Leopoldina für Impfpflicht plus sofortige Kontaktbeschränkungen für alle

Von Jürgen Fritz, So. 28. Nov 2021, Titelbild: Rotesdiadem, CC0, via Wikimedia Commons

Die Nationale Akademie der Wissenschaften befürchtet, dass Teile der Politik und Öffentlichkeit in Bezug auf die Pandemie „die Dramatik der Situation nicht in ihrem vollen Ausmaß erfassen“. Sie hält „ein sofortiges Gegensteuern“ für dringend erforderlich und schlägt auch konkrete Maßnahmen vor.

Vorbemerkung

Am Mittwoch, den 24. November, hatte ich ausführlich dargelegt, warum an Kontaktbeschränkungen für alle kein Weg mehr vorbeigehe. Dann wurde bekannt, dass die geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel die Spitzen der Ampelkoalition bereits am Dienstagabend zu einem vertraulichen Gespräch ins Kanzleramt eingeladen hatte. Dabei ging es darum, dass Vertreter der Noch-Bundesregierung mit der kommenden Regierung gemeinsam Beschlüsse bezüglich der momentanen Pandemie-Krisensituation zu fassen und gemeinsam umzusetzen. Daran war die Ampelkoalition jedoch offensichtlich nicht interessiert.

In der Zwischenzeit stieg die Sieben-Tage-Inzidenz am Donnerstag und Freitag laut Our World in Data auf über 480 pro 100.000 Einwohner. Gestern, am Samstag, den 27. November, hat nun auch die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, ein Statement abgegeben, in welchem sie auf Grund der kritischen Lage ein sofortiges Gegensteuern für dringend geboten hält und konkrete Maßnahmen empfiehlt.

Ein sofortiges Gegensteuern ist dringend erforderlich

In diesen Tagen stehe Deutschland vor einer erneuten, verschärften Eskalation der COVID-19-Krise, heißt es in der Stellungnahme der Wissenschaftler. Es sei zu befürchten, dass Teile der Politik und Öffentlichkeit „die Dramatik der Situation nicht in ihrem vollen Ausmaß erfassen“.

Dazu trügen die Vielstimmigkeit der öffentlich vorgebrachten Einschätzungen von Fakten und Prognosen, ein gewisser Gewöhnungseffekt und wohl auch das für viele „bloß“ statistische „Angesicht“ der Todesopfer und der Langzeitgeschädigten von COVID-19 bei. Die Autoren der Ad-hoc-Stellungnahme seien einzeln und gemeinsam nach bestem Wissen der Auffassung, „dass hier ein sofortiges Gegensteuern dringend erforderlich ist“.

Kritische Lage

Die Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante, die deutlich zu niedrige Impfquote, nachlassende Immunität auch nach zweimaliger Impfung und die nicht ausreichend stringenten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie haben nach Einschätzung der Leopoldina dazu geführt, dass der bevorstehende Corona-Winter für Deutschland erneut zu einer massiven gesellschaftlichen Herausforderung werde. Um den weiteren Anstieg der Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19-Infektionen und eine Unterversorgung auch anderer Schwerstkranker durch Überlastung der Krankenhäuser aufzuhalten, „müssen schnellstmöglich klare und stringente Maßnahmen nach einheitlichen Kriterien ergriffen werden“. Das Auftreten neuer Virusvarianten – wie z.B. aktuell der Omikron-Variante –, die noch infektiöser sein könnten, mache ein schnelles und konsequentes Handeln noch dringlicher.

Das Hauptproblem in unserem Land sieht die Nationale Akademie der Wissenschaften in der viel zu hohen Zahl noch ungeimpfter Menschen. Vergleiche mit anderen Ländern, die die Ansteckungsraten durch konsequentes Impfen haben flacher halten können, sowie die entsprechende Modellierung des Robert Koch-Instituts vom Juli 2021 würden dies zeigen.

„Ungeimpfte sind in einen Großteil der Neuinfektionen (ca. 8-9 von 10 Ansteckungen) involviert“, so die Leopoldina in ihrem Statement. Hinzu komme „– wie neuere Erkenntnisse immer deutlicher belegen –“, dass auch bei Geimpften der Impfschutz vor Infektion bereits nach wenigen Monaten abnehme. Dadurch steige die Wahrscheinlichkeit einer Infektion, einer Erkrankung sowie eines schweren Krankheitsverlaufs, der einen Krankenhausaufenthalt notwendig mache. Zu ihrer Verhinderung sei der sogenannte Booster, eine dritte Impfung einige Monate nach den ersten beiden, unbedingt erforderlich.

Empfohlene Maßnahmen

1. Massive Verstärkung der Impfkampagne und Einführung einer stufenweisen Impfpflicht

Um die hohen Coronavirus-Infektionszahlen in der Bevölkerung deutlich zu verringern, seien ungeimpfte Personen so schnell wie möglich zu impfen. Dazu müssten Ungeimpfte „motiviert oder in die Pflicht genommen werden“. Zudem sei es erforderlich, dass „vollständig Geimpfte“ möglichst nach 5 bis 6 Monaten erneut geimpft würden, damit sie weiterhin als „vollständig geimpft“ gelten könnten. Insgesamt hält es die Leopoldina für erforderlich, „dass bis Weihnachten neben Erst- und Zweitimpfungen rund 30 Millionen Drittimpfungen ermöglicht werden“.

Vulnerable Gruppen, wie kranke oder betagte Personen, müssten effektiver als bisher geschützt werden. Die professionelle Verantwortung und Vorbildfunktion einschlägiger Berufsgruppen für die Erreichung einer hohen Durchimpfungsrate müsse betont werden. Hier empfiehlt die Leopoldina im Einzelnen:

  •  die Einbeziehung anderer medizinischer Berufsgruppen in die Impftätigkeit (Apotheker, Amtsärzte, Zahnärzte, Pflegekräfte und Hebammen), ggf. mit fachlicher und logistischer Unterstützung der Bundeswehr, des THW und anderer anerkannter privater Hilfsorganisationen in der Katastrophenvorsorge;
  • die flächendeckende Wiedereinrichtung von Impfzentren mit langen Öffnungszeiten;
  • eine weitere Verstärkung „aufsuchender Impfangebote” an Orten mit hohem Personenaufkommen (z.B. Bahnhöfe, Ämter, Einkaufszentren), an sozialen Brennpunkten, in Seniorenheimen sowie für Personen, die sich vornehmlich im häuslichen Bereich aufhalten;
  • die rasche Einführung einer berufsbezogenen Impfpflicht für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und medizinische Fachberufe sowie weiterer Multiplikatorengruppen;
  • die Vorbereitung zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht unter Berücksichtigung der dafür erforderlichen rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen.

2. Deutliche Kontaktreduktionen

Über die mittel- und langfristig wirksame Erhöhung der Impfquote hinaus sei es dringend notwendig, zusätzliche sofort wirkende Maßnahmen umzusetzen. Zur Eindämmung des Infektionsgeschehens böten sich zwei Optionen an – mit deutlich unterschiedlichen Erfolgsaussichten:

Option 1: Sofortige umfassende Kontaktbeschränkungen, zumindest in Regionen mit hoher Inzidenz

Unmittelbar wirksam sei es aus medizinischer und epidemiologischer Sicht, die Kontakte von Beginn der kommenden Woche an für wenige Wochen deutlich zu reduzieren. Aufgrund der nachlassenden Immunität müssten diese Maßnahmen vorübergehend auch für Geimpfte und Genesene gelten, die in dieser Zeit eine Auffrischungsimpfung erhalten müssten. Zu erwägen wären folgende Maßnahmen:

  • Strikte Kontaktreduktion im privaten Bereich, in Innenräumen und in Situationen, in denen viele Menschen zusammenkommen (z.B. Bars, Clubs, Veranstaltungen).
  • Wo sich persönliche Kontakte nicht vermeiden lassen, plädiert die Leopoldina für eine generelle Maskenpflicht – idealerweise mit FFP2-Masken – sowie eine konsequente Durchsetzung der 2G-Regeln und Anwendung der AHA+L-Regeln unvermeidlich.

Diese Option würde nach Einschätzung der Nationalen Akademie der Wissenschaften bei stringenter Umsetzung den exponentiellen Anstieg der Neuinfektionen in der 4. Welle beenden und somit auch der Überlastung des Gesundheitssystems entgegenwirken.

Option 2: Strikte, kontrollierte und sanktionierte 2G-Regelung

Eine konsequente Durchsetzung der 2G-Regeln (Zutritt nur für Geimpfte und Genesene) könne ebenfalls ein wirksames Mittel zur Zurückdrängung des Infektionsgeschehens sein. Dies werde allerdings weniger effektiv als Option 1 sein, weshalb mit einem längeren Verlauf der 4. Welle und einer erhöhten Zahl von Todesopfern gerechnet werden müsse. Und auch hier müsse die Zeit für eine massive Erstimpfungskampagne und Auffrischungsimpfungen genutzt werden. „In diesem Sinne sollten folgende Maßnahmen umgesetzt werden“:

  • Streng kontrollierte 2G-Regelung und eine Anwendung der AHA+L-Regeln in öffentlich zugänglichen Innenräumen und bei Veranstaltungen, mit Ausnahme von Räumlichkeiten lebensnotwendiger Infrastrukturen (Supermärkte, Arztpraxen etc.). Wenn eine Einhaltung der 2G-Regeln nicht garantiert werden könne, müssten Veranstaltungen abgesagt werden;
  • Generelle Maskenpflicht mit FFP2-Masken in für die Öffentlichkeit zugänglichen Innenräumen auch unter 2G-Regeln;
  • Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte, auch im Privatbereich.

3. Berücksichtigung der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen:

Bei Kindern und vielen Jugendlichen sei das Virus stark verbreitet. Generell müsse betont werden, dass es vorrangig den Erwachsenen obliege, sich und andere durch eigenes Impfen vor Schaden zu schützen. Aber selbst wenn jüngere Kinder im Vergleich zu Erwachsenen nur selten schwer erkranken würden, ließen die hohen Inzidenzen auch unter ihnen die Fälle von schwereren Erkrankungen zunehmen.

Zudem trage die Zahl der Infektionen in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen zum Infektionsgeschehen bei. Von den entsprechenden Folgen in Familie und Gesellschaft seien Kinder wiederum indirekt schwer betroffen, etwa wenn nahe Angehörige erkranken oder versterben, ihr soziales Leben aufgrund eines Lockdowns drastisch eingeschränkt werde oder erneut Schulen und Kitas geschlossen werden müssten. Unter Berücksichtigung der aufgeführten direkten und indirekten Folgen hält die Leopoldina eine Impfung von Jugendlichen und Kindern ab fünf Jahren mit einem geeigneten Impfstoff für empfehlenswert.

Zudem empfiehlt die Leopoldina folgende Maßnahmen:

  • eine ausnahmslose Maskenpflicht für Lehrer und Schüler aller Klassenstufen während des gesamten Aufenthalts in den Schulgebäuden;
  • regelmäßige Tests (mind. 3x wöchentlich) zur frühen Erkennung und Vermeidung von Übertragungen;
  • ein Vorziehen der Weihnachtsferien.

Eine Aussetzung der Präsenzpflicht und ein Wechselunterricht an Schulen sowie die Schließung von Kitas sollten möglichst vermieden werden.

Aktuelle rechtliche Rahmenbedingungen

Die jüngste Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) und das Auslaufen der „epidemischen
Lage nationaler Tragweite“ hätten erhebliche rechtliche Änderungen für die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bewirkt. Problematisch sei dabei, dass auch bei extrem hohen Inzidenzwerten und Hospitalisierungsraten bestimmte generelle Maßnahmen nicht mehr ergriffen werden dürfen. Dies gelte für die flächendeckende Untersagung von Veranstaltungen, Ansammlungen, Aufzügen, Versammlungen sowie religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften, Reisen, Übernachtungsangeboten (Hotels), Gastronomie sowie von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel und anderem.

Diese zwar eingriffsintensiven, aber schnell umsetzbaren und effektiven Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung werden erst wieder möglich, wenn das Gesetz in dem Sinne geändert wird, dass diese Maßnahmen wieder generell zur Verfügung stehen, oder der Bundestag erneut die epidemische Lage nationaler Tragweite erklärt.“

Tue der Bundestag das nicht, „enden viele Maßnahmen der Pandemiebekämpfung nach dem IfSG am 19.3.2022“. Der Bundestag könne diese Frist durch einen Beschluss einmalig um drei Monate verlängern. Das schwerwiegendste Defizit des novellierten IfSG sieht die Leopolidina darin, dass keine Kriterien (Inzidenzwerte o.ä.) mehr aufgeführt seien, wann die Länder bestimmte Maßnahmen ergreifen dürfen oder müssen. Vor diesem Hintergrund bleibe für eine bundesweite Koordinierung von Maßnahmen nur die Möglichkeit politischer Absprachen im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK).

Wertfragen

Dass die gerade anstehenden Entscheidungen sehr komplexe und mit manchen Unsicherheiten behaftete Abwägungen zwischen Freiheitsansprüchen und Schutz vor schweren Covid-19-Erkrankungen bzw. vor anderweitiger Unterbehandlung aufwürfen, sei allgemein bekannt und viel diskutiert. Auch dass es dabei um facettenreiche Individualfreiheiten gehe – zum einen auf unbeschränkte soziale, kulturelle, touristische oder wirtschaftliche Begegnungen und Interaktionen, zum anderen auf persönliche und elterliche Entscheidungshoheit in Impffragen. Offenkundig sei auch, dass der gesellschaftlich realisierte Grad des Impfschutzes ein Kollektivgut sei, von dem alle Individuen, auch die Impfverweigerer profitieren würden, das sich aber nur gemeinschaftlich verwirklichen lasse. Und schließlich seien dabei zeitliche Dimensionen, besondere Verletzlichkeiten, etwa von Kindern und Jugendlichen, und besondere
Rollenverantwortungen, wie sie Berufsgruppen in den Bereichen Medizin, Pflege und Erziehung haben, zu berücksichtigen.

Wenn die Unterzeichner dieser Ad-hoc-Stellungnahme vor dem Hintergrund der skizzierten Wertfragen für Freiheitseinschränkungen in Form von Impfpflichten und drastischeren Kontaktbeschränkungen plädierten, dann geschehe dies in der Überzeugung, dass die hierzu führenden Abwägungen im Einklang mit Grundwerten und Prioritäten stehen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit guten Gründen geteilt würden. Auch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht sieht die Leopoldina unter den aktuellen, vor einem Jahr so nicht vorhersehbaren Umständen ethisch-moralisch und rechtlich als gerechtfertigt an: „als letzte Maßnahme, um eine Impflücke zu schließen“, die sich nach Auffassung der Leopoldina „augenscheinlich anders nicht beheben“ lasse. Nur so könnten die Bürger „vor weiteren desaströsen Folgen bewahrt werden“.

Quelle

Hier kann die 10. Ad-hoc Stellungnahme der Leopoldina in Gänze nachgelesen werden.

*

Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:

Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR