Von Jürgen Fritz, Mo. 31. Mai 2021, Titelbild: Roland Garros-Screenshot
Die ATP führt in ihrem Ranking zwei Spieler unter den ersten acht, die schon seit Monaten mit der Weltspitze nicht mehr mithalten können, ferner einen, der auf Sand von den Top-Fünf meilenweit entfernt ist. Gleichwohl wird er in Roland Garros beim bedeutendsten Clay-Turnier der Welt, an 2 gesetzt, die beiden anderen an 4 und 8. Andere werden dagegen durchgehend massiv benachteiligt, dadurch aber das gesamte Turniergeschehen verzerrt.
Spieler wie Thiem, Federer, Goffin, Monfils und andere werden klar privilegiert
Dominic Thiem hat dieses Jahr kein einziges gutes Turnier gespielt, hat inzwischen in 2021 eine Match-Bilanz von 9-8. Im 2021 ATP Race war er schon vor den French Open nur auf Position 18 und wird nun wohl noch etliche Plätze weiter zurückfallen. Gleichwohl wurde er bei den French Open in Anlehnung an das ATP Ranking an 4 gesetzt – regulär wäre er nur noch die Nr. 7 – und flog gestern gleich in der ersten Runde (R128) raus. Medvedev und der bald 40-jährige Federer könnten ihm bald schon folgen. Für sie wird es ebenfalls nicht leicht, auch nur die erste Woche zu überstehen. Vielleicht werden sie in Paris plötzlich ihre Form finden. Das wird man sehen müssen. Aber ich bezweifle, ob einer der beiden die zweite Woche oder gar das Viertelfinale oder Halbfinale erreichen wird.
Daniil Medvedev hat auch dieses Jahr größte Mühe, überhaupt auch nur ein einziges Match auf Sand zu gewinnen. Gleichwohl wird er, eben weil die ATP ihn an Position 2 führt, auch in Roland Garros an 2 gesetzt. Und Roger Federer, den ich zutiefst verehre und über alles wertschätze als Spieler und als Person, hat aber in den letzten 52 Wochen gerade mal ein einziges Match gewonnen (auf Clay gar keines). Gleichwohl wird er – eben weil die ATP ihn noch immer an Position 8 führt – auch bei den French Open an 8 gesetzt.
Das Ganze setzt sich nach hinten fort. Der 30-jährige David Goffin, der im JFB 52 Week Ranking nur noch an 30 steht, wird an 13 gesetzt. Der 35-jährige Gael Monfils, der in den letzten 52 Wochen eine Matchbilanz von 1-9 hat, der also innerhalb von einem Jahr nur ein einziges Match gewann, wird an 14 gesetzt, während andere, die weit hinter ihm gesetzt werden oder sogar gar nicht, 20, 30, 40, ja bis zu 50 (!) Matches gewonnen haben in den letzten 52 Wochen.
Aufstrebende Spieler werden massiv benachteiligt und dadurch das ganze Turniergeschehen verzerrt
Generell werden junge und aufstrebende Spieler, die seit vielen Monaten sehr gute Leistungen abliefern, wie der 19-jährige Jannik Sinner (im JFB 52 Wochen-Ranking schon lange auf 10, bei der ATP nur auf 19), wie Aslan Karatsev (50 gewonnene Matches in den letzten 52 Wochen!, im JFB Ranking auf 9, bei der ATP auf 26) oder der 20-jährige Sebastian Korda (JFB: 25, ATP: 50), der in den letzten zwölf Monaten zwei Challenger und am Samstag ein ATP-Turnier gewonnen hat (!), oder auch der 19-jährige Lorenzo Musetti (JFB: 33, ATP: 76) massiv benachteiligt.
Sebastian Korda trifft zum Beispiel bei fast jedem Turnier gleich in Runde eins oder zwei auf einen Spitzenspieler. Jetzt in Roland Garros schon wieder. Wenn der frisch gebackene Turniersieger von Parma die erste Runde in Paris übersteht, trifft er in Runde zwei (R64) gleich auf Tsitsipas (5). Den jungen oder aufstrebenden, sehr guten Spielern wird es also extrem schwer gemacht, nach oben zu kommen. Bei anderen Setzlisten wären zum Beispiel Korda oder Lorenzo Musetti höchstwahrscheinlich sogar noch weiter vorne als 25 und 33. Die ATP führt sie aber so weit hinten (auf 50 und 76), dass sie teilweise nicht mal direkt zu Turnieren zugelassen werden und erst noch ein Qualifikationsturnier bestreiten müssen, bevor sie überhaupt ins Hauptfeld kommen.
Nicht ganz so drastisch, aber doch ähnlich ergeht es dem 19-jährigen Jannik Sinner, der meist schon ganz früh auf Nadal trifft. Auch der Aufsteiger des Jahres Aslan Karatsev wäre zu nennen, der viel zu früh auf Spitzenspieler trifft. In Roland Garros sind mit Nadal, Sinner, Karatsev und Rublev gleich vier Spieler aus den Top-Ten der JFB 52 Wochen-Weltrangliste plus Vorjahres-Halbfinalist Schwartzman (11) alle im zweiten Viertel. Der diesen Monat 18 Jahre alt gewordene Carlos Alcaraz hat in den letzten zehn Monaten sogar vier (!) Challenger-Turniere gewonnen, steht im JFB 52 Week Ranking bereits auf 38. Die ATP führt ihn aber nur auf 97 und schickt ihn regelmäßig erstmal in die Qualifikation.
Das heißt, der ganze Wettbewerb wird durch das verzerrte ATP Ranking ebenfalls verzerrt, da zudem auch die Setzlisten sich an diesem Ranking orientieren.
Generell spiegeln die Ranglisten primär die Spielstärke auf Hartplatz wider, daher sollten Rasen- und Sandturniere in ihren Setzlisten ein wenig davon abweichen
Die beste Tennis-Weltrangliste, die es derzeit gibt, ist das JFB 52 Week Tennis World Ranking, das ich aber nur bis Position 30 führen kann. Schon bis dahin ist das enorm zeit- und arbeitsaufwendig. Bis 50, 100, 200 oder noch weiter, kann ich das unmöglich führen und jede Woche akkurat updaten. Es gibt aber einen sehr guten Überblick über die wahren Verhältnisse zumindest der Top 30 in den letzten 52 Wochen.
Die ATP, die für die Setzlisten maßgebend ist, sollte dringendst (!) ihre Rankingsystem überarbeiten. Dabei wäre auf Seiten der Turnierveranstalter auch zu überlegen, ob bei Rasen- und Sandturnieren in den Setzlisten nicht wie lange Zeit in Wimbledon vom normalen 52 Wochen-Ranking zumindest ein wenig abgewichen wird, dergestalt die Ergebnisse der letzten 52 Wochen, je nachdem ob auf Rasen oder Sand gespielt wird, auf diesem speziellen Untergrund doppelt gewertet werden und die Ergebnisse der letzten 53 bis 104 Wochen auf dem jeweiligen Belag zusätzlich mit dem Faktor 0,5 dazu genommen werden.
Denn die Ranglisten spiegeln primär die Spielstärke auf Hartcourt wieder. 66 Prozent aller größeren Turniere werden auf diesem Untergrund gespielt:
- zwei der vier Grand Slam-Turniere,
- vier von fünf Olympischen Spielen (einmal auf Rasen),
- die ATP Finals immer,
- inzwischen auch alle Spiele der Davis Cup-Endrunde,
- sechs der neun Masters 1000 (drei auf Sand, null auf Rasen),
- der ATP Cup und
- acht der 13 ATP 500er (drei auf Sand, zwei auf Rasen).
Nicht mal 24 Prozent der größeren Turniere (dieses Jahr noch weniger, da Rio ausfiel) werden auf Clay und nur gut 10 Prozent auf Rasen gespielt. Dass Medvedev, der sicherlich einer der besten Hartplatzspieler der Welt ist, der aber größte Mühe hat, auf Sand zu reüssieren, auf diesem Untergrund immer an 2 oder, wenn Djokovic fehlt, sogar an 1 gesetzt wird, ist absurd.
Warum gibt es noch immer kein Masters-Turnier auf Rasen?
Weiter stellt sich die Frage, warum es noch immer kein einziges C-Turnier (Master 1000) auf Rasen gibt und so wenige ATP 500er (D) auf Sand. Warum wurde zum Beispiel London-Queen’s Club oder Halle nicht längst von D (ATP 500) auf C (ATP 1000) hochgestuft? Das hätte man lange schon tun können. Diese zwei großartigen Rasenturniere wurden sogar lange Zeit nur als E-Events (ATP 250) geführt. Das heißt Rasen ist im Ranking unterbewertet, Clay ebenfalls. Eine Weltrangliste soll ja die Spielstärke insgesamt zum Ausdruck bringen und nicht nur die auf Hartplatz respektive diese zu 2/3 gewichten, Sand und Rasen zusammen aber nur zu 1/3. Roger Federer hätte übrigens wohl deutlich mehr als 28 Masters 1000-Titel, wenn es wenigstens eines oder zwei auf Rasen gäbe.
Zwei der vier Grand Slam-Turiere (A) auf Hartplatz plus meist auch Olympia (B) plus die ATP Finals (B) plus inzwischen auch die Davis Cup-Endrunde plus sechs der neun Masters 1000-Turniere (C) plus der ATP Cup plus acht der 13 ATP 500er (D) ist einfach enorm viel. Man könnte zum Beispiel auch überlegen, die ATP Finals jedes Jahr abwechselnd auf Hartplatz, Sand und Rasen zu spielen (dann hätte Nadal dort sicher keine Null stehen). Außerdem könnte man wenigstens eines der neun Masters-Turniere auf Rasen spielen und wenigstens ein bis zwei weitere ATP 500er auf Sand (vier bis fünf statt nur drei).
Es muss möglichst schnell wieder auf das 52 Wochen-System umgestellt werden
Vor allem aber muss, nachdem inzwischen seit der Pandemiepause seit mehr als neun, bald zehn Monaten wieder gespielt wird , möglichst schnell wieder auf ein 52 Wochen-System umgestellt werden und es müssen die neuen Resultate der letzten zwölf Monate zählen und nicht uralte Ergebnisse von vor zwei oder gar drei Jahren. Die ATP will Ergebnisse teilweise von 2019 bis 2022, 36 Monate lang stehen lassen!
Das ist auch der Grund, warum Djokovic mehrere Masters 1000-Turniere absagte, vor allem wenn er Titelverteidiger war (Paris-Bercy, Madrid). Er wusste ja, dass die alten Ergebnisse ohnehin stehen bleiben. Wozu sollte er sich dann überhaupt anstrengen, wenn er selbst im Falle eines erneuten Turniersieges dafür nicht ein einzigen Punkt mehr bekommen hätte?
Prinzipielle, strukturelle Fehler im ATP Ranking
Von dem prinzipiellen strukturellen Fehler, den wir seit fast 50 Jahren sehen, seit es das ohne Zweifel sehr wichtige und verdienstvolle, ja unentbehrliche ATP Ranking gibt, noch gar nicht gesprochen, dass die ATP jene Turniere, die nicht von ihr, sondern von der konkurrierenden, viel älteren ITF mitorganisiert werden, entweder zu niedrig gewichtet – so die vier Grand Slam-Turniere – oder sogar überhaut nicht – so Olympia und den Davis Cup, den ältesten und traditionsreichsten Mannschaftswettbewerb der Welt (seit 1900), während sie den eigenen neu geschaffenen Mannschaftswettbewerb ATP Cup, der keinerlei Tradition vorweisen kann, sehr wohl bewertet und in ihr Ranking einfließen lässt. Das geht so nicht!
Diese strukturellen Fehler waren früher noch viel schlimmer. Die Grand Slam-Turniere der ITF wurden von der ATP vor einigen Jahrzehnten teilweise kaum höher gewichtet als die eigenen höchstrangigen ATP-Turniere. Davis Cup-Resultate wurden manchmal gewertet, manchmal nicht. Ebenso die Ergebnisse bei den hoch angesehenen Olympischen Spielen. Mehrfach war dies in vergangenen Jahrzehnten so eklatant verzerrend, dass die ATP selbst am Jahresende einen Spieler des Jahres kürte, der gar nicht die Nr. 1 in ihrem eigenen Ranking war (1975, 1976, 1977, 1978, 1982, 1989), weil sie wusste, dass ihr Ranking nicht die wahren Verhältnisse widerspiegelte. Das ist in den letzten 30 Jahren besser geworden. Die Verzerrungen sind nicht mehr so stark wie in den 1970er und 1980er Jahren, aber sie sind immer noch da und sollten weiter abgebaut werden.
Es geht um mehr als die ATP, es geht um den Tennissport und um Fairness
Im JFB Ranking sind all diese Fehler behoben, aber dieses kann ich eben maximal bis Position 30 führen. Schon das ist enorm zeit und arbeitsaufwendig. Kein System ist natürlich perfekt und durch die Pandemiepause ist es total schwierig, im Grunde unmöglich geworden, eine hundertprozentig gerechte Rangliste zu führen. Die ATP hat sich sicherlich bemüht, aber inzwischen wird seit bald zehn Monaten wieder gespielt und es sollte daher schnellstmöglich auf das 52 Wochen-System umgestellt werden, außerdem die seit fast 50 Jahren bestehenden strukturellen Fehler behoben werden.
Die ATP ist hier gefragt, ein faires und gerechtes System zu entwickeln und dabei ihre eigenen Verbandsinteressen zu transzendieren. Es geht um mehr als die ATP, es geht um den Tennissport und um Fairness.
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