Spieler waren bei den Grand Slam und allen anderen Turnieren, die ausschließlich für die spielschwächeren Amateure zugelassen waren, nicht spielberechtigt, was den Vergleich natürlich enorm erschwerte. Gleichwohl war es in den meisten Jahren zumindest doch recht klar, wer jeweils der beste Tennisspieler der Welt war. Hier die in dieser Rubrik erfolgreichsten Spieler aller Zeiten (wenn zwei Spieler auf gleich viele Punkte kommen, dann wird der höher gewertet, der öfter am Jahresende die Nr. 2 war, wenn auch das gleich ist, dann wer öfters die Nr. 3 war):
- Pancho Gonzales (1952-1960): 6,5
- Bill Tilden (1920-1931): 6,5
- William Renshaw (1881-1889): 6,5
- Rod Laver (1964-1970): 6
- Pete Sampras (1993-1998): 6
- Novak Djokovic (2011-2020): 5,6
- Roger Federer (2003-2009): 5
- Rafael Nadal (2008-2019): 5
- Ken Rosewall (1960-1970): 4,5
- Don Budge (1937-1942): 4,33
William Renshaw gewann von 1881 bis 1886 sechsmal in Folge die Wimbledon Championships und dann nochmals 1889. In den 1880er Jahren genügte es meist, wenn man Wimbledon (ausgetragen seit 1877) gewann, um Spieler des Jahres zu sein. Denn andere größere Turniere gab es damals noch kaum, abgesehen von den US Open (ausgetragen seit 1881, zunächst aber nur als U.S. National Championships). Ab 1891 kam dann das Tournoi de Roland Garros, die internationalen Tennis-Meisterschaften Frankreich hinzu.
Und William Renshaw musste als Titelverteidiger meist nur ein einziges Match bestreiten, stand als noch amtierender Champion sofort im Endspiel des Folgejahres. Ihm genügte also teilweise ein einziges Match, um Spieler des Jahres zu werden, nämlich das Wimbledonfinale, in dem er automatisch schon stand, während alle anderen sich da erstmals reinkämpfen mussten. Insofern ist das nicht ganz mit Verhältnissen ab der 1920er Jahre und dann vor allem ab Beginn der Open Era 1968 vergleichbar, seit Profis bei den großen Turnieren spielberechtig sind und man mindestens ein halbes bis ein dreiviertel Hundert Matches bei offiziellen, insbesondere den großen Profi-Turnieren gewinnen muss, um am Jahresende die Nr. 1 zu sein.
Don Budge wurde 1937 zusammen mit Fred Perry und Ellsworth Vines auf Position 1 gerankt, so dass jeder 0,33 Punkte erhält. 1938, 1939, 1940 und 1942 war Don Budge dann jeweils die alleinige Nr. 1 am Jahresende. Er hatte das große Pech, dass dann 1943 und 1944 auf Grund des Zweiten Weltkriegs, da in dieser Zeit kaum noch gespielt wurde, kein Ranking erstellt werden konnte. 1945 bis 1947 war er dann nur noch die Nr. 2 der Welt.
*
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR