Von Thomas Schmid, Fr. 18. Jun 2021, Titelbild: extra 3-Screenshot
Die Grünen wollen die nächste Kanzlerin stellen. Sie sind auf sich selbst und die Ahnungslose, in einer atavistischen, linken Vorstellungswelt Befangene hereingefallen. In ihrer Hybris meidet die Generation NGO das Stoppelfeld realer Politik. Stattdessen frönt die Wohlfühlpartei in regelverliebtem Staatsaktivismus und unerbittlichem Gouvernantenton einem grünen Klientel-Opportunismus, wie Thomas Schmid verdeutlicht.
Die Grünen sind auf sich selbst hereingefallen
Die Grünen wollen die nächste Bundeskanzlerin stellen. Daraus wird wohl nichts werden. Das liegt auch an der grünen Kanzlerkandidatin. Sie ist mit den Angaben zur ihrer Ausbildung und zu ihren Nebeneinkünften ungeschickt und nicht eben offen umgegangen. Das hat schon jetzt dem schönen Bild von der Politikerin ein paar Kratzer zugefügt, der bisher alles zu Gold zu werden schien, was sie anfasste. Da wir nicht im Märchen leben, konnte es dabei nicht bleiben. Annalena Baerbocks Wiedereintauchen in die Erdumlaufbahn könnte indes sogar nützlich und heilsam sein. Es könnte die Phase des show business beenden und die der Politik eröffnen. Und doch: Dass der grüne Wahlkampfstart fast zu einem Fehlstart wurde, hat tiefere Gründe.
Die Grünen haben sich von dem Bild, das sie in zäher Feinarbeit von sich entworfen haben und das ihnen eine gewogene Umwelt verlässlich zurückspiegelt, blenden lassen. Sie sind gewissermaßen auf sich selbst hereingefallen. Zwar befindet sich die deutsche Parteienlandschaft in einem Umbruchprozess bisher nicht gekannten Ausmaßes. Große werden klein, Kleine können groß werden. Die Grünen haben darauf mit leichtem Größenwahn reagiert. Es war ein schwerer Fehler, dass sie sich für eine Kanzlerkandidatur entschieden. Denn die ist immer noch mindestens eine Nummer zu groß für sie. Man müsse nur Mut haben für große, für ganz große Sprünge: Dieses Mantra der Spitzenkandidatin wird nicht weit tragen.
Die Ahnungslose, in einer atavistischen, linken Vorstellungswelt Befangene
Um für eine kühne Klimapolitik zu werben, bemühte Annalena Baerbock am 7. Mai dieses Jahres in einer Bundestagsrede die Geschichte der Republik. Unser Wohlstand, sagte sie, beruhe darauf, dass die Gesellschaft in Zeiten des Umbruchs durch gemeinsames politisches Handeln einen großen Schritt vorangekommen sei:
„1945 nach dem Krieg: gemeinsam gehandelt. In den 60-er Jahren die Sozialdemokraten: soziale Marktwirtschaft auf den Weg gebracht.“
Das ist wirklich arg. Die Bundesrepublik wurde wohlständig und politisch stabil, weil es eine die Grundrisse ziehende starke CDU und eine korrigierende starke SPD gab. Es war aber die CDU, die – gegen den Widerstand der Sozialdemokraten – die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards durchgesetzt hat, und es war die SPD, die sie später weiter sozial ausgestaltete.
Wer das nicht weiß und offensichtlich glaubt, vor den 60-er Jahren habe in der Bundesrepublik der Manchester-Kapitalismus geherrscht, hat diese Republik nicht verstanden. Und ist irgendwie doch noch in einer atavistischen linken Vorstellungswelt befangen, in der die CDU immer noch für Reaktion steht und das Böse wie das Gute ordentlich auf der Rechts-Links-Skala angeordnet sind. Eine Haltung, die sich von der Entstehungsphase der Grünen bis in die Gegenwart herübergerettet hat.
Die Grünen haben sich ihre Hybris bis heute bewahrt
Die Überzeugung, die CDU sei die beste aller nur denkbaren Parteien, ist bei christlichen Demokraten im Laufe der Jahrzehnte einem zwar immer noch starken, aber deutlich bescheidenerem Selbstbild gewichen. Der SPD ist es, trotz ihres noch immer wirksamen Gründungsmythos’, ähnlich ergangen. Nicht so die Grünen: Sie haben sich ihre Hybris bis heute bewahrt.
In den 80-er Jahren war der Totalumbau der Gesellschaft ihr Programm. Davon zehren sie, auch wenn das nicht mehr so leicht zu erkennen ist, noch heute. In vielen Fachpolitiken sind sie inzwischen versiert, wenn auch die Fachpolitiker selten in die erste Reihe vordringen. Zugleich aber bleibt das davon abgespaltene grüne Sendungsbewusstsein immer noch ungebrochen. Und zwar verbunden mit dem zur Schau gestellten Gefühl moralischer Überlegenheit, über das sich Wolfgang Kubicki einmal verwundert und amüsiert zeigte. Nach dem Scheitern der Sondierungsverhandlungen im Jahre 2017 sagte er mit Blick auf Katrin Göring-Eckardt, er habe den Eindruck, diese halte jemanden, der anderer Meinung ist als sie, für einen schlechten Menschen.
Die Generation NGO meidet das Stoppelfeld realer Politik
Fridays for Future (FFF) hat eine ebenso klare wie irreale Linie: Man müsse nur der Wissenschaft folgen und klimapolitische Zielvorstellungen 1:1 in die Wirklichkeit umsetzen. Der politische Prozess, der immer auch Widerstände einbinden muss, kommt darin nicht vor. Dass es so einfach nicht sein wird, wissen die Grünen natürlich. Aber sie reden zu wenig davon. Sie begeben sich nicht in die Materie, in die Einzelheiten. Sie meiden das Stoppelfeld realer Politik. Und reden FFF nach dem Munde, statt die Klima-Aktivisten energisch in ein Gespräch zu ziehen, das nur sehr kontrovers werden kann.
In den jungen FFF-Aktivisten erkennen sie sich gerührt selbst wieder. Nicht zu Unrecht. Denn viele, die heute in der grünen Partei nach dem freiwilligen oder weniger freiwilligen Rückzug der Altvorderen Führungs- und wichtige Parlamentspositionen innehaben, verbindet etwas mit FFF-Milieu. Sie gehören beide der Generation NGO an. Sie verkörpern, glauben sie, die eigentliche Gesellschaft, die Zivilgesellschaft: die bessere Macht von unten. Das ist von Manichäismus nicht frei. Die Ziele sind allesamt hehr, nicht befleckt vom Schmutz des Lebens „normaler“ Menschen: Frieden, gesunde Umwelt, Gendergerechtigkeit, sanfte Energie, Fahrradwege, keine Armut, keine Gewalt, Solidarität usw.
Der grüne Klientel-Opportunismus
Der FFF-Fehler besteht darin, zu glauben, dies alles zu fordern, sei unmittelbar und sogleich auch schon Politik. Und die Grünen trauen sich nicht, dem entschieden zu widersprechen. In dem Sinne sind sie eine Klientelpartei wie andere Parteien auch – samt dem dazugehörenden Klientel-Opportunismus. Kein Zufall, dass die grüne Kanzlerkandidatin im luftigen Fach glänzt, beim politischen Kleingedruckten aber immer wieder stolpert. Trotz ihres stählernen Machtwillens ist sie mehr Illusionistin als Politikerin. Ihr Ko-Vorsitzender nicht minder.
Die Wirklichkeit besteht aber nicht nur aus NGOs. Sondern auch und noch viel mehr aus Fabriken, Büros, Autos, Flugzeugen, Autobahnen, Amazon, Clankriminalität, nationalen Egoismen, Krieg, Zerstörung, Unglück. Die Grünen würden an Glaubwürdigkeit sehr gewinnen, wenn sie versuchten, auch an diese Themen, Problemen und Hindernissen öffentlich wahrnehmbar anzudocken. Sie kommen (noch) so gut an, weil ihre großen Themen – Umwelt, Klima, „Diversität“ – längst ins Selbstverständnis breiter Bevölkerungskreise Eingang gefunden haben. (Fast) alle finden gut, was die Partei will.
Eine Wohlfühlpartei mit unerbittlichem Gouvernantenton und regelverliebtem Staatsaktivismus
Auch daher kommen ihre guten Umfragewerte. Die Grünen sind eine Wohlfühlpartei – was durch den Bullerbü-Optimismus des Führungsduos zusätzlich befördert wird. Und eine Partei, die beharrlich so tut, als sei sie exklusiv im Besitz des Steins der Weisen und hätte auf alles eine zwingende Antwort. Und die ihre einstige Abneigung gegenüber dem Staat längst in einen regelverliebten Staatsaktivismus überführt hat. Die Partei neigt zudem im Umgang mit Zweifelnden zu einem so unangenehmen wie unerbittlichen Gouvernantenton.
Die Zustimmung, die sie bis vor einigen Wochen erfuhr, war freilich keine harte Währung. Am Wahltag zählt nicht nur das hohe und moralisch einwandfreie Ziel, es zählt dann auch der berühmte Geldbeutel. Vor allem: Es zählt nicht nur das Was, sondern auch das Wie. Und ebenso die Tatsache, dass Armin Laschet, sicher nicht der Originellste, immerhin eine Partei hinter sich hat, die genau jene große bundesdeutsche Kontinuität verkörpert, die die Grünen gerne im Handstreich radikalreformerisch beerben wollen.
Ob die Grünen die undogmatische Diskursfähigkeit aufbringen werden, die sakralisierte Ächtung der Atomenergie selbstkritisch zu hinterfragen?
Atomkraft – nein danke, auf gar keinen Fall: Dieser Glaube war und ist ein Konstituens der Grünen, er hat für sie etwas Religiöses. Und ist genauso wenig hinterfragbar wie bei der CDU das C und bei der SPD das S. Dieses „Nein danke“ war einmal radikal. Heute ist es das nicht mehr, im Gegenteil. Radikal im guten Sinne wäre es, wenn die Grünen den Mut aufbrächten, diesen ihren Gründungsmythos einer (selbst-)kritischen Reflexion zu unterziehen. War in der von Unbedingtheit geprägten Anti-Atom-Bewegung Wissen die Triebkraft – oder auch Angst, german angst, gar Angstmache?
Angesichts der im deutschen Alleingang vergeigten Energiewende wäre es ja dringend nötig, die Energiefrage neu aufzurollen und dabei um des Erfolgs willen erst einmal nichts auszuschließen. Bill Gates plädierte gerade mit guten Argumenten für die Atomenergie. Und auch im FFF-Milieu gibt es etliche, die sich – auch, weil sie damals nicht dabei waren – an die sakralisierte Ächtung der Atomenergie nicht gebunden fühlen. Würden die Grünen hier Diskussionsräume eröffnen, würden sie jene undogmatische Diskursfähigkeit beweisen, von der sie glauben, sie mit Löffeln zu sich genommen zu haben.
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Dieser Artikel erschien zuerst auf dem WELT-Blog des Autors Thomas Schmid – die Texte und erscheint hier mit dessen freundlicher Genehmigung. Teaser, Zwischenüberschriften und Hervorhebungen durch JFB. Auffassungen von Gastautoren müssen nicht unbedingt derjenigen des Blogbetreibers entsprechen, sondern können auch aus anderen Gründen als wertvoll erachtet werden (Multi-Perspektivität).
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Zum Autor: Thomas Schmid, Jg. 1945, nahm in seinen Zwanzigern an der Studentenbewegung in Frankfurt teil, was ihn später gegenüber Heilslehren misstrauisch machte – und ihn die Bürgerfreiheit schätzen lehrte. Lektor, freier Autor, Journalist. Zuletzt in Berlin Chefredakteur und dann Herausgeber der WELT-Gruppe. In seinem Blog veröffentlicht er regelmäßig Kommentare, Essays, Besprechungen neuer, älterer und sehr alter Bücher, Nachrufe und nicht zuletzt Beobachtungen über den gemeinen Alltag.
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