Russischer Revisionismus – Gedanken zum Einmarsch der Russen in die Ukraine

Von Herwig Schafberg, Sa. 12. Mrz 2022, Titelbild: Handelsblatt-Screenshot

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff Russlands auf die Ukraine und mit ihm eine Leidensgeschichte, die längst nicht zu Ende ist. So schwer es emotional sein mag, den kriegerischen Ereignissen auf den Grund zu gehen, soll hier doch versucht werden, rational zu erfassen, was den russischen Präsidenten Putin zum Krieg bewogen haben und was es bewirken könnte. Ein Versuch von Herwig Schafberg.

Putin sinnt schon länger unverhohlen auf Revision der Verhältnisse seit der Auflösung der Sowjetunion

Russland sei durch die NATO-Osterweiterung bedroht, heißt es aus Moskau, als habe man dort einen triftigen Grund zur Sorge, dass nach dem Feldzug Napoleon Bonapartes und Adolf Hitlers „Unternehmen Barbarossa“ eine weitere Invasion aus dem Westen drohe. Was auch Strategen in Washington sowie anderen westlichen Hauptstädten zur Erweiterung der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft und insoweit zur Eindämmung Russlands bewogen haben mag, ändert nichts an der Tatsache, dass es osteuropäische Regierungen waren, welche für ihre Staaten in der NATO Schutz vor einer möglichen Bedrohung durch Russland suchten.

Es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass die russische Staatsführung sich durch die Osterweiterung der NATO weniger bedroht als viel mehr im Bestreben nach Ausdehnung ihres beengten Einflussbereiches behindert sieht  – vor allem im Hinblick auf jene Gebiete, die durch die Auflösung der Sowjetunion verloren gingen. Das wäre „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen“, behauptet der russische Staatspräsident Putin und sinnt im Kreml schon länger unverhohlen auf Revision dieser Verhältnisse.

Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion

Hatten sich zunächst die ostmittel- sowie südosteuropäischen Staaten 1989 aus der Abhängigkeit von der schwächelnden Sowjetunion gelöst, wurde der russische Einflussbereich durch die Auflösung der Sowjetunion und die Verselbständigung der drei baltischen Staaten, Belarus sowie der Ukraine 1991 auf die Grenzen zurückgedrängt, die Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Nordischen Krieg gegen Schweden und Katharina die Große in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts sowohl durch die polnischen Teilungen als auch in mehreren Kriegen gegen die türkischen Osmanen weiträumig nach Westen ausgedehnt hatten.

Die Russen mussten also nicht bloß damit fertig werden, dass mit dem Jahrzehnte lang gepriesenen Modell des Sozialismus kein Staat mehr zu machen war und dann die Entwicklung unter markt- ebenso wenig wie zuvor unter planwirtschaftlichen Bedingungen zu allgemeinem Wohlstand führte, sondern auch mit dem Verlust von Gebieten, in denen es wirtschaftlich günstige Entwicklungspotenziale und zwanzig Millionen russischsprachige Bürger gibt. Diese Gebiete hatten zwar schon in der sowjetischen Ära nominell eine eigenstaatliche Existenz gehabt, tatsächlich war dort aber im Großen und Ganzen nichts passiert, was die kommunistische Machtzentrale in der sowjetrussischen Hauptstadt Moskau nicht vorbestimmt hatte.

Militärische Interventionen zur Wahrung russischer Großmachtinteressen

Aus der Sowjetzeit übrig geblieben ist im besonderen die militärische Macht, von der die russische Staatsführung – kaum anders die sowjetischen Führer 1956 in Ungarn sowie 1968 in der Tschechoslowakei – massiv Gebrauch macht, um ihre Interessen im Innern – beispielsweise in Tschetschenien – und über die Staatsgrenzen hinaus gewaltsam zu vertreten: Etwa in Zentralasien, Kaukasien, Syrien sowie in der Ukraine.

Anders als die baltischen Staaten, die der EU sowie der NATO beitraten und sich insoweit verhältnismäßig sicher von Russland abgegrenzt haben, blieb Belarus im russischen Einflussbereich – und lange Zeit auch die Ukraine, bis dort 2014 mit der Maidan-Revolution ein Richtungswechsel vollzogen wurde und der Staat seither ebenso wie Georgien danach strebt, Mitglied der EU und der NATO zu werden. Wie Russland seinen Einfluss in den georgischen Teilrepubliken Abchasien sowie Südossetien militärisch verstärkt und deren Unabhängigkeit von Georgien 2008 anerkannt hatte, reagierte es auf den Richtungswechsel in der Ukraine 2014 mit der Besetzung sowie Annexion der strategisch wichtigen Halbinsel Krim und der forcierten Unterstützung von prorussischen Separatisten in zwei ukrainischen Ostgebieten, deren Unabhängigkeit es inzwischen anerkannte.

Glaubt man dem seinerzeit stellvertretenden Außenminister Polens, dann hatte Putin ihm 2008 eine Teilung der Ukraine zwischen Polen und Russland vorgeschlagen. Da die polnische Regierung aber nicht Besitzansprüche auf Gebiete stellen mochte, die zwischen den Weltkriegen zu Polen gehört hatten, gab sie Putin keinen Vorwand, um die restliche Ukraine unter russischen „Schutz“ vor den Polen und deren NATO-Bündnispartnern zu stellen.

Stattdessen sind es nun „Neonazis“, „Terroristen“ und „Rauschgiftabhängige“, die angeblich in der Ukraine an der Macht sind und Putin als Vorwand zur militärischen Intervention dienen,  um so das Land von denen zu „befreien“.

„Völkische“ Beweggründe zur Intervention in der Ukraine

Putin will aber vor allem verhindern, dass die Ukraine sich der NATO anschließt und sich infolgedessen russischen Einflüssen noch weiter entzieht. Mit Verweis auf die gemeinsame Geschichte von (Groß-) Russen und Ukrainern – auch Kleinrussen genannt – sowie deren ethnokulturelle Gemeinsamkeiten spricht Putin Letzteren eine eigene nationale Identität ebenso ab wie dem ukrainischen Staat das Recht auf Souveränität.

Wenn er die Ukraine dauerhaft bei Russland halten will, geht es ihm vermutlich nicht bloß um die Lösung eines geopolitischen, sondern auch eines bevölkerungspolitischen Problems; denn Russen im ethnischen Sinne weisen eine sinkende Geburtenrate auf und werden langfristig im Verhältnis zur Gesamtheit nichtslawischer, zumeist muslimischer Volksgruppen in Russland eine Minderheit sein. Im Hinblick darauf könnten die slawischen sowie christlichen „Brudervölker“ Belarus‘ mit seinen mehr als zehn Millionen und der Ukraine mit ihren über vierzig Millionen Einwohnern dem Kremlchef als Gegengewicht willkommen sein.

Vielleicht dachten die Russen auch an diese Aussicht, als sie eine Öffnung „humanitärer Korridore“ nur unter der Voraussetzung zulassen wollten, dass die Ukrainer aus den belagerten Städten ihres Landes in die russische Föderation oder nach Belarus gebracht werden und nicht Sicherheit in der Europäischen Union suchen; denn wenn die Fluchtbewegungen in Länder der EU unvermindert weitergehen, werden es möglicherweise bald zehn Millionen Ukrainer – etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung – sein, die ihr Land in westliche Richtung verlassen haben. Und wie viele der Geflüchteten nach dem Krieg zurückkehren werden, ist ungewiss.

Stärkung des ukrainischen Nationalbewusstseins

Auch wenn die Russen den Krieg gewinnen und die Ukraine auf Dauer unter ihre Kontrolle bringen sollten, bleibt es fraglich, inwieweit es ihnen im Laufe der Zeit gelingen könnte, die kriegsgeplagte Bevölkerung dieses Landes für sich einzunehmen und sie von ihrem nationalen Eigensinn abzubringen; denn durch eine gemeinschaftliche Bewältigung von Herausforderungen im Krieg entstünden dort Bindungen, aber auch kollektive Erinnerungen, welche die geistig-kulturellen Grundlagen der ukrainischen Nation vermutlich für viele Generationen stärken würden, schreibt der Historiker Yuval Noah Harari:

Nationen sind letztlich auf Erzählungen aufgebaut. Mit jedem Tag, der vergeht, kommen mehr Erzählungen hinzu, die die Ukrainer nicht nur in den bevorstehenden dunklen Tagen, sondern auch in den kommenden Jahrzehnten und Generationen erzählen werden… Auf lange Sicht zählen diese Geschichten mehr als Panzer.“

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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.

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