Von Jürgen Fritz, So. 21. Nov 2021, Titelbild: Ylanite Koppens, Pixabay, CC0 Creative Commons
Entweder man orientiert sich an der Realität selbst, wozu es erforderlich ist, diese genau zu beobachten und zu erforschen. Damit begannen vor etwa zweieinhalb Jahrtausenden die alten Griechen auf ganz besondere Art und Weise und leiteten damit eine geistige Revolution, die erste Aufklärung der Menschheitsgeschichte ein. Oder man orientiert sich an …
„Querdenker“ orientieren sich genau wie Mitläufer an der Meinung der Masse, nur um 180 Grad gewendet
… der Meinung der anderen über die Realität, insbesondere der mächtigsten Wortführer innerhalb der breiten Masse und der Mehrheitsmeinung in dieser, nicht wegen der besseren Argumente, sondern einfach deswegen, weil es die Mehrheitsmeinung ist. Nach dem Motto: So viele auf einmal können sich doch unmöglich irren.
Letzteres hat den Vorteil, dass man dann am wenigsten Ärger bekommt mit anderen. Man eckt dann am wenigsten bei anderen an, macht sich kaum Feinde und wird weitgehend in Frieden gelassen, ist mitunter bei anderen recht beliebt, weil man ja andere nicht irritiert und niemandem auf die Füße tritt. Die Orientierung an der Meinung der Masse über die Wirklichkeit statt an der Wirklichkeit selbst hat also durchaus große Vorteile.
„Querdenker„ (Unmutsfühlende und Verschwörungsgläubige) tun regelmäßig das Gleiche – nur in inverser Form. Sie gehen aus Prinzip bei allen möglichen Themen in die Opposition zu den mächtigsten Wortführern der Gesellschaft und der Mehrheitsmeinung. Damit lösen freilich auch sie sich von dem Entscheidenden: dem Bezug zur Realität, zur Wirklichkeit, damit von der Wahrheit, verstanden im klassischen Sinne als richtige geistige Erfassung der Wirklichkeit.
Viele modernen Wahrheitstheorien, die alle wenig überzeugend sind, wie zum Beispiel die Konsenstheorie der Wahrheit, versuchten sogar, den Bezug zur Wirklichkeit gleich ganz zu streichen oder zumindest zu marginalisieren und zum Beispiel den diskursiv einlösbaren Geltungsanspruch von Aussagen über die Wirklichkeit zum Bezugspunkt zu machen. Sie rücken also ab von der klassischen Korrespondenztheorie der Wahrheit, wie wir sie im ontologischen und erkenntnistheoretischen (epistemologischen) Realismus finden, bei der Wahrheit keine intersubjektive Übereinstimmung, kein diskursiv einlösbarer Geltungsanspruch (Konsenstheorie) und auch kein bloßer Nicht-Widerspruch zu, kein bloßes Sich-gegenseitig-Stützen mit anderen Aussagen und Meinungen ist (Kohärenztheorie der Wahrheit), sondern die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit oder vielleicht besser: der korrekten Beschreibung der Realität.
Dabei machen die „Querdenker“ zunächst mal genau das Gleiche wie die Mitläufer im Mainstream: Auch sie lösen sich von der Wirklichkeit als ausschlaggebendem Bezugspunkt. Damit machen sie sich zugleich natürlich völlig von der breiten Masse und den dortigen Wortführern abhängig, weil sie diese ja zu ihrem Orientierungspunkt machen. So kommt es zu einer regelrechten Fixierung auf diese Wortführer der breiten Masse und der Mehrheitsmeinung und damit einer vollständigen Abhängigkeit von dieser in seinem eigenen Weltbild, also genau das Gegenteil von geistiger Unabhängigkeit, sondern sogar eine völlige Abhängigkeit von der Meinung anderer: Sagen diese mehrheitlich A, so sagt der „Querdenker“ automatisch und aus Prinzip: „Nein, Nicht-A.“ Und das nicht deswegen, weil er die Wirklichkeit zuvor möglichst unvoreingenommen, systematisch und sorgfältig untersucht hat, sondern weil er denkt: „Wenn die A sagen, dann kann A nicht stimmen.“
Und auch hier kommt es wieder zu den gleichen Phänomenen, dass die breite Masse der Querdenker sich wiederum an mächtigen Wortführern orientiert. Wortführer die meist noch unseriöser, nicht gerade die Gebildetsten und Klügsten sind, dafür natürlich geschickt im Aufgreifen von Emotionen und rhetorisch versiert im Manipulieren von Massen. Meist handelt es sich um raffinierte, nicht die intelligentesten, vor allem aber höchst unseriöse Leuten, die diese Querdenkerszene als persönliche Gelddruckmaschine für sich selbst entdeckt haben.
Die aus der Verankerung gerissene Kompassnadel
Harald Grundner hat eine schöne Metapher für den ersten Teil dieses Phänomens gefunden: die aus der Verankerung gerissene (den Bezug zur Wirklichkeit verloren habende) Kompassnadel, die sich immer aus Prinzip quer stellt, die keinen anderen Bezugspunkt mehr hat:
„Quer“ sei kein Qualitätskriterium; vielmehr zeige es, wie eine aus ihrem Lager gerissene und nun schiefhängende Kompassnadel immer noch auf das rekurriere, was eine gefühlte Mehrheit denke und sich daran orientiere. Das Distinktionsmerkmal sei der Winkel, unter dem es von der Meinung der Masse abweiche. Der aber sei in ihm durch seinen Lagerschaden eingebaut „und Daten der Welt um ihn herum beeinflussen den nicht“.
Dabei seien es doch gerade „diese Daten der Welt, die sich jährlich, monatlich, zuweilen täglich ändern“. Sie seien das, „was unsere Reaktion, unser Denken und Planen einfordert, gerade weil wir Mängelwesen ihre Zicken nicht vorhersehen konnten. Immerhin können wir uns an sie adaptieren, aber nur, wenn uns das Querstehen zu dem, was die anderen meinen“, nicht in die Parade fahre.
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