Merkel für sofortigen Lockdown: Ampel lehnte ab

Von Jürgen Fritz, Do. 25. Nov 2021, Titelbild: phoenix-Screenshot

Droht die neue Bundesregierung mit einem einzigartigen Versagen in ihre Amtszeit zu starten? Gestern hatte ich ausführlich begründet, warum an Kontaktbeschränkungen für alle kein Weg vorbeigehen wird. Dies sieht die Noch-Kanzlerin offenbar genauso und bat, wie nun bekannt wurde, die Ampel-Spitzen am Dienstagabend zu einem vertraulichen Gespräch.

Merkel erkennt den Ernst der Lage und bittet die Ampel-Spitzen ins Kanzleramt, sie hat einen Plan

Am Dienstagabend bat die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel führende Vertreter der kommenden Ampel-Koalition ins Kanzleramt. Dabei ging es um über die aktuelle Pandemie-Lage, die nun in der vierten Welle erneut mehr als besorgniserregende Ausmaße angenommen hat.

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist gestern laut Our World in Data und John Hopkins, deren Zahlen immer etwas aktueller sind als die des Robert Koch-Instituts, auf über 450 pro 100.00 bzw. auf über 4.500 pro eine Million Einwohner angestiegen, siehe Grafik 1. Die Zahl der COVID-19-Toten überschritt gestern die 100.000er Marke, siehe Grafik 2:

Wieder einmal, wie schon x-fach zuvor, haben Deutschlands Politiker die Entwicklung verschlafen. Und wieder einmal hat Angela Merkel die Entwicklung zumindest früher erkannt als andere. Vielleicht kommt ihr hier auch ihre einstige naturwissenschaftliche Ausbildung zu gute. Auf jeden Fall bat die Noch-Kanzlerin also führende Politiker der Ampel-Parteien SPD, FDP und Grüne, die die letzten Wochen und Monate mit Wahlkampf, Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen beschäftigt waren statt mit der Pandemie, ins Kanzleramt. Denn die Noch-Kanzlerin hatte einen Plan.

Der neue Bundestag weigert sich, die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu verlängern – mit weitreichenden Folgen

Und dass Merkel genau zu diesem Zeitpunkt dieses Gespräch mit den zukünftigen Regierenden suchte, hatte einen Grund. Denn die zuletzt mit Beschluss vom 25. August 2021 festgestellte epidemische Lage von nationaler Tragweite gilt ab heute, dem 25. November 2021 als aufgehoben, da der neu zusammengesetzte Bundestag das Fortbestehen nicht erneut festgestellt hat. Der Begriff „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ war mit Wirkung zum 28. März 2020 in das deutsche Infektionsschutzgesetz (IfSG) aufgenommen worden.

Nachdem die WHO am 30. Januar 2020 eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ erklärt hatte, reagierten die einzelnen Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Maßnahmen. Der sich grenzüberschreitend in der gesamten Bundesrepublik ausbreitenden, durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 verursachten Krankheit COVID-19 konnte jedoch nicht bundesländerübergreifend begegnet werden. Um einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik zu begegnen, wurden daher Regelungen erforderlich, die dem Bundesministerium für Gesundheit die entsprechenden Krisenreaktionsmaßnahmen ermöglichten.

Mit dem Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite wurde daher mit Wirkung zum 28. März 2020 in § 5 Abs. 2 IfSG eine umfangreiche Verordnungsermächtigung zugunsten des Bundesgesundheitsministeriums nach vorheriger Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Deutschen Bundestag gem. § 5 Abs. 1 IfSG aufgenommen, um die Schwächen des Föderalismus bei der Pandemiebekämpfung zu überwinden. Die vorherige formale Feststellung „der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Deutschen Bundestag sollte dabei das staatsorganisationsrechtliche Manko einer zentralen Zuständigkeit auf Bundesebene kompensieren.

Regierungssprecher: „Wir sind auf dem Weg in eine Notlage, wie wir sie hierzulande noch nie hatten“

Da die am 25. August 2021 festgestellte epidemische Lage von nationaler Tragweite aber nur bis zum 24. November 2021 festgeschrieben wurde, und der neue Bundestag diese nicht verlängerte, gilt das Fortbestehen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite ab heute als aufgehoben. Und das mitten in der vierten Welle bei den mit großem Abstand höchsten Sieben-Tages-Inzidenzen, die Deutschland bislang gesehen hat, siehe Grafik 1 oben, und die durch die Impfungen nicht mehr kompensiert werden können, zumal diese in ihrer Wirkung schneller nachlassen als ursprünglich gedacht und die Delta-Variante fast dreimal so ansteckend ist wie der ursprüngliche SARS-CoV-2-Typus.

Deswegen hatte Merkel also einen Plan gefasst, den sie den künftigen Regierenden von SPD, FDP und Grünen am Dienstagabend unterbreitete. Die Bundeskanzlerin habe bei dem Treffen am Dienstag mit Ampel-Koalitions-Spitzen „den außerordentlichen Ernst der Lage“ deutlich gemacht, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch in der Regierungspressekonferenz in Berlin (hier ab Minute 32:09). Die Dramatik sei ja offenkundig: 

„Wir sind auf dem Weg in eine Notlage, wie wir sie hierzulande noch nie hatten. Die Krankenhäuser füllen sich rapide. Freie Intensivbetten, verfügbares Intensivpersonal werden immer knapper. Schwerstkranke Corona-Patienten müssen überregional immer weiter wegverlegt werden. Sonstige wichtige medizinische Eingriffe müssen verschoben werden. Das ist es, wo wir in der vierten Welle der Pandemie jetzt stehen.“

Jetzt müsse es darum gehen, so Seibert weiter, das Nötige zu tun, um diese vierte Welle so schnell wie möglich zu bremsen und zu brechen. Und die Kanzlerin habe den Koalitionsspitzen der künftigen Regierungskoalition „diesen Ernst der Lage deutlich dargelegt“.

Merkel war und ist der Überzeugung, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist, um die ‚epidemiologische Notlage von nationaler Tragweite‘ nicht zu verlängern

Auf Nachfrage eines Journalisten, dem die oben erläuterten Zusammenhänge (dass der neue Bundestag sich geweigert hatte, die Feststellung der epidemische Lage von nationaler Tragweite über den 24. November hinaus zu verlängern) wohl nicht klar waren, warum Merkel, die ja noch im Amt sei, denn nicht selbst das Erforderliche unternehme, fügte der Regierungssprecher an, dass die Bundeskanzlerin „den Ernst der Lage, wie sie ihn wahrnimmt, bereits mehrfach und auch nicht nur in diesem Gespräch, sondern auch in einem Podcast, im Gespräch mit den Ministerpräsidenten in der vergangenen Woche deutlich gemacht“ hat. Sie habe nun auch mit den Ampel-Koalitionären hierüber gesprochen. Mehr könne er dazu nicht sagen, da es sich um ein vertrauliches Gespräch gehandelt habe.

Auf nochmalige Nachfrage des Journalisten, der hier völlig zu Recht insistierte, erforderliche Maßnahmen könnten doch von der jetzigen Regierung bereits eingeleitet und dann von der neuen fortgeführt werden (genau das ist eben aus den oben erläuterten Gründen so nicht ohne weiteres möglich, weil der neue Bundestag die Bundesregierung hier ein Stück weit ausbremste), berief Seibert sich nochmals auf die Vertraulichkeit des Gesprächs und wies nochmals darauf hin: Die Haltung der Bundeskanzlerin sei ja in den letzten Wochen von ihr selber und auch in Bundespressekonferenzen vielfach dargelegt worden.

„Sie hätte sich gewünscht, dass es die wichtige Beratung mit den Ministerpräsidenten schon früher gegeben hätte. Es ist auch bekannt, dass sie der Überzeugung war und ist, dass dies jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, die sogenannte ‚epidemiologische Notlage von nationaler Tragweite‘ aufzulösen bzw. nicht zu verlängern.“

Führende Politiker machen immer wieder den gleichen Fehler: Sie reagieren und das meist viel zu spät statt vorausschauend zu agieren

Auf die Frage einer weiteren Journalistin, ob es denn wenigstens verbindliche Absprachen mit der künftigen Ampelkoalition gegeben habe, dass die jetzige geschäftsführende Regierung, die ja noch zwei Wochen im Amt sei, weitere Schritte unternehme, berief sich Seibert erneut auf die Vertraulichkeit des Gesprächs. Dies dürfte aber wohl nichts anderes bedeuten als: Nein, solche verbindliche Absprachen, die Merkel offensichtlich gewollt hatte und initiieren wollte, die gibt es nicht, weil die Vertreter von SPD, FDP und den Grünen, die den Ernst der Lage wieder einmal nicht erkennen, dies offensichtlich nicht wollten.

Und genau jenes Schauspiel erleben wir seit inzwischen mehr als eineinhalb Jahren. Es ist immer wieder das Gleiche: Führende Politiker erkennen die jeweilige Situation deutlich zu spät und brauchen viel zu lange, bis sie aktiv werden. Sie sind diesem Virus daher hoffnungslos unterlegen, weil sie nicht vorausschauend agieren, sondern immer nur reagieren und das oft Wochen zu spät. So aber geht jedes Mal wertvolle Zeit verloren, was unsere Wirtschaft langfristig enorm schädigt, was Familien, Schülern, Kindern und Jugendlichen zusetzt, Krankenhäuser, Ärzte und Pflegepersonal noch mehr strapaziert als ohnehin schon der Fall und unnötig viele Menschen schwer erkranken und sterben lässt.

Merkel hatte, auch dieses Schauspiel wiederholt sich seit mehr als eineinhalb Jahren immer wieder, oft früher als alle anderen auf Gefahren hingewiesen und wollte aktiv werden, wurde aber mangels Zuständigkeit – Stichwort Föderalismus – immer wieder ausgebremst, sei es von den Ministerpräsidenten, Landräten oder anderen Bundespolitikern. In seinem Artikel Corona: Merkel könnte die Ministerpräsidenten wie Schuljungen aussehen lassen hatte Thomas Schmid dies bereits am 15. Mai 2020 aufgegriffen und thematisiert, ich selbst schon im April 2020.

Merkel wollte einen sofortigen Lockdown für alle, Ampel-Spitzen ließen die letzte Gelegenheit dazu jedoch verstreichen

Auf die letzte Frage eines Journalisten, ob die Noch-Kanzlerin wie in Österreich einen Lockdown für alle befürworte, antwortete Seibert zwar nicht direkt mit Ja, aber seine Antwort war doch, wenn auch ein wenig verklausuliert, eindeutig: Die Maßnahmen, die in den Bundesländern ergriffen wurden, seien sicherlich „richtig und wichtig“, auch das Impfen gehe voran, „wenn auch noch nicht in dem Tempo, das wir da anstreben müssen“ und dennoch „viele Experten bezweifeln“, ob das alles jetzt schon reiche, „um die Welle zu bremsen und zu brechen“, so Seibert die Auffassung der Kanzlerin wiedergebend.

Nach Informationen der DPA (Deutsche Presse-Agentur) hatte Merkel den Ampel-Parteien angeboten, die Maßnahmen angesichts der bevorstehenden Überlastung des Gesundheitswesens deutlich zu verschärfen. Eine gesetzliche Notbremse oder klare Lockdown-Vereinbarung mit den Ländern wären die nahe liegenden Optionen, hieß es weiter.

Die BILD berichtet, Merkel habe einen sofortigen Lockdown bereits ab heute,  Donnerstag, den 25.11.2021 gefordert bzw. vorgeschlagen. Aber SPD, FDP und Grüne wären darauf nicht eingegangen respektive hätten dies abgelehnt.

Ein bundesweiter Lockdown für alle wäre allerdings nur noch gestern, am Mittwoch, möglich gewesen. Denn ab heute ist die Feststellung der „epidemische Notlage“ durch den Deutschen Bundestag ausgelaufen. Und mit dem Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes ist ein allgemeiner Lockdown fast unmöglich.

Die neue Bundesregierung (Ampel-Koalition) droht mit einem einzigartigen Versagen in ihre Amtszeit zu starten

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) hat rasche Beratungen der Ministerpräsidenten über einheitlich strengere Regeln gefordert.

„Wir müssen die drohende Überlastung des Gesundheitswesens mit aller Macht verhindern und dürfen nicht bis zum 9. Dezember warten, um die Lage zu analysieren“,

sagte Hans am Mittwoch der DPA in Berlin.

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