Wahrheit oder Gefühl – Wie die Herrschaftsverhältnisse sich immer weiter verschieben

Von Jürgen Fritz, Di. 13. Jul 2020, Titelbild: Mediamodifier, Pixabay, CC0 Creative Commons

Die meisten Menschen interessiert nicht so sehr, was der Fall ist, sondern sie interessiert vor allem und zuallererst, welche Vorstellungen ihnen angenehm sind, welche ihnen in irgendeiner Weise wohltun und Vorteile verschaffen. Wahrheiten, die dieses Kriterium erfüllen, sind willkommen, die anderen nicht, genauso wie Unwahrheiten einmal willkommen sind, das andere mal nicht, gemessen an dem gleichen Kriterium.

„Glaube macht selig und verdammt“

Erlauben Sie mir zunächst, einige Zeilen von Friedrich Nietzsche zu zitieren und dabei einen kleinen Kniff vorzunehmen. Überall, wo Nietzsche „Christ“ schreibt, kann natürlich – da dies kein spezifisch christliches, sondern ein allgemeines Phänomen darstellt, auch ein anderes Wort eingesetzt werden, welches ich hier aber lieber nicht explizit nenne, sondern ganz allgemein ein X setze, so dass es der je eigenen Phantasie überlassen bleibt, entsprechend zu subsituieren:

„Glaube macht selig und verdammt. – Ein X, der auf unerlaubte Gedankengänge gerät, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nötig, daß es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich gibt, wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? Sind es nicht überflüssige Wesen, falls sie doch existieren sollten? Denn alles Wohltuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die X-Religion der menschlichen Seele gibt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens.

Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle: zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind dieselben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der X das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet – weil es keinen Gott gibt, ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. – Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon dies ich weiß nicht wer behauptet hat; aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.“

aus: Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister, Ersterscheinung 1878, zweite um einen zweiten Band erweiterte Auflage 1886, Zweiter Band, Erste Abteilung: Vermischte Meinungen und Sprüche, 225 

Soweit also Nietzsche im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dazu einige Anmerkungen.

Die Rückkehr des Mittelalters

Zunächst könnte man auf das semiotische Dreieck verweisen, um zu verdeutlichen, was Nietzsche hier sagt. Offensichtlich braucht es bei religiösen, genauer: bei metaphysisch spekulativen Vorstellungen den Gegenstand, das Ding in der Realität, in der Wirklichkeit (links unten) gar nicht. Es reichen die mehr oder wenigen dunklen Vorstellungen oder wenn diese sich zu Begriffen verdichten im Denkraum (oben), um das zu bekommen, was die „Gläubigen“ brauchen und haben wollen. Die Vorstellung, dass es G gibt, reicht aus. G selbst braucht es gar nicht. Das Ganze spielt sich vollständig in der Vorstellungs- und Gedankenwelt ab, nicht in der Realität. Diese Vorstellungen über G im Denkraum haben dann aber natürlich Auswirkungen auf die Wirklichkeit, dergestalt zum Beispiel Kirchen oder Moscheen gebaut, Menschen verbrannt oder ertränkt, geköpft oder ausgepeitscht werden, weil sie sich angeblich gegen G – den G in der Vorstellungswelt der „Gläubigen“ – versündigt hätten. Was wir hier sehen, ist mithin eine Abkoppelung von der Realität, das Leben in einer kollektiven Illusion, wenn nicht Halluzination. Das ist bekannt.

Das semiotische Dreieck 1

Doch ich möchte auf einen anderen Punkt hinaus. Das Grundphänomen ist immer das gleiche, seit Jahrtausenden: Die meisten Menschen interessiert nicht so sehr, was der Fall ist, sie sind nicht primär wahrheitsorientiert, sondern sie interessiert vor allem und zuallererst, welche Vorstellungen ihnen angenehm sind, welche ihnen in irgendeiner Weise wohltun und Vorteile verschaffen. Wahrheiten, die dieses Kriterium erfüllen, sind willkommen, die anderen nicht, genauso wie Unwahrheiten einmal willkommen sind, das andere mal nicht, gemessen an dem gleichen Kriterium des angenehm oder unangenehm seins, des Wohltuns, des Vorteils erbringend. Das steht bei diesen über allem: das Gefühl, der Vorteil.

Und dieses Modell, nicht der Berücksichtigung, sondern der absoluten Dominanz solcherart seelischer Regung, modern gesprochen: solcher mentaler Zustände, wird nun, nach einer kurzen Phase von wenigen Jahrhunderten, in denen das Gefühl in einer Gegend der Welt zumindest keine absolutistische Herrschaft mehr ausüben durfte, sondern nur ein Player unter mehreren war, dieses Modell wird sukzessive wieder eingeführt, jeden Tag ein bisschen mehr, re-implementiert und re-importiert.

Das andere Modell, die Zeit der Aufklärung, muss nach seinem kurzen Gastspiel – gemessen immer in historischen Dimensionen – wieder weichen, da zu anspruchsvoll. Es hat sich nicht bewährt. Vielleicht haben sich auch die Menschen hierfür nicht bewährt, wie auch immer.

In gewisser Weise, vom geistigen Standpunkt aus, kehrt quasi das Mittelalter zurück, wenngleich aufgehübscht mit viel Technik und allerlei Brimborium, auch solchem, das viele angenehme Gefühle verschafft, auch viele wunderbare Möglichkeiten, und zugleich eine Totalität der Überwachung ermöglicht, von der die früheren Herrschenden nicht einmal zu träumen gewagt hätten.

Weil das Gestern nicht mehr gekannt wird, kann es auch nicht erkannt werden, wenn es wieder kommt

Und viele freuen sich auf diese Rückkehr des alten Modells, das sie gar nicht als alt empfinden. Was früher war, interessiert viele von ihnen generell kaum, denn es ist ja schon vorbei. Längst hat die Überwindung des Raums über die Überwindung der Zeit gesiegt. Die Verbindung zum Gestern ist abgerissen. Was da ist, ist da, wo es herkommt, wie es zustande gekommen ist, was alles dem vorausgehen musste, dass es so werden konnte, interessiert nicht. Es ist einfach da. Punkt.

Ohne ein Bewusstsein, wie es denn überhaupt nur zustande kommen konnte, fehlt natürlich auch ein Bewusstsein davon, dass und wie es wieder verloren gehen kann. Die Zeit trennt mehr als der Raum, weil es den Raum nicht mehr gibt. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel und die Ideologie der Globalisierung haben ihn aufgehoben. (Klonovsky). Innerhalb von Sekundenbruchteilen kann ich heute mit meinem Handy überall sein und mit dem Flieger innerhalb von Stunden oder wenigen Tagen in jedem Land der Erde. Daher ist das Gestern uninteressant geworden, weil ich da nicht sofort sein kann. Die Heutigen sind zum Großteil quasi von ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer eigenen Tradition abgeschnitten. Sie kennen sie schlicht nicht mehr und es interessiert sie auch nicht.

Und weil das Gestern nicht mehr gekannt wird, kann es auch nicht erkannt werden, wenn es wieder kommt. Diejenigen aber, die sich über diese Rückkehr nicht so recht zu erfreuen vermögen, vielleicht weil sie wissen oder ahnen, was da denn zurückkommt, die sollten lieber ruhig sein. Das wird man ihnen schon noch beibringen. Immerhin wird man nicht mehr gevierteilt, nicht mehr lebendig verbrannt. Insofern ein Fortschritt, gewiss. Aber man sollte eben ruhig sein.

Gut ist, was sich angenehm anfühlt – daran hat sich alles zu orientieren

Denn Gedanken haben nicht das Recht, Gefühle zu verletzen, egal was sie aufzeigen, etwas Wahres oder etwas anderes. Das spielt keine Rolle. Das ist nicht mehr das Kriterium. Wahrheit gibt es ohnehin nicht mehr. Das war vielleicht der raffinierteste Kunstgriff von allen: den Wahrheitsbegriff selbst auszuhöhlen, letztlich zu zerstören, indem man seinen Bezug zur Realität abkoppelte.

Bis man merkte, dass man den objektiven Wahrheitsbegriff, der einen Bezug zur Wirklichkeit hat, gegen Trump aber doch wieder haben möchte, nachdem der dieses Prinzip auf die Spitze getrieben hatte mit seinen „alternativen Fakten“. Trump gab unseren speziellen Freunden, die immer dann, wenn es ihnen in den Kram passt, jede objektive Wahrheit leugnen, quasi ihre eigene Medizin zu kosten. Das mochten sie natürlich gar nicht und wollten nun irgendwie doch nicht völlig auf den objektiven Wahrheitsbegriff verzichten. Sehr gelenkig und wendig sind unsere Freunde ja.

Ob sich das nicht selbst völlig widerspricht? Ja natürlich tut es das. Und wie! Es gibt keine Wahrheit, aber Trump sagt ständig die Unwahrheit. Das ganze Konstrukt ist völlig aberwitzig und in sich widersprüchlich. Aber auch das spielt keine Rolle, denn auch die Logik kann ja leicht außer Kraft gesetzt werden, wenn sie dem Gefühl nicht gut tut. Und um die Widersprüchlichkeit zu bemerken, müsste man ja zumindest ein wenig nachdenken. Nachdenken ist aber nur dann gut, wenn es dem Gefühl zuträglich ist, ansonsten lässt man es lieber sein. Sie merken, wie dieses Häschen hoppelt.

Wichtig ist also nur, ob das Gesagte gefällt. Fast alle versuchen immer nur noch so zu reden, dass es möglichst vielen ge- oder zumindest nicht missfällt. Und gefallen tut nur das Wohltuende, das die bereits implementierten Vorstellungen immer wieder aufs Neue bestätigt und so inneren Halt und Sicherheit vermittelt, was sich angenehm anfühlt. Das gefällt, nicht aber das zunächst Verstörende, welches an dem Implementierten rüttelt.

Natürlich ist genau das Verstörende manchmal das, was geistig-seelische Entwicklung ermöglicht. Aber wenn etwas unangenehm ist, dann ist es schlecht. Gut ist nur, was sich angenehm anfühlt. Daran hat sich alles zu orientieren. Die alte Ordnung wird wiederhergestellt. Die Gedanken müssen wieder lernen, sich unterzuordnen. Ansonsten werden sie vertrieben oder genau eingehegt. Sie müssen kontrolliert werden. Und sie werden kontrolliert werden. Schöne neue, alte, mittelalterliche Welt.

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