Radfahrender Blinder – Der mit den Ohren sieht

Von Jürgen Fritz, Sa. 27. Nov 2021, Titelbild: Blind man’s Adventures-YouTube-Screenshot

Juan Ruiz ist von Geburt an vollkommen blind. Gleichwohl kann er sich im Raum sehr gut orientieren. Seit seinem 12. Lebensjahr nutzt der gebürtige Mexikaner ähnlich wie Fledermäuse und Delfine eine Klicksonar-Technik (aktive menschliche Echoortung).

Der blinde Biker

Juan Ruiz wurde 1981 völlig blind geboren, wuchs in Mexiko auf und lebte dann später lange Zeit in Los Angeles, USA, wo er der erste Schüler von Daniel Kish wurde. Daniel Kish hatte sich schon als Kind Klicksonar selbst beigebracht, später während des Studiums dann wissenschaftlich untersucht und schließlich systematische Schulungen dafür entwickelt und praktiziert. Anderes Sehen holt Juan Ruiz im April 2011 zum ersten Mal nach Deutschland. Hier trainierte er blinde Kinder, Erwachsene und andere Trainer in Deutschland und Österreich.

Wenn Ruiz sich im Freien bewegt, erzeugt er laufend leise Klicklaute. Und über das Echo dieser kann er sich exzellent orientieren. So erkennt er nicht nur große Häuser und kann auch deren Entfernung recht genau einschätzen, sondern kann auch Autos und anderes identifizieren, weil das Echo dann ein anderes ist. „Als Kind dachte ich immer, ich kann ein bisschen sehen. Ich wusste, wo die Wände und Türen sind und konnte mich sehr gut orientieren“, erzählt er. „In meinem Kopf habe ich durch Klick-Sonar ein präzises Bild des Raumes. Die Welt wird durch diese Methode für mich klarer und ich kann mich sicherer bewegen.“

Mehr als tausend blinden und sehbehinderten Menschen in ganz Deutschland hat Ruiz den Einsatz von Klicksonar bereits vermittelt. Aus seiner Sicht kann jeder Mensch die Methode erlernen, egal ob als kleines Kind oder als Senior. „Durch Klick-Sonar kann ich mich sehr frei bewegen und benötige keine Assistenz im Alltag“, so Juan. Dabei nehmen die meisten sehenden Menschen sein Klicken gar nicht wahr, dieses ist nicht sehr laut. Es brauche nur ein paar Stunden, um die Technik zu lernen. „Danach kann man bereits selbstständig üben!“, erzählt Ruiz, der mit dieser Technik sogar Fahrrad fahren kann.

Mit den Ohren sehen

Forscher haben das Gehirn des inzwischen 40-Jährigen mit verschiedenen Experimenten untersucht und dabei wurde Faszinierendes deutlich. Sein visuelles Zentrum im Gehirn ist während seiner Klick-Sonar-Technik höchst aktiv. Es erzeugt in seinem Geist tatsächlich Räume, in denen er sich dann zurechtfinden kann. Insofern kann man tatsächlich sagen: Er „sieht“ mit den Ohren.

Inzwischen weiß man: Die aktive Echoortung Klicksonar ist eine Technik, die mittels eines dezenten Zungen-Klicks Schall aussendet und die zurückfallenden Echos auswertet, vergleichbar der Echoortung, wie sie von Fledermäusen und Delfinen verwendet wird. Sie erzeugt nach regelmäßigem Training ein mit dem Sehen vergleichbares Abbild der Umwelt im visuellen Cortex des Gehirns. Das Gehirn trennt die Echosignale, als visuell nutzbare Information, von den sonstigen akustischen Informationen und verarbeitet sie in den jeweiligen Hirnarealen.

Wunderwerk menschliches Gehirn

Dies ist ein weiteres schönes Beispiel, wozu unser Gehirn, das wohl Komplexeste, was die Evolution bislang hervorbrachte, fähig ist. Unser Gehirn besteht aus ca. 100 Milliarden Neuronen (Nervenzellen). Jedes Neuron ist durchschnittlich mit 1.000 anderen Neuronen verbunden, so dass ca. 100 Billionen Synapsen, 100 Billionen neuronale Verknüpfungen entstehen. Die Neuronen erzeugen kleine elektrische Ströme und tauschen chemische Botenstoffe aus. So können sie empfangene Daten (Inputs) verarbeiten (prozessieren) und zu neuen Daten verrechnen (Outputs). Jedes einzelne Neuron besitzt in etwa die Rechenkraft eines gebräuchlichen Laptops. Und wir haben davon ca. 100 Milliarden in unserem Gehirn mit 100 Billionen Synapsen. Die Rechenkapazität, die dadurch entsteht, ist gigantisch!

Und je nachdem, was wir üben, entwickeln sich neue neuronale Verbindungen. Menschen, bei denen eines Sinnesorgan ganz oder fast ganz ausfällt, üben entsprechend andere Organe und Wahrnehmungen und formen so aktiv ihr Gehirn. Das heißt, wir formen unser Gehirn und damit unseren Geist und uns selbst ein Stück weit selbst durch das, was wir immer wieder tun. Wir erschaffen uns mithin selbst. Weiteres hierzu siehe hier:

Gehirn und Geist oder: das göttliche Moment in uns

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