Das Wesen der Verschwörungsgläubigkeit

Von Jürgen Fritz, Fr. 18. Dez 2020, Titelbild: SWR-Screenshot

Verschwörungsgläubige sind nicht einfach Menschen, die glauben, dass es in der Welt Verschwörungen gibt. Das würde ja kaum ein halbwegs gebildeter, vernunftbegabter Mensch abstreiten, dass es das immer schon gab und auch weiterhin gibt und geben wird. Das wäre also nichts Besonderes. Was Verschwörungsgläubige auszeichnet, ist etwas anderes.

Das Wesen der Verschwörungsgläubigkeit

Dass es Verschwörungen, also geheime Absprachen und Kooperationen von mehreren Personen oder Gruppen zum Nachteil Dritter schon seit Jahrtausenden gibt und auch weiterhin geben wird, wird, wie gesagt, kaum ein halbwegs gebildeter, vernunftbegabter Mensch abstreiten. Das macht aber nicht alle zu Verschwörungsgläubigen. Diese zeichnet vielmehr etwas Besonderes aus, was sie von allen anderen Menschen abhebt. Es handelt sich nämlich um Personen, die nicht nur, wie wohl alle, glauben, dass es Verschwörungen in der Welt gibt, sondern es handelt sich um Menschen, deren gesamte Weltanschauung sich um solche Verschwörungsvorstellungen herum aufbaut, welche das Zentrum und der Angelpunkt ihrer gesamten Weltsicht bilden.

Der Glaube nicht allgemein und abstrakt an die Existenz von solchem, sondern der Glaube an ganz konkrete, reich ausgeschmückte Verschwörungsvorstellungen bildet mithin das dominierende Erklärungsmodell für nahezu alle Erscheinungen der Welt, die diesen Menschen missfallen. Immer vermuten diese, dass jemand dahinter steckt, wenn etwas schief geht, meist eine Gruppe von sehr bösen Menschen, die das Schlechte entweder grob fahrlässig, zumeist aber sogar bewusst und gezielt herbeiführen, ja die es vorsätzlich machen, um sich dadurch persönliche Vorteile zu verschaffen.

Das zu Grunde liegende Phänomen der Projektion als Form des archaischen Denkens

Das eigentliche Phänomen ist also dieses: So wie die Monotheismus-Gläubigen (Juden, Christen, Muslime etc.) alles Gute in eine nur gute Über-Person hineinprojizieren – die sie dann anbeten können, was ihnen wiederum Macht verleiht, denn eine Person kann man im Gegensatz zu einem Naturgesetz zumindest bitten und anflehen oder es, wie das kleine Kind seine Eltern, durch seine Tränen und lieb-sein beeinflussen, sprich manipulieren, ist also nicht machtlos -, so projizieren die Verschwörungsgläubigen alles Böse in eine Gruppe von Menschen, die quasi verteufelt, die als das absolut Böse imaginiert werden (61 Prozent der „Querdenker“, die sich einer Befragung stellten, meinen, dass die Stiftung von Bill und Melinda Gates eine „Zwangsimpfung für die ganze Welt“ wolle, wobei sich der radikale Teil dieses Milieus der Befragung gar nicht erst stellte).

Manche Monotheisten (wahrscheinlich auch Polytheisten) kennen ja auch noch den Teufel oder Satan als Gegenspieler des als nur gut imaginierten Schöpfers. Während in diesen alles Gute hineinprojiziert wird, so in jenen alles Böse. Und der Vatikan beschäftigt auch heute noch Teufelsaustreiber (Exorzisten) und lässt diese ausbilden. Dieses Modell der Projektion einerseits des nur Guten und des nur Bösen ist also uralt. Es ist, um es deutlich zu sagen: nicht mittelalterliches, sondern archaisches Denken. In solchen Mustern dachten die Menschen schon vor fünf-, vor zehntausend, wahrscheinlich auch vor zwanzigtausend Jahren oder noch viel länger.

Der Vorteil dieser Projektion besteht im Dingfest-machen des Beängstigenden

Warum tun Menschen so etwas? Warum neigen manche im 21. Jahrhundert, fast zweieinhalb Jahrtausende nach Sokrates, Platon und Aristoteles, fast ein viertel Jahrtausend nach Kant, noch immer zu solch archaischen Deutungsmustern? Fast alles was Menschen sich ausmalen und wie sie sich die Welt zurechtlegen, hat ja irgendeinen Vorteil für den, der sich sein Weltbild eben genau so malt, sonst würde er es ja nicht tun oder irgendwann davon ablassen.

Der Vorteil ist hier, dass man das Unangenehme, das Furchteinflößende, das Beängstigende, jenes, über das man keine Macht hat und das einem Angst oder gar das schreckliche Gefühl der Ohnmacht einjagt, auf diese Weise dingfest machen kann, indem man es in jemanden hineinprojiziert. Denn nun kann man diesen bösen Menschen bekämpfen und fühlt sich nicht mehr hilf- und machtlos.

Verschwörungsglaube vermittelt zudem ein leicht zu erringendes Gefühl der intellektuellen Überlegenheit

Zudem hat man so ein sehr simples Erklärungsmodell, muss sich nicht lange mit Natur-, Geistes-, Sozial- und Strukturwissenschaften (Mathematik, Logik, Linguistik …) befassen und hat doch das Gefühl, die Welt in ihrem Kern zu verstehen, was zudem natürlich ein Gefühl der intellektuellen Überlegenheit erzeugt, so dass man sich nicht klein und minderwertig fühlen muss, weil man all diesen komplizierten Zusammenhänge nicht so ganz nachvollziehen kann.

Diese oftmals rein funktionalen, teilweise sogar mathematischen, also nicht ganz simpel zu erfassenden Zusammenhänge werden einfach negiert oder als nicht essentiell rubriziert, das eigene Erklärungsmodell dagegen als das einzig richtige, als die Essenz der ganzen Geschehnisse angesehen. Alles andere stimmt entweder gar nicht oder ist nicht wesentlich, muss man also auch nicht wissen.

Im Kampf gegen das Böse, das in wenige hineinprojiziert wird, wird man selbst zum Guten und zum Helden, damit zum moralisch Edlen

Und im Kern dieses Erklärungsmodells steckt eben einfach nur eine Verschwörung von sehr bösen Menschen, die man als anständiger Mensch bekämpfen muss und bekämpfen kann (!). Somit ist man nicht mehr machtlos. Und man gehört damit selbst zu den Guten, weil man ja das absolut Böse bekämpft. Außerdem gehört man zu den Klugen, weil man die Machenschaften der bösen Verschwörer erkannt, weil man sie und ihre Pläne durchschaut hat. Denken und fühlen Sie sich bitte in diese Personen unter diesen Aspekten ein, welch erhabenes Gefühl das in einem erzeugt. Dann versteht man auch deren ganzes Auftreten.

Am beliebtesten als die Gruppe der Bösen waren seit Jahrtausenden die Juden. Das muss heute nicht mehr mitschwingen, bei einigen ist das aber wohl noch immer der Fall, aber längst nicht allen. Warum die Juden so gerne als Sündenböcke genommen werden, ist seinerseits hoch interessant, wäre aber Stoff für eine eigene Abhandlung. Das ist hier im Moment aber auch nicht das Wesentliche, um die Struktur zu erkennen, die hier zu Grunde liegt.

Denn wichtig ist nur, dass man eine solche Gruppe oder gar eine einzelne Person, zum Beispiel Bill Gates, findet, auf die man alles Übel zurückführen und so seiner habhaft werden kann. Letztlich geht es immer um Macht und fehlende Demut der Natur und dem Leben, auch der eigenen Existenz gegenüber.

Ein preisgünstiger Ausweg aus dem Gefühl des Kontrollverlusts

Im Kampf gegen ein Virus kann man eben alles richtig machen und sich doch infizieren und daran erkranken, womöglich sogar sterben. Solche Dinge, die sich unserer Kontrolle so sehr entziehen, erschüttern uns innerlich zutiefst, machen uns Angst und zeigen uns, wie klein wir im Grunde doch sind. Letztlich sind wir manchen Dingen einfach ausgeliefert und das auszuhalten, ist nicht gerade leicht. Manche überfordert das seelisch völlig. Und die suchen sich dann Auswege aus diesem Kontrollverlust.

Die Verschwörungsvorstellung ist quasi eine sehr preisgünstige Variante eines solchen Auswegs und daher so beliebt, für die Anbieter solcher Auswege zudem höchst lukrativ. Da entstehen nicht selten ganze Industrien, die das vermarkten.

Um aus der Verschwörungsgläubigkeit heraus zu finden, bräuchte es Wahrheitsliebe, der Mangel an dieser führte ja aber gerade dort hinein

Man sieht, die Vorteile dieses Modells sind so überragend – „wir haben die große Verschwörung durchschaut, wir sind die Klugen und wir sind so mutig, gegen diese Verschwörung anzukämpfen, wir kämpfen gegen das absolut Böse, wir sind die Guten, wir sind Helden, wir sind nicht klein und hilflos“ -, dass dagegen kaum eine Aufklärung ankommen wird, die ja ein gehöriges Maß an kritischer Selbstreflexion zur Voraussetzung hätte. Bei der was herauskäme? Die Einsicht „Ich bin ja gar nicht klug und mutig und gut, ich war wohl eher ein wenig töricht, auf so etwas hereinzufallen“.

Wer von diesen Verschwörungsgläubigen sollte dazu bereit sein? Er müsste ja sich selbst destruieren und würde damit all die angenehmen Gefühle, die ihm sein Glaube schenkt, verlustig gehen. Wozu sollte jemand das tun?

Die einzige Antwort, die mir dazu einfällt, wäre: aus Wahrheits- und Erkenntnis-Liebe. Aber genau der Mangel an dieser führte ja in diesen Glauben. Die Umkehr dürfte also für die meisten alles andere als leicht werden. Es müsste auf jeden Fall die Wahrheits- und Erkenntnis-Liebe gestärkt werden, übrigens bei allen, nicht nur bei den Verschwörungsgläubigen. Da wäre aus meiner Sicht unbedingt der oder ein Hebel anzusetzen.

Die meisten Verschwörungsgläubigen dürften für qualifizierte, sachliche Diskurse auf Dauer verloren sein

Aufklärung bedeutet aber immer auch entlarven und lächerlich machen, was schmerzhaft ist für den, der entlarvt wird. Menschen reagieren letztlich immer nur auf positive Gefühle, die sie suchen, und negative Gefühle, die sie zu vermeiden suchen. Das Erzeugen von kognitiven Dissonanzen durch geschickte Fragen, die für einen logisch denkenden Menschen eigentlich den Einsturz des ganzen Verschwörungs-Konstruktes zur Folge haben müsste, wird hier aber kaum reichen. Dem weichen gläubige Menschen sofort aus, weil sie viel zu viel zu verlieren haben. Gläubige haben meist eine sehr gute Intuition und erkennen sofort, was ihrem Konstrukt gefährlich werden könnte. Und sie finden dann schnell etwas, was diese Dissonanz wieder beruhigt.

Kurzum, ich fürchte, dass der Großteil dieser Personen, nicht alle, aber die meisten, zumindest sehr viele, für die moderne, aufgeklärte, liberale, menschenrechtsbasierte Demokratie und für den qualifizierten, sachlichen, konstruktiven Dialog verloren sind, so traurig dies auch ist. Die schweren Versäumnisse der letzten Jahrzehnte und die zunehmenden gegenaufklärerischen Tendenzen, die wir seit 70 bis 80 Jahren sehen, rächen sich nun auf breiter Front.

Lernen für die Zukunft: Wissenschafts- und philosophiebasierte Bildungsarbeit ist das A und O

Daraus sollte aber für die Zukunft gelernt werden, dass dies bei der nächsten und übernächsten Generation nicht erneut bei so einem großen Teil der Menschen passiert. Und das heißt: nicht ideologie- sondern wissenschafts-, philosophiebasierte Bildungsarbeit, Bildungsarbeit, Bildungsarbeit.

Wer darüber hinaus irgendeine metaphysisch spekulative Gläubigkeit benötigt, kann die ja gerne haben, aber sie sollte bei dem Gebildeten, bei dem Aufgeklärten eben eine zumindest (philosophisch) reflektierte Gläubigkeit sein, die um ihren eigenen Status weiß und sich selbst durchschaut, also nicht blind ist sich selbst gegenüber.

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