Was heißt Aufklärung? Wann und wo setzte sie erstmals ihren Fuß auf die Erde?

Von Jürgen Fritz, So. 05. Jul 2020, Titelbild: Screenshot aus Troja

Aufklärung bezeichnet zum einen eine historische Epoche, nämlich die Zeit des 17. und dann vor allem des 18. Jahrhunderts. Das Wesen der Aufklärung ist aber weniger eine Epoche, als vielmehr ein Grundsatz, ein Grundsatz des Denkens und Handelns. Dieser Grundsatz lautet: selbst zu denken, wobei denken etwas anderes ist als sich etwas zusammen zu reimen, wie dies ein Xavier Naidoo und Attila Hildmann tun. Denken muss man mithin wie Skifahren erlernen. Man kann zwar alles, was Beine und Füße hat, auf Skier stellen, aber ohne Übung kommen die meisten nicht sehr weit. Was aber bedeutet Selbstdenken?

Aufklärung heißt, selbst zu denken, kritisch zu sein und den eigenen Verstand als Instanz zur Wahrheitsfindung zu benutzen

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, schrieb Immanuel Kant 1784 in seiner berühmten Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?In der Spätphase der Aufklärung blickt Immanuel Kant bereits aus kritischer Distanz auf ihre Anfänge zurück und fragt 1786 in seiner Schrift: Was heißt: sich im Denken orientieren?. Darin beschreibt er Aufklärung wie folgt: „die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung“.

Aufklärung wird hier also als Prozess beschrieben, der auf ein Ziel hin ausgerichtet ist, nämlich das Ziel der Mündigkeit, des selbstständigen Vernunftgebrauchs. Selbstdenken ist damit kein ad hoc realisierbarer Zustand, man tritt nicht mit einem Schritt aus der Unmündigkeit heraus, sondern sie ist das Endziel einer schrittweisen Selbstbefreiung, einer kontinuierlichen Emanzipation des Individuums und der Gesellschaft. Mit anderen Worten: Aufklärung ist ein Projekt, ein immerwährendes Projekt und nicht etwas, das mit dem Jahr 1800 abgeschlossen wäre.

Was aber bedeutet Selbstdenken? „Selbstdenken“ heißt zunächst, den eigenen Verstand zu gebrauchen oder, wie Kant schreibt, „den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“. Selbstdenken setzt also voraus, den eigenen Verstand als die höchste Norm der Wahrheit zu betrachten, nicht die Autorität oder Tradition. Diese sollen vielmehr auf ihre Legitimität hin geprüft werden. Selbstdenken ist für die Aufklärung demnach wesentlich kritisches Denken.

Voraussetzung der Aufklärung ist geistige Freiheit

Die Aufforderung, den eigenen Verstand, die eigene subjektive Vernunft zu gebrauchen, welche sich an der objektiven Vernunft ausrichten soll, mithin selbst zu denken, hat natürlich eine Voraussetzung: Freiheit. Denn den eigenen Verstand zu gebrauchen, setzt geistige Freiheit, setzt Gedankenfreiheit voraus, also die Freiheit von Fremdbestimmung, von der Macht der Autorität und der Tradition.

Freiheit und kritischer Vernunftgebrauch, der sich an der objektiven Vernunft orientiert, sind somit die beiden Grundpfeiler der aufklärerischen Maxime des Selbstdenkens. Aufklärung hat somit eine doppelte Dimension: eine emanzipatorische (Befreiung von Fremdbestimmung) und eine rationalistisch-kritische: Unterwerfung unter die objektive Vernunft, denken statt sich etwas zusammenreimen, was weder Hand noch Fuß hat, also auch Selbstkritikfähigkeit.

Dies ist gleichsam ein anderer Freiheitsbegriff als die völlig regellose Freiheit, das triviale jeder kann tun und denken, was er will, denn so wäre kein gesellschaftliches Leben möglich, der Mensch ist aber ist ein Zoon politikon, wie Aristoteles es formulierte, ein Gemeinschaft bildendes Wesen, ein Gesellschaftstier. Die Freiheit, von der hier die Rede ist, die Freiheit zum Selbstdenken, ist also eine vernünftig normierte Freiheit.  Sie ist an die Wahrheit der kritischen Vernunft gebunden. „Den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“, heißt es bei Kant. 

Endzweck der Aufklärung ist die Selbstbefreiung des Menschen durch Selbstgesetzgebung nicht Gesetzlosigkeit

Die durch die eigene subjektive Vernunft erkannte und kritisch geprüfte Wahrheit soll also der Freiheit ihr Gesetz vorschreiben. Aufklärerische Freiheit meint mithin die Befreiung von fremder Autorität, das aber nicht, um sich der völligen Zügellosigkeit und des grenzenlosen Egoismus hinzugeben, sondern um sich sodann der objektiven Vernunft zu unterwerfen und sich selbst an die Wahrheit zu binden.

Freiheit als Autonomie (aus αὐτός = autós = ‚selbst‘ und νόμος = nómos = ‚Gesetz‘) respektive Freiheit als vernünftige Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung ist das Ideal der Aufklärung, nicht Freiheit als Anarchie. Selbstgesetzgebung als innere Freiheit ist etwas völlig anderes als das Ausleben eines grenzenlosen Egoismus. Selbstgesetzgebung bedeutet, sich selbst ein Gesetz aufzuerlegen, das so gestaltet ist, dass ich wollen kann, dass jeder Mensch auf Erden, ja überhaupt jedes Vernunftwesen egal wo, es befolgt.

Durch den Gebrauch seiner Vernunft soll der Mensch sich also ein eigenes Gesetz des Handelns geben und somit zur äußeren Freiheit gelangen. Daher lässt sich sagen, dass der Endzweck der Aufklärung die Selbstbefreiung des Menschen durch die kritische Vernunft ist.

Maßlose Selbstüberschätzung der besonders wenig kompetenten Selbstdenker und wie sie geheilt werden kann

Wenn also Aufklärung ein Prozess der Selbstbefreiung des Selbstdenkens ist, der sukzessive erlernt werden muss, dann ist auch klar, dass Individuen und auch Gesellschaften – wie beim Skifahren – unterschiedliche Grade der Selbstbefreiung, der Selbstgesetzgebung und des Selbstdenkens erreichen beziehungsweise bereits erreicht haben. So wie es bei Skipisten also den Anfängerhügel sowie grüne, blaue, rote, schwarze und doppelschwarze Pisten gibt und jeder, der sich Skier anschnallt, einen je spezifischen Leistungsstand hat, nach dem er die für ihn passende Piste auswählen sollte, so gibt es auch beim Selbstdenken unterschiedliche Leistungsgrade und offensichtlich fällt es manchen hier noch deutlich schwerer als beim Skifahren, sich selbst und seine Kompetenz auf diesem Gebiet realistisch einzuschätzen, siehe beispielsweise den Dunning-Kruger-Effekt.

David Dunning und Justin Kruger haben 1999 festgestellt, dass gerade weniger kompetente Personen stark dazu neigen, a) ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, b) überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen und c) das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht richtig einschätzen können. Dieser Mangel, sich selbst mittels Metakognition objektiv beurteilen zu können, führt bei ihnen zu starken kognitiven Verzerrungen des Selbstverständnisses, sprich zu extremer Selbstüberschätzung.

Genau das erleben wir bei Personen wie Naidoo, Hildmann, Beate Bahner und anderen Verschwörungsmythenanhänger und Verschwörungsgläubigen, deren Fähigkeiten eigentlich nur für grüne Pisten reichen, die meinen, sie wären die wahren Meister der schwarzen Pisten. Dies kann offensichtlich auch ganze Kulturkreise betreffen.

Aufklärung ist ein Prozess und zwar ein Bildungsprozess

Dem kann wiederum nur mit Bildung und Übung abgeholfen werden, wodurch nicht nur die eigene Kompetenz gesteigert, sondern auch gelernt wird, sich respektive die eigene Kultur und andere besser einzuschätzen.

Somit kommen wir wieder zu dem Ergebnis, dass Aufklärung ein Prozess, ein Projekt ist und das Selbstdenken sukzessive erlernt werden muss, was Arbeit darstellt, geistige Arbeit an sich selbst. Damit ist Aufklärung ein enorm anspruchsvolles Projekt, das nur dann gelingen kann, wenn eine Gesellschaft entsprechend in Bildung, damit in Humanismus (Humanismus = Bildung, Kultiviertheit + Menschenfreundlichkeit) investiert und zwar in eine solche, die genau das tradiert: das Selbstdenken zu erlernen.

Dabei ist Bildung etwas anderes als Vielwisserei. Sie bedeutet vielmehr eine dreifache, freiwillige Unterwerfung aus innerer Einsicht (Vernunft):

  • unter die Realität (Wirklichkeit),
  • die Logik (die objektiven Gesetze des guten und richtigen Denkens) und
  • unter die Ethik, im Sinne einer vernünftigen Selbstgesetzgebung.

 Der Beginn vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden im antiken Griechenland

Nach all dem Gesagten wird nun auch deutlich, dass die Aufklärung nicht erst im 17. Jahrhundert, nicht erst in der Neuzeit beginnt, nein, sie beginnt im 6. Jahrhundert v. Chr. in der griechischen Antike, genauer: Sie beginnt mit der ionischen Naturphilosophie bei Thales von Milet (um 625 – 545 v. Chr.) und dessen Schüler Anaximander (um 610 – 547 v. Chr.). Anaximander übt bereits offene Kritik an seinem Lehrer Thales.

Und Xenophanes (um 570 – 475 v. Chr.), der bereits die anthropomorphe Göttervorstellung seiner Zeitgenossen kritisiert, kommt zu der Einsicht, dass seine eigene Lehre wie jedes menschliche Wissen nur Vermutung, nur vorläufige Suche nach Wahrheit ist:

„Nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles Verborgene gezeigt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere.“

Und in einem anderen Fragment:

Klares hat freilich kein Mensch gesehen,
und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat
hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre.
Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre,
Vollkommenes zu sagen,
würde er sich dessen trotzdem nicht bewusst sein:
bei allen Dingen gibt es nur Annahme.

Karl Popper (1902 – 1994), der Begründer des kritischen Rationalismus, einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, sieht daher in Xenophanes den Begründer einer Tradition der Kritik und der Selbstkritik, die ihn mit der modernen Aufklärung verbindet: „Xenophanes war der Gründer einer Tradition, einer Denkrichtung, zu der unter anderen Sokrates, Montaigne, Erasmus, Voltaire, Hume, Lessing und Kant gehörten.“

Am Anfang war also die ionische Naturphilosophie, am Anfang war die griechische Antike. Hier begann das Selbstdenken, hier begann die Befreiung von Tradition und Autorität, hier begann die Emanzipation, die Hinwendung zur Ratio und die Selbstgesetzgebung, hier begann vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden die Aufklärung.

Literaturempfehlung

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