Von Herwig Schafberg, Sa. 30. Okt 2021, Titelbild: BR-Screenshot
60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Am 30. Oktober 1961 wurde das Abkommen unterzeichnet. Was mit der Ankunft von Gastarbeitern begann, entwickelte sich zu einer Migrationsgeschichte, die weder auf deutscher noch auf türkischer Seite beabsichtigt war. Ein Rückblick von Herwig Schafberg.
Anwerbung türkischer Gastarbeiter vor 60 Jahren
„Es wächst wieder zusammen, was zusammengehört“, sagte Willy Brandt 1989 nach der Maueröffnung in Berlin, den Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister, mit den Worten bejubelte: „Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt“. Er scheute sich nicht, Deutsche diesseits und jenseits der Mauer als ein Volk zu bezeichnen. Denn seinerzeit wurde noch klar differenziert zwischen Deutschen gleich welcher Herkunft und „ausländischen Mitbürgern“. Zu denen gehörten im Westen Türken. Sie lebten dort schon länger als Ostdeutsche, die nach der Maueröffnung auf den westlichen Arbeitsmarkt drängten, von dem „Ossies“ seit dem Mauerbau 1961 ausgegrenzt waren. Nicht zuletzt um das Ausbleiben von Flüchtlingen aus dem Osten zu kompensieren, waren nach dem Mauerbau Türken als „Gastarbeiter“ nach Westdeutschland sowie Berlin (West) geholt worden. Viele von denen blieben und bekamen Kinder sowie Enkel, die hier aufgewachsen sind und mehr oder weniger dazu gehören wollen.
Heute sind es sechzig Jahre her, dass zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei ein Abkommen über die Anwerbung türkischer Arbeitnehmer geschlossen wurde. Türken waren nicht die ersten „Gastarbeiter“ in Deutschland; denn es gab vor ihnen schon andere aus Südeuropa. Die reichten aber umso weniger, als durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 die letzte Lücke in den innerdeutschen Grenzen geschlossen worden war und dadurch nicht länger Flüchtlinge aus der DDR zu Hunderttausenden in den Westen kommen konnten.
Auf dem Arbeitsmarkt im westlichen Teil Berlins machte sich zudem negativ bemerkbar, dass zehntausende „Grenzgänger“, die im Osten lebten, aber im Westen gearbeitet hatten, nun ausgegrenzt waren und ersetzt werden mussten. Das geschah zum großen Teil durch türkische „Gastarbeiter“, die in der Hoffnung kamen, dass es ihnen hier wirtschaftlich besser gehen würde als in der Türkei. Die Anwerbung und Beschäftigung von „Gastarbeitern“ in Deutschland verlief in den ersten Jahren nach dem Rotationsprinzip: Demgemäß wurden ausländische Arbeitskräfte nach ein paar Jahren zurückgeschickt und durch neu Angeworbene ersetzt. Doch das Rotationsverfahren wurde Ende der sechziger Jahre aufgegeben, als immer mehr Unternehmer dazu übergingen, Arbeitsverträge mit bewährten „Gastarbeitern“ zu verlängern.
Entscheidung zwischen Heimkehr oder Hierbleiben
Viele „Gastarbeiter“ ließen sich auf eine Verlängerung ihrer Arbeitsverträge ein, weil ihnen im Laufe der Zeit klar geworden war, dass ein paar Jahre Arbeiten und Sparen in Deutschland für den Aufbau einer eigenen Existenz in ihrem Heimatland nicht ausreichen würde, vermutete die Historikerin Karin Hunn in ihrem Beitrag über Kulturelle Begegnungen zwischen Konflikt und Synthese für den von der Friedrich Ebert Stiftung initiierten Dialog der Kulturen. In der Türkei hatte sich die ökonomische Lage weiter verschlechtert – und wie sich bis zu den Türken in Almanya herumsprach, hatten dort viele Rückkehrer vergeblich versucht, als Taxi- oder LKW- Fahrer, Laden- oder Gaststättenbesitzer ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bei der Entscheidung zum Hierbleiben ging es in erster Linie um die Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Existenz, aber auch um Unterstützung der daheim gebliebenen Großfamilie: Von der Ausrichtung einer Hochzeit bis zur Einrichtung einer Wohnung für Verwandte.
Zahlreiche Türken entschieden sich auch deshalb zur Verlängerung ihres Aufenthalts, weil die Arbeitslosigkeit hier ebenfalls zunahm und 1973 die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte gestoppt wurde. Denn sie wussten nicht, ob sie nach einer Rückkehr in die Türkei bei Bedarf eine zweite Chance erhalten würden, in Deutschland zu arbeiten und Geld zu verdienen. Bei vielen lief die Verlängerung darauf hinaus, dass sie für immer blieben.
„Gastarbeiter“, die in Deutschland bleiben wollten, hatten in der Heimat Frau sowie Kinder und kamen mit ihrer Entscheidung zum Bleiben in „Konflikt zwischen ökonomischen Träumen und sozialen Verpflichtungen“, schrieb der Ethnologe und Migrationsforscher Werner Schiffauer in seiner Studie mit dem Titel Migration und kulturelle Differenz: „Holte man nämlich die Familie nach, nahm man eine Steigerung der Lebenshaltungskosten in Kauf – und machte Abstriche am Plan zur Rückkehr. Hielt man dagegen an den Akkumulationsplänen fest, nahm man die Zerstörung der Beziehungen zu denjenigen in Kauf, für die man die ganze Arbeit auf sich nahm.“
Weil in ihren Reihen die Sorge wuchs, dass nach dem Ende der Anwerbungsaktionen der Familiennachzug ebenfalls verboten werden könnte, holten viele von ihnen ihre Familien hierher. Obwohl die Bundesregierung versuchte, den Familiennachzug einzuschränken, das Höchstalter für nachkommende Familienangehörige auf das vollendete 16. Lebensjahr herabsetzte und den Zuzug weiterer Ausländer in Ballungsgebieten von der Aufnahmefähigkeit der Infrastruktur abhängig machen wollte, waren bald mehr Türken in Deutschland als vor dem Anwerbestopp und bevölkerten in zunehmendem Maße städtische Ballungsgebiete.
Zusammenballung von Türken in Großstadtvierteln
„Die Türken kommen – rette sich, wer kann“, schrieb DER SPIEGEL (Nr. 31/1973). Obwohl zu der Zeit noch nicht einmal eine Million Türken in Deutschland lebten, sorgte sich das Nachrichtenmagazin:
„Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen. Es entstehen Ghettos“.
Türkische „Gastarbeiter“ verließen damals die Massenunterkünfte, in denen sie anfangs untergebracht waren, und bezogen mit ihren nachgezogenen Frauen sowie Kindern Wohnungen in klassischen Arbeitervierteln der Großstädte, aus denen Deutsche wegzogen und immer mehr Platz für die Einquartierung weiterer Nachzügler aus der Türkei machten, bis man vielerorts Verhältnisse hatte, die man etwa aus Köln-Eigelstein, Duisburg-Marxloh, Hamburg-Wilhelmsburg oder Berlin-Kreuzberg kennt.
Nachdem der türkische Ministerpräsident Demirel für die Aufnahme von weiteren Millionen Türken in Deutschland geworben hatte, soll der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im kleinen Kreis bestimmt haben:
„Es kommt mir kein Türke mehr über die Grenze!“
Er verhinderte aber nicht, dass in großer Zahl weitere Türken kamen und die Städte sich mit den Zuwanderungen veränderten. „Manche Straßenzüge“ in Berlin, schrieb DER SPIEGEL (Nr. 40/2003), „muten an, als wäre die Bevölkerung kompletter türkischer Dörfer nach Deutschland verpflanzt worden. Fast alle Bewohner der sogenannten Samsun-Ecke etwa stammen aus Samsun in Nordostanatolien; und wann immer eine Wohnung oder ein Haus frei wird, sorgt die Gemeinschaft für Nachzügler – aus Samsun“.
Auf dem Wohnungsmarkt in Berlin ging es anscheinend ähnlich zu wie anderenorts auf dem Arbeitsmarkt. Beispielsweise „haben die Arbeitgeber in Frankfurt jeden fünften Türken am Main auf namentliche Empfehlung von bereits ortsansässigen Verwandten angeheuert. Die Sippen ziehen Kreise, denn kommt ein türkischer Arbeiter auch alleine, so bleibt er es nicht lange“, heißt es in dieser Ausgabe des Nachrichtenmagazins.
Absonderung und Orientierung in türkischen Communities
Wie die meisten Deutsche keine sozialen Kontakte zu Türken suchten und die ´Ausländerfeindlichkeit` mit der wachsenden Arbeitslosigkeit in den siebziger Jahren zunahm, wollten auch Türken zumeist unter sich bleiben und ihre Frauen sowie Kinder möglichst vor dem freizügigen Lebensstil der postachtundsechziger Gesellschaft in Deutschland bewahren, die viele von ihnen als zügellos empfanden. „Für keine ethnische Gruppe ist die Kluft zwischen urtümlichen Lebensbedingungen zu Hause und entwickelter Industrie-Gesellschaft so tief wie für die Frauen und Männer Kleinasiens. Kein Wunder, wenn die Türken in der Bundesrepublik ein Exempel dafür liefern, daß ´gesellschaftlich nicht eingebundene Minderheiten zur räumlichen Absonderung` drängen und in der Fremde, wie es Soziologen… formulierten, ´vertraute Lebensgewohnheiten` suchen – indem sie eng aneinanderrücken“, ist in der oben genannten SPIEGEL-Ausgabe weiter zu lesen: „Orientierung in der neuen Welt suchen die Einwanderer ohnedies zuerst in der Gemeinschaft von Familie, Freunden und Landsleuten.“
Dazu gehörte, dass Verwandte „aus Tradition und wirtschaftlichen Gründen“ miteinander verheiratet wurden, wie beispielsweise der Berliner Tagesspiegel vom 20.5.2003 schrieb und einen Referenten aus der Behörde für Ausländerangelegenheiten in Berlin mit den Worten zitierte: „Die Verwandtenehen sind Teil der wirtschaftlichen Überlebensstrategie aus vergangenen Jahrzehnten“ – und um die Tradition der „vermittelten Ehen“ fortzusetzen, setzten viele türkische Eltern ihre Kinder unter „massiven Druck“. Wie ferner im Tagesspiegel vom 22.5.2003 zu lesen ist, nutzten manche Eltern den jährlichen Sommerurlaub in der Türkei aus, um dort ihre Töchter oder Söhne mit Verwandten zu verheiraten und denen dadurch die Einwanderung in Deutschland zu ermöglichen.
Herausbildung ethnischer Inseln
Infolgedessen kamen immer wieder Männer und Frauen ins Land, die ebenso wenig wie die „Gastarbeiter“ aus der ersten Generation Deutschkenntnisse mitbrachten und – außerhalb des Arbeitsplatzes – kaum Kontakte zu Deutschen hatten, hier aber auch nicht unbedingt auf solche Kenntnisse und Kontakte angewiesen waren; denn es hatten sich in unseren Großstädten ethnische Inseln herausgebildet, auf denen Türkisch inner- und außerhalb der Familie Umgangssprache war. Es gab nicht bloß Lebensmittel sowie andere Geschäfte und Werkstätten in türkischer Hand, sondern es existierten nach einiger Zeit auch Arzt- und andere Praxen, die ihre Dienstleistungen in türkischer Sprache anboten.
Da von vielen angeheirateten Frauen ohnehin kaum etwas anderes erwartet wurde, als sich um Haushalt und Kinder zu kümmern, waren vor allem sie es, die „in Deutschland leben, ohne jemals angekommen zu sein“, monierte DER SPIEGEL (Nr. 10/2002). Und in ihrer Isolation erwarben sie kaum deutsche Sprachkenntnisse, die sie an ihre Kinder weitergeben konnten. Doch darin lag nicht der einzige Grund, aus dem manchen Kindern erst in der Schule auffiel, dass sie gar nicht in der Türkei lebten, sondern in Deutschland. Wie DER SPIEGEL mit Berufung auf die frühere Berliner Ausländerbeauftragte, Barbara John, berichtete, konnten viele Enkel der ersten Generation weniger Deutsch als ihre Väter und Großväter sprechen.
Das Zusammenleben auf solchen „ethnischen Inseln“ wäre für die Türken gewiss hilfreich im Hinblick auf „die Selbststabilisierung der in der Fremde infrage gestellten Persönlichkeit durch das homogene soziale Umfeld sowie die Hilfs- und Orientierungsfunktionen, die es für neu Ankommende oder von der Mehrheitsgesellschaft isoliert Gebliebene leistet“, schrieb der Politologe Thomas Meyer in seinem Beitrag über Parallelgesellschaft und Demokratie für den weiter oben erwähnten Dialog der Kulturen. „Diese hilfreiche Schleusenfunktion“ wurde jedoch „in der Regel rasch und gründlich zur Integrations-Falle“.
Vernachlässigung der Integration von Türken
Wie beispielsweise der Islamwissenschaftler und Politologe Ralf Ghadban unter dem Titel Reaktionen auf muslimische Einwanderung in Europa in der Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte für die Wochenzeitung Das Parlament vom 23.6.2003 darstellte, hatte man mit dem Anwerbungsstopp in den siebziger Jahren und Rückkehrprogrammen in den achtziger Jahren versucht, die Zahl der hier lebenden Türken zu senken. Doch die Zahl war allein zwischen 1976 und 1980 um 50 Prozent weiter angestiegen und stieg noch weiter. Denn die jungen Leute, die aus der Türkei hierher gekommen waren, hatten unterdessen zumeist mit Frauen aus ihrer Heimat Familien gegründet. Es war demgemäß auch nicht mehr die Rede von „Gastarbeitern“, sondern von „ausländischen Mitbürgern“. Dennoch ging die Bundesregierung weiter davon aus, dass die Bundesrepublik kein Einwanderungsland wäre.
„Ein vernünftiges Integrationskonzept wurde jahrzehntelang versäumt, weil man annahm, die Gastarbeiter würden wieder in ihre Heimat zurückgehen“, konstatierte Turgut Hüner, Sozialberater beim Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg, im SPIEGEL (Nr. 40/2003). Statt Versäumnisse im Elternhaus durch staatlich geförderten Erwerb von Deutschkenntnissen auszugleichen, „richtete man Türkischkurse für Kinder ein, damit sie der Heimat, in die sie möglichst bald zurückkehren sollten, nicht entfremdet würden“, erzählte der Historiker Ulrich Herbert in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) vom 10.9.2021 und wies darauf hin, dass die finanziellen Anreize, die in Rückkehrprogrammen vorgesehen waren, nicht den gewünschten Effekt hatten.
Bundeskanzler Kohl wollte die Zahl der hier lebenden Türken um die Hälfte reduzieren; doch nur ein kleiner Teil ließ sich durch Prämien zur Rückkehr in die Türkei überreden. Die meisten blieben nicht zuletzt, weil die Rentenansprüche, die sie hierzulande erwirtschaften konnten, einen weit höheren Wert als eine einmalige Prämie hatten. Als endlich erkannt wurde, dass die allermeisten blieben, „hat man gedacht, die Kinder oder Enkel dieser Gastarbeiter sind in Deutschland geboren und damit schon integriert“, fuhr Turgut Hüner fort: Erst „jetzt dämmert es der Politik, dass es so nicht funktioniert“.
Kursänderung von der Ausländer- zur Einwanderungspolitik
Als Hüner sich so äußerte, hatten wir schon die Ära der rot-grünen Koalition, die mit ihrer Kursänderung von der Ausländer- zur Einwanderungspolitik eine multikulturelle Entwicklung in Deutschland fördern wollte und sich das Land in bunten Bildern vorstellte. Diese Politik basierte auf der „Annahme einer essenzialistischen Form des Multikulturalismus, der die Differenzen akzeptierte, ohne nach ihrer Kompatibilität mit den Grundlagen unserer Demokratie zu fragen“, kritisierte Ralf Ghadban in einem Interview mit der Tageszeitung (TAZ) vom 2.4.2003. Seine Kritik richtete sich zwar speziell gegen die Politik des Landes Berlin, war jedoch übertragbar auf die Einwanderungspolitik der damaligen Bundesregierung.
Friedrich Merz hatte sich – seinerzeit als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – für die Anerkennung einer „deutschen Leitkultur“ ausgesprochen und in diesem Kontext gefordert, dass Immigranten deutlich bessere Deutschkenntnisse haben müssten. Mit dieser Forderung stieß er auf lebhaften Widerspruch in den Reihen der rot-grünen Koalition, in denen ihm sogar der Wille zur „Zwangsgermanisierung“ von Menschen nichtdeutscher Herkunft unterstellt wurde. Realistisch betrachtet war die Zahl derer, die keinen Schulabschluss sowie keine Berufsausbildung hatten und dauerhaft arbeitslos waren, unter den hier lebenden Türken besonders hoch. Und im Laufe der Jahre setzte sich auch in den Reihen der multikulturell verträumten Koalition die Einsicht durch, dass Menschen „mit Migrationshintergrund“ – wie man sie inzwischen nannte – ohne Deutschkenntnisse auf der Schule und darüber hinaus auf dem Arbeitsmarkt nicht weit kommen könnten. Dementsprechend wurde dann mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 die Förderung von Sprachkursen für eine Bevölkerungsgruppe beschlossen, die teilweise schon in dritter Generation hier existierte.
Abgesehen von Landessprache und – nebenbei bemerkt – landestypischen Sitten und Bräuchen gehören zu einer nationalen Leitkultur die Wertvorstellungen, die aus den Lehren der Landesgeschichte gewonnen und bei uns im Grundgesetz der Bundesrepublik dokumentiert wurden. Sie zu teilen, lässt sich nicht erzwingen – weder von Bürgern „deutschen Geblüts“, wie man früher sagte, noch von solchen „mit Migrationsgeschichte“, wie man Mitbürger ausländischer Herkunft neuerdings nennt. Sind Letztere hier geboren, steht es ihnen seit der Änderung des Einbürgerungsgesetzes frei, sich nach Vollendung des 18. Lebensjahres für die deutsche Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Dafür hat sich bis heute über die Hälfte von den mehr als drei Millionen Türkeistämmigen in Deutschland entschieden.
Inwieweit die Weltanschauung Eingebürgerter mit den Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft vereinbar und sie in dieser Gesellschaft integriert sind, ist eine Frage, der im Zusammenhang mit der Änderung des Gesetzes ebenso wenig Bedeutung beigemessen wurde wie bei vorangegangenen Initiativen zur Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft, obwohl die „gescheitert“ wäre, wie Ghadban in seinem TAZ-Interview befand, „denn manche Migrantengruppen isolieren sich gegenüber der deutschen Gesellschaft“.
Verbesserung der sozialen Lage Türkeistämmiger
In Schiffauers weiter oben vorgestellten Studie ist zu lesen, dass die erste Einwanderergeneration der Türken noch tief im Land ihrer Herkunft verwurzelt wäre, die zweite „zwischen Herkunftskultur und Einwandererkultur“ stände und mit dem Gefühl älter wurde, nirgendwo „angekommen zu sein“, die dritte Generation hingegen zum großen Teil in der Mehrheitsgesellschaft integriert wäre. Es ist allerdings nicht gewiss, inwieweit sich Schiffauers Verständnis von Integration mit den Vorstellungen der Türkeistämmigen deckt, die zu siebzig Prozent ihren Willen zur Integration bekundeten. Die Zahl nannte der Soziologe Yasar Aysin in seinen Ausführungen über „die deutsch-türkische Migration“, die von der Bundeszentrale für politische Bildung am 25.5.2018 publiziert wurden.
„Das soziale Zusammenleben zwischen Türkeistämmigen und Einheimischen“ wäre heute viel besser, „als es in den Medien dargestellt werde“, heißt es in Aysins Bericht. Tatsächlich haben im Laufe der Zeit immer mehr Türkeistämmige die „ethnischen Inseln“ verlassen und wachsen zumeist in friedlicher Koexistenz mit Nachbarn deutscher Abstammung in die Mehrheitsgesellschaft hinein. Ulrich Herbert befand in seinem oben genannten NZZ-Interview, die soziale Lage der meisten Türken wäre „zumindest zufriedenstellend“, die Beschäftigungslage der nachgewachsenen Generationen hätte sich deutlich verbessert und seit den Integrationsmaßnahmen der frühen 2000er Jahre besuchten mehr türkeistämmige Jugendliche höhere Schulen, nachdem die Zahl als Folge ausländerfeindlicher Pogrome in den frühen 1990er Jahren gesunken wäre. In der Folgezeit war übrigens die Zahl der Rückkehrer in die Türkei angestiegen.
Ab- und Ausgrenzung junger Deutschtürken
„Eine reine Erfolgsgeschichte war es sicher nicht“, schränkte Herbert seinen Befund ein. Dass der Prozess nicht unilinear verlief, hatte schon Schiffauer festgestellt. Denn es gäbe neben den vielen Integrierten viele andere der dritten sowie vierten Generation Türkeistämmiger, „die Differenzen zum Einwandererland wieder stärker betonen“ würden als ihre Eltern, die „Unterschiedlichkeit zur Mehrheitsgesellschaft bewusst wahren und teilweise sogar betonen. Die Konfrontation mit der Zuschreibung als Anderer“ – als Türke und Moslem – „wird immer häufiger mit einem bewussten Selbstentwurf als Anderer beantwortet und führt zu einem Stolz auf die eigene Besonderheit“, der – wie ich hinzufüge – nicht den Wunsch nach Zusammengehörigkeit mit nichtmuslimischen Deutschen erkennen lässt.
Die Tendenz scheint seit Schiffauers Studie zugenommen zu haben. Während Aysin in seinem Bericht betonte, dass neunzig Prozent der befragten Türkeistämmigen sich mit Deutschland verbunden fühlten, soll die Zahl derer, „die in der Türkei ihre Heimat im Sinne familiärer Verwurzelung und kultureller Prägung sehen“, seit 2011 größer geworden sein. Das hob die Süddeutsche Zeitung am 24.7.2018 hervor, die sich dabei auf Ergebnisse einer Studie des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen aus dem Jahr 2017 bezog, und die Tendenz damit zu erklären versuchte, dass viele Türkeistämmigen sich von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen fühlten. Es spricht allerdings manches dafür, dass die weit verbreitete Sorge vor Überfremdung des Landes weniger zur Ablehnung von Kindern und Enkeln türkischer „Gastarbeiter“ tendiert, sondern mehr von „Flüchtlingen“ aus den Weltregionen, die sich vom Hindukusch bis an die afrikanische Atlantikküste erstrecken.
Viele Migrationskinder, hatte bereits Ralf Ghabdan in seinem oben genannten Beitrag für Das Parlament geschrieben, „reagierten mit einer Selbstabgrenzung. Sie wandten sich an die Islamisten, bei denen sie nach einer kulturellen Identität suchten, die ihnen von der deutschen Gesellschaft“ angeblich vorenthalten wurde. Insofern hätten islamistische Vereine „für immer mehr Muslime die Funktion der Identitätsbildung und –erhaltung übernommen“. Dazu gehörte anscheinend auch die Hinwendung zu islamischen Geboten sowie Bräuchen, die sich beispielsweise an den Kopftüchern junger Türkinnen zu zeigen schien, wie die Judaistin Hanna Liss in ihrem Beitrag für die FAZ vom 24.9.2003 mit dem Titel Kopftuch und Kippa schrieb.
Solche Abgrenzung, vermutete DER SPIEGEL (Nr. 10/2002), „ist bei den einen mehr, bei den anderen weniger gefährlich, in vielen Fällen auch harmlos, aber sie ist ein Problem für die deutsche Gesellschaft“, die zur Zeit der Zeitungsausgabe noch unter dem nachhaltig wirkenden Schock der Anschläge von islamistischen Terroristen 2001 in New York stand. Es folgten weitere Terroranschläge mit verheerenden Ausmaßen wie etwa 2016 in Berlin und etliche Attentate sowohl von Islamisten unterschiedlicher Herkunft als auch von deutschen Faschisten, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen immer wieder schweren Belastungsproben aussetzten.
„Aber insgesamt und verglichen mit anderen Ländern ist die Situation“ in diesem Land „nicht so schlecht“, befand Ulrich Herbert: „Wir haben keine brennenden Banlieues wie in Frankreich und auch kein massives Problem mit Islamisten“ in den Reihen türkischstämmiger Mitbürger. Hoffen wir, dass es so bleibt und es uns nicht zu bunt wird in der Republik, deren Flagge übrigens nicht regenbogenfarbig ist, sondern schwarz-rot-gold.
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
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