Von Jürgen Fritz, Mo. 21. Mrz 2022, Titelbild: Servus TV-Screenshot
Ziel des russischen Angriffskrieges sei die Unterwerfung und Besetzung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes, die Auslöschung der nationalen und kulturellen Identität der Ukraine, inklusive der physischen Vernichtung ihrer Eliten, soweit sie Widerstand leisten, sagt der Militärstratege Gustav Gressel, der letzte Woche eine der tiefgehendsten Analysen vorlegte.
1. Zur Person
Gustav Gressel absolvierte die (mit akademischem Grad abschließende) Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, studierte dann Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Von 2003 bis 2006 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Beauftragten für Strategische Studien im Büro für Sicherheitspolitik des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport in Wien und von 2006 bis 2014 dort Referent für Internationale Sicherheitspolitik und Strategie.
Im Dezember 2014 schloss Gustav Gressel sein Doktorat in Strategischen Studien an der Zrinyi Miklos National Defence University in Budapest (heute National University of Public Service) ab. Nebenbei nahm er Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Internationalen Institut für Liberale Politik Wien bei Erich Reiter wahr.
Gressel ist seit November 2014 Senior Policy Fellow im Wider Europe Programm des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Von Juni bis Dezember 2019 leitete Gressel interimistisch das Wider Europe Programm. Er arbeitet auch mit anderen Berliner Think Tanks zusammen und publiziert für die Konrad-Adenauer Stiftung, das Zentrum Liberale Moderne (kurz LibMod), die Böll Stiftung oder der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Gustav Gressel ist Autor zahlreicher Beiträge zu Themen der Russlandpolitik, der Rüstungskontrolle, der Proliferation, des Militärwesens sowie der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik. Hier nun seine Analyse.
2. Was sind die russischen Kriegsziele?
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zielt nach Ansicht von Gressel auf die Unterwerfung und Besetzung des gesamten ukrainischen Staatsgebietes. Primäre Absicht des Angriffskrieges sei „die Auslöschung der nationalen und kulturellen Identität der Ukraine.“ Dies schließe die physische Vernichtung ihrer politischen, intellektuellen, journalistischen, kulturellen und administrativen Eliten und ihrer Armee ein, soweit sie Widerstand leisten.
In der anfangs offen propagierten „Demilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine sieht der Politikwissenschaftler eine kaum verhüllte Ankündigung dieser Ziele. Zahlreiche Verhaftungen von ukrainischen Vertretern von Verwaltung und Zivilgesellschaft in Cherson sowie die Werbung für die Ausstellung russischer Pässe in besetzten Gebieten seien ein klarer Hinweis auf die imperialen und kolonialen Ziele Russlands.
„Das langfristige Ziel des Kremls, die ukrainische geistige Elite flächendeckend zu vernichten, ist nicht ohne die Einrichtung von Konzentrationslagern zu erreichen. Es sollte insbesondere deutschen Entscheidungsträgern klar sein, was der ukrainischen Gesellschaft im Falle der Niederlage droht.“
Russland versuche durch blanken Terror die ukrainische Gesellschaft von der Unterstützung des Widerstandes abzubringen und zu einer Akzeptanz russischer Herrschaft zu zwingen. Dazu gehöre das gezielte Bombardement ziviler Einrichtungen – Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime – sowie Verhaftungen, Erschießungen und Erniedrigungen einschließlich Vergewaltigungen in den von russischen Truppen besetzten Gebieten. Der Angriff auf die besonders schwachen und ungeschützten Teile der Gesellschaft (Frauen, Kinder, Kranke, Alte) sei dabei gezielt gewählt, um zu demonstrieren, dass die ukrainische Armee ihre Bürger nicht schützen könne, so Gressel. Niemand solle im Irrglauben sein, dass es sich beim Bombardement von Geburtskliniken und Schulen um „Versehen“ handele.
Sollte Russland in diesem Krieg als militärischer Sieger hervorgehen, sei nicht nur in der Ukraine mit einer Terrorherrschaft zu rechnen, wie sie es seit dem Vormarsch der Wehrmacht in dieses Gebiet nicht mehr gegeben habe. Eine Flüchtlingswelle, die – wenn man die Zahlen aus dem Donbas auf die gesamte Ukraine hochrechne – weit über die 10 Millionen gehen könne, sei dann noch das geringste Problem Europas.
Russland werde nicht nur in der Ukraine eine gegen die NATO gerichtete Militärstruktur aufbauen. Putin werde jede Art des Widerstandes gegen ihn – seien es die Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenen oder Bürgerproteste in russischen Großstädten – den USA und der NATO in die Schuhe schieben. Da man aber angesichts der russischen Brutalität mit weiterem bewaffneten Widerstand in der Ukraine rechnen müsse, sei davon auszugehen, dass Russland den Westen dafür verantwortlich mache und ihn durch militärischen Druck, inklusiver nuklearer Drohungen, einzuschüchtern und abzuschrecken versuchen werde, sich nicht „in die inneren Angelegenheiten Russlands“ einzumischen.
Dass auch nach einem militärischen Sieg in der Ukraine noch erhebliche Teile der russischen Armee, der Nationalgarde und des FSB in der Ukraine stationiert bleiben müssten, um die eroberten Territorien zu beherrschen, sieht der Militärexperte als sicher an. Diese Teile würden dann systematisch in Kriegs- und Menschheitsverbrechen involviert. Damit würden sie wiederum an das Regime gebunden, da ihnen sonst der Prozess drohe.
Und: „Die russischen Truppen kehren verroht aus der Ukraine nach Russland zurück.“ Das wiederum ziehe eine weitere Steigerung der inneren Repression in Russland und eine Militarisierung seiner Außenpolitik nach sich.
Europa werde keinen „stabilen“ Kalten Krieg ernten, „wie wir ihn aus den 1970er und 1980er Jahren in Erinnerung haben“. Vielmehr werde er den instabilen 1940ern und 1950ern gleichen, als Stalin die neu eroberten Territorien in das sowjetische Imperium zwang, jeden Widerstand brach und mit der Berlin-Blockade die Grenzen seiner Macht austestete. Es sei dabei keineswegs sicher, dass sich alle daraus erfolgenden Krisen friedlich lösen und entschärfen lassen, so Gressel.
3. Nukleare Eskalation?
Moskaus Ankündigung, seine Nuklearstreitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft zu versetzten, habe im Westen für einige Verunsicherung gesorgt. Dabei handele es sich um nichts anderes als psychologische Kriegsführung. Es gebe keinerlei Anzeichen dafür, dass die russischen Nuklearstreitkräfte Schritte unternehmen, die über den regulären Übungsbetrieb (in den letzten Wochen haben die „Grom 2022“-Übungen der Nuklearstreitkräfte stattgefunden) hinausgehen. Sowohl ein Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine als auch gegen den Westen seien derzeit höchst unwahrscheinlich.
Zumal das russische Militär in der Ukraine durch thermobarische Waffen ähnliche Zerstörungs- und Einschüchterungswirkung erzielen könne, ohne sich das internationale Stigma eines Atomwaffeneinsatzes zuzuziehen. Aufgrund der westlichen Sanktionen sei Russland auf die neutrale Haltung von Staaten im Rest der Welt (Indien, Vietnam, Israel, etc.) angewiesen. Ein Atomwaffeneinsatz würde das ohne zusätzlichen militärischen Nutzen gefährden. Zudem entstehe das Problem der radioaktiven Rückwirkungen auf Russland.
Auch den Einsatz nuklearer Waffen gegen die NATO hält Gressel für unwahrscheinlich. Dieser hätte den sofortigen Eintritt des Bündnisses in den Krieg zu Folge. Das könne sich Russland militärisch nicht leisten, da seine Armee zurzeit in der Ukraine gebunden sei. Weite Teile Russlands, besondere der fernöstliche Militärbezirk seien militärisch entblößt. Es müsste, um eine Eroberung des eigenen Staatsgebietes auszuschließen sofort auf die Ebene des strategischen Nuklearkrieges eskalieren, was einem Selbstmord gleichkäme.
Putin und der russische Militärgeheimdienst (GU, vormals GRU) fürchten nach der Einschätzung von Gustav Gressel die strategische und nukleare Überlegenheit der USA. Die Einsatzbereitschaft amerikanischer strategischer Atomwaffenträger sei in der Praxis um vieles höher als das russische. Der Krieg in der Ukraine habe eindrucksvoll unter Beweis gestellt, wie tief amerikanische Nachrichtendienste Einblick in die operative Planung Russlands haben. „Russland könnte also die USA kaum mit einem nuklearen Angriff überraschen. In der russischen Denke könnten die USA bei Anzeichen russischer Vorbereitungen einen präventiven Atomschlag anordnen, der das russische Potential weitgehend ausschaltet. Das US-Raketenabwehrsystem würde dann einzelne russische Interkontinentalraketen abfangen.“
Dass dieses Szenario auf einer Überschätzung der amerikanischen Entschlossenheit und der amerikanischen technischen Fähigkeiten beruhe, tue hier wenig zur Sache. Denn solche Szenarien seien mittlerweile zur Glaubenswelt im Kreml geworden, so wie man glaube, Ukrainer und Russen wären ein Volk. Gressel hälte es daher für „sehr unwahrscheinlich, dass Russland hier zu nuklearen Mitteln greifen würde.“
Nach geltenden russischen Prinzipien der nuklearen Abschreckung und impliziten Erfahrungen aus russischen Manövern, Fachveröffentlichungen und Diskussionen sei die Option der nuklearen Eskalation vielmehr für den Fall einer direkten militärischen Konfrontation Russlands mit der NATO vorbehalten. Waffenlieferungen, Sanktionen und andere Formen der Unterstützung der Ukraine seien weit unterhalb der nuklearen Reizschwelle. „Nur wenn die NATO mit geschlossenen militärischen Formationen – etwa mehreren Panzerdivisionen – in den Krieg eingreifen würde und sich durch die daraus resultierende militärische Situation eine erste Gefahr für Kern-Russland entwickeln würde, wäre der Einsatz dieser Waffen eine realistische Option“, so Gressel.
Indes habe Russland erkannt, das die Furcht vor dem Atomkrieg das beste Mittel ist, die westliche Öffentlichkeit von einer Unterstützung der Ukraine abzuhalten, nachdem alle anderen Mittel der Informationskriegsführung und Meinungsbeinflussung versagt hätten. 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges herrsche auch in den Reihen der politischen Entscheidungsträger im Westen blanke Unwissenheit über alle Fragen nuklearer Abschreckung vor. „In diese Lücke stoßen die russischen Drohungen und Verunsicherungen – in diesem Stadium rein als psychologisches Druckmittel, nicht in der Substanz.“
Der einzige Einsatz von Massenvernichtungswaffen, der derzeit realistisch erscheine, wäre der Einsatz primitiver chemischer Kampfstoffe (Chlorgas etc.) oder radioaktiver Substanzen (radiologische Waffen), um der Ukraine einen Unfall im Bereich der Lagerung solcher Substanzen oder einen Anschlag in die Schuhe zu schieben. „Ziel wäre die Diskreditierung der ukrainischen Führung in der eigenen Bevölkerung und im Westen.“
4. Stand der Offensive zum 15.03.2022
Russland habe den Krieg als „spezielle militärische Operation“ begonnen mit dem Ziel, schnell die Hauptstadt Kiew und andere wichtige Städte einzunehmen und so eine Kapitulation der Ukraine zu erzwingen. Diese Phase des Krieges sei in den ersten Tagen des Krieges kläglich gescheitert. Die Russen hätten den den ukrainischen Widerstand komplett unterschätzt. Die Folgen dieser Fehlentscheidung wirkten sich bis heute militärisch aus.
Die innenpolitisch umstrittene Verwendung von Grundwehrpflichtigen und Reservisten sei bisher vermieden worden. Das gehe auf Erfahrungen des Tschetschenienkrieges zurück. Das Problem sei nun aber, dass sich dieses System zwar für „show of force“ Operationen oder zur Generierung von Truppen für koloniale Konflikte wie Tschetschenien oder Georgien eigne. Für den großen Krieg hoher Intensität wie in der Ukraine sei dieses System aber wenig geeignet.
Die Organisation der russischen Armee erachtet Gressel als zu umständlich in der taktischen Führung und Koordination. Wichtige Lageinformationen oder Befehle würden dadurch übersehen oder zu spät gegeben. Schlechte Funkgeräte verstärkten das Problem. Deswegen müssten kommandierende Generäle nach vorne, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Damit aber würden sie ein leichtes Ziel für Attacken des Gegners. Die Moral der Truppe und das Vertrauen in die Führung habe unter den falschen Kriegsvorwänden („vielen Soldaten wurde nicht gesagt, dass sie in einen echten Krieg marschieren“) stark gelitten und werde durch das organisatorische Chaos weiter verstärkt.
Die Koordinationsschwierigkeiten seien insbesondere bei der Fliegerabwehr groß. Ohne klare Kommandostrukturen „wissen die russischen Fliegerabwehrkräfte nicht, welche Flugbewegungen eigene sind, und verhalten sich dementsprechend zurückhaltend (und werden dann von ukrainischen Bayraktar Drohnen angegriffen)“. Die russische Luftwaffe ihrerseits könne kaum effektive Luftnahunterstützung fliegen aus Furcht, von eigenen Fliegerabwehrsystemen abgeschossen zu werden. Da Russland und die Ukraine dieselben Systeme mittlerer Reichweite einsetzten, müsse sie auch bei Angriffen auf Radar- und Feuerleitstellungen Vorsicht walten lassen, um nicht die eigene Fliegerabwehr auszuschalten. „All diese Schwächen kommen den ukrainischen Verteidigern zugute, die sich taktisch sehr geschickt auf ihren Gegner einstellen.“
Der Zustand des Materials (Räder, Ketten, Schmiermittel in Motoren und Getrieben, etc.) sei schlecht und führe zu hohen technischen Ausfällen bei den Russen. Hinzu komme, dass wohl viele zum Vertragsabschluss gezwungene „Freiwillige“ nach Überschreiten der Grenze desertiert seien. Selbst mit einem massiven Kräfteeinsatz „konnte die russische Armee keines ihrer anfänglich gesteckten Ziele erreichen“. Es reiche zur Fortsetzung des Krieges, aber nicht um unmittelbar eine strategische Entscheidung zu erzwingen.
5. Neue Kräfte?
Für Moskau ist es daher nach Gressels Einschätzung besonders wichtig, neue Kräfte aufzubieten. Das Zuführen von Wagner-Söldnern (etwa 4.000) und angeworbenen Truppen aus dem Nahen Osten und Afrika könne die Lücken im russischen Kräftedispositiv nicht schließen. Dafür seien diese Kräfte entweder zu wenig (Wagner) oder in Kampfkraft, Ausbildung und Moral der Aufgabe nicht gewachsen (Kanonenfutter aus Syrien).
Die Kriegspropaganda und das Schüren von Begeisterung für den Krieg liefen zwar auf Hochtouren. Das Regime sei aber, was den Einsatz von Grundwehrdienern angehe, noch vorsichtig, da eine Konfrontation breiter gesellschaftlicher Schichten mit der Realität des Krieges in der Ukraine erhebliche innenpolitische Risiken berge. Inwieweit die gegenwärtige Propaganda hier für die entsprechende Geschlossenheit sorgen könne, sei noch nicht abzusehen. „Eine volle Mobilmachung Russlands würde den Krieg zuungunsten der Ukraine entscheiden, aber womöglich auf Kosten der Regimestabilität in Moskau.“ Diese Fragen wäge Putin und die Regime-Entourage gerade ab, Ausgang ungewiss.
Als entscheidend für die Frage, ob Russland im gegenwärtigen Rahmen den Krieg wird fortsetzen können, sieht der Militärexperte den 1. April 2022 an. Dann „rücken nicht nur hunderttausende Wehrpflichtige in die Armee ein, sondern scheiden auch ebenso viele wieder aus“. Ab April sei also mit einer qualitativen und quantitativen Verbesserung der russischen Lage zu rechnen.
Das Ziel des Westens müsse es nach Gressners Expertise daher sein, in der noch verbliebenen Zeit die ukrainische Armee soweit zu unterstützen, dass die diesem neuen Angriff standhalten könne und „durch schnelle, harte und breite Sanktionen die russische Wirtschaft vor diesem Datum lahmzulegen“.
6. Ukrainische Verteidigung: äußerst tapfer, taktisch und operativ versiert
Die ukrainischen Verteidiger haben sich nicht nur nach Gressels Einschätzung nicht nur als äußerst tapfer, sondern auch als taktisch und operativ versiert und flexibel verteidigend erwiesen. Dass sie selbst nach 15 Tagen noch einsatzbereite Kampfflugzeuge und funktionsfähige Fliegerabwehrsysteme mittlerer Reichweite verfügen, übertreffe die positivsten Erwartungen. Aber auch die Ukrainische Armee habe natürlich Verluste hinnehmen müssen und der Verbrauch von Munition werde mit zunehmender Dauer des Krieges zum Problem.
Die ukrainische Armee verfügte vor dem Krieg über etwa 70 Bataillone an Kampftruppen (Panzerkräfte, Mechanisierte Infanterie, Infanterie). Diese bildeten nach wie vor den harten Kern der Verteidigung an allen Frontabschnitten. Hinzu kamen etwa 50.000 Mann einberufene Reservisten und 100.000 Mann Territorialverteidigung, hinzu Freiwillige aus dem In- und Ausland. „Die ukrainischen Kräfte konnten also in den letzten Tagen stark anwachsen“, allerdings bestünden die frischen Kräfte aus leichter Infanterie. Diese könne den mechanisierten Kräfte Russlands nur dann standhalten, wenn sie verteidigungsgünstiges Gelände nützen könne und das heiße in diesem Fall Städte.
Die ukrainischen Verteidiger hätten das Problem, dass es mehr Raum als Kräfte gebe, um diesen abzudecken. Russische Truppen fänden daher immer wieder Lücken zwischen den ukrainischen Verteidigern, um an diesen vorbei in die Tiefe zu stoßen. Dann müssten die Ukrainer diesen den Nachschub abscheiden, und die eingedrungenen Spitzen mit mechanisierten Reserven vernichten. Dies sei besonders um Kiew und Tschernihiw recht gut gelungen. Allerdings koste es auch der Ukraine Kräfte und Material, insbesondere das ihrer mechanisierten Reserven.
So viele Panzerabwehrwaffen die Ukraine auch bekommen möge, allein aufgrund des Geländes sei eine rein infanteristische Verteidigung auf Dauer nicht durchhaltbar. Um die ukrainische Verteidigungsfähigkeit zu erhalten, sei ein Nachschub auch mit schwerem Gerät – Panzer, Artillerie, Schützenpanzer und der dazugehörigen Munition – dringend notwendig.
Selbiges gelte für die Luftverteidigung. „In der vergangenen Woche konnte die Ukraine der russischen Luftwaffe die höchsten Verluste seit dem zweiten Weltkrieg zufügen“. Allerdings habe das schlechte Wetter und die dicke Wolkendecke geholfen. Um Ziele identifizieren und angreifen zu können, mussten die russischen Piloten die Wolkendecke unterfliegen und kamen so in den Bereich der ukrainischen Luftabwehr, der es an schultergestützten Raketen (Stinger, Igla, und polnische Grom) nicht mangele. Nun mache sich aber ein Hochdruckgebiet über der Ukraine breit, und russische Flugzeuge könnten größere Höhen für ihre Angriffe nutzen.
Die Ukraine verfüge noch über einsatzfähige Fliegerabwehrraketensysteme mittlerer und großer Reichweite. Auch fliege die Luftwaffe Abfangeinsätze. Solange diese Waffensysteme eine Bedrohung auch für hochfliegende russische Flugzeuge darstellten, werde die russische Luftwaffe ihrerseits Systeme zurückhalten, die sie keinem großen Risiko aussetzen wolle. Die weitere Verfügbarkeit solcher Kampfmittel habe einen entscheidenden, unmittelbaren Einfluss auf die humanitäre Lage.
7. Militärhilfe: Was ist notwendig?
„Die ukrainische Armee braucht unsere unmittelbare Unterstützung: umfassend, unbürokratisch und sofort“, so der Sicherheitsexperte.
Kurzfristig implementierbare Hilfe bestehe vor allem im Überlassen von Ausrüstung, Gerät und Munition, die in der Ukraine keinerlei logistischen- oder Trainingsvorlauf benötigten. Von Kalaschnikow Sturmgewehren über RPG‑7 und Munition hinauf zu Kampfpanzern (T‑72, PT-91), Schützenpanzern (BMP‑1/2), Mannschaftstransportpanzer (MT-LB, BTR) finde sich vor allem in den Armeen unserer östlichen Verbündeten vieles, was die Ukraine brauchen und verwenden könne. Auch MiG-29 Kampfflugzeuge gehören dazu, wie finnische Buk-M1 und slowakische und griechische S‑300 und polnische und griechische 9K33 Osa Fliegerabwehrraketen.
Insbesondere Nachschub an gepanzerten Kampf- und Gefechtsfahrzeugen sei für den Erhalt mechanisierter Reserven wichtig. In erster Linie seien hier die östlichen Verbündeten Deutschlands gefragt. Allerdings müsse bei vielen Geräten aus NVA Bestand auch eine deutsche Exportgenehmigung eingeholt werden. „Deutschland sollte den NATO-Partnern, die ihre eigenen Armeen und Munitionsbestände durch diese Hilfslieferungen entblößen, direkt helfen, sowohl in der Nachbeschaffung, als auch durch Stationierung von Truppen zum Erhalt der örtlichen Sicherheit“ so Gressel,.
Weitere unmittelbar nützliche Ausrüstungsgegenstände seien Winteruniformen, Schutzwesten, Helme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildgeräte, verschlüsselte Funkgeräte, schwere Scharfschützengewehre, Panzerabwehrwaffen aller Art, Fliegerfäußte (MANPADS), Kleindrohnen mit Wärmebildgeräten, Dronenstörer, Panzerminen, Pionier- und Baugerät.
Einen nicht zu unterschätzenden Wert hätten die Weitergabe von Aufklärungsergebnissen, insbesondere nachrichtendienstliche Erkenntnisse, Lagebildinformationen aus Satellitenbildern, elektronischer Überwachung der russischen Kommunikation und Radarsignale, der Luftraumdaten insbesondere zu Frühwarnung vor Luftangriffen. Eine dementsprechende Verstärkung der Aufklärungstätigkeiten der NATO durch die Bundeswehr und den BND sei mit aller Kraft zu forcieren.
„Die Lieferung bewaffneter Drohnen und Munition für diese, sowie selbstzielsuchende Munition (loitering munition) wäre ein wirkungsvolles Mittel, die Reichweite der ukrainischen Artillerie zu steigern und der Ukraine zu ermöglichen, hochwertige Ziele im Rücken des Feindes (Reserven, Gefechtsstände, Nachschub, Belagerungs- und Raketenartillerie) anzugreifen.“
Allerdings habe Deutschland die vergangenen 20 Jahre mit fruchtlosen Debatten um ein Verbot solcher Waffen vergeudet. Solch ein Verbot sei von Anfang an unrealistisch gewesen und „fußte einzig und allein auf Wunschdenken, dass durch ‚Friedensforscher‘, die Abrüstungslobby und Politiker ohne militärische Kenntnisse perpetuiert wurde“. Deutschland habe hier nichts Verwertbares anzubieten. Man könnte allenfalls Finanzmittel für ihre Beschaffung aus anderen Quellen bereitstellen.
In schwedischer Strix Granatwerfermunition zur Panzerabwehr sieht Gressel eine wirkungsvolle Unterstützung für die ukrainische Infanterie im Ortskampf. Allerdings verfügten nur Schweden und die Schweiz über diese Munition.
Mittelfristig sei es mit alledem aber nicht getan. Der Krieg in der Ukraine werd deutlich länger dauern als ursprünglich angenommen, und eine militärische Besetzung der westlichsten Oblaste durch das russische Militär scheine derzeit kaum möglich. Es bietee sich also sowohl die Zeit, als auch die Möglichkeit, die Ukraine in technisch ausgereiftere Waffensysteme einzuschulen und diese auszuliefern. „In der Westukraine könnte man dafür auch die entsprechende Infrastruktur zur Wartung aufbauen. Würde man hierzu einmal die deutsche Bürokratie über Bord kippen“.
8. Was sollte die NATO tun?
Der Krieg in der Ukraine, der militärische Aufmarsch in Belarus und der Krim stellen nach der Einschätzung von Gressel auch eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der östlichen Nachbarstaaten Deutschlands dar. Von Russland gebe es bereits Drohungen, auch Flüchtende, Hilfslieferungen oder Waffentransporte anzugreifen, und nicht nur im Grenzgebiet sondern auch auf NATO-Territorium.
„Hätte die NATO bereits im Oktober angefangen, den russischen Truppenaufmarsch durch entsprechende eigene Verlegungen zu spiegeln, hätte man die russische Furcht vor einem Eingreifen des Westens als Druckmittel nutzen und so die russische operative Planung verkomplizieren, wenn nicht sogar vor einem Angriff abschrecken können“, so Gressel. Aber diese Chance sei verpasst worden.
Nun gelte es der Situation hinterherzulaufen und einen glaubwürdigen, abschreckungsfähigen Aufbau eigener Kräfte an der Ostflanke einzuleiten. Wichtig dabei: Es dürfe keine Grauzone entstehen, in der Russland eine Provokation lancieren könnte, ohne dass die NATO reagieren könnte. Auch sei die Sicherheit jener Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern (siehe oben) und sich dadurch entblößen, durch direkte Truppenstationierungen auszugleichen. Das müsse über das gegenwärtige Maß symbolischer Stationierungen hinausgehen. Die gesamte NRF (NATO Response Force) müsse jetzt vorwärts stationiert werden. Das deutsche Verteidigungsministerium habe lange versprochen, im Krisenfall bis zu divisionsstarke Kräfte bereitstellen zu können. Die Krise sei schon lange da.
Frankreich habe eine Staffel Kampfflugzeuge nach Polen verlegt. Die Luftwaffe der Bundeswehr könne das Gleiche tun, ein Geschwader wäre freilich besser.
Erst wenn die Grenze der NATO ein absolutes und glaubwürdiges Tabu für russische Angriffe darstelle – und das könne man nicht mit Worten, sondern nur mit militärischen Taten unterstreichen -, könne man die Tabuzone auf Grenzübergänge und Flüchtlingskolonnen jenseits der Grenze ausdehnen. Von da an kann man situativ, Schritt für Schritt, durch Ausrüstung und nachrichtendienstliche Unterstützung der Ukrainer die Handlungsfreiheit der russischen Luftwaffe einschränken.
Über eine Flugverbotszone zum gegenwärtigen Stand zu diskutieren sei dagegen sinnlos. Es fehlten die Kräfte, um diese überhaupt durchzusetzen. Auch politisch sei nicht zu erwarten, dass ein solcher Beschluss in der NATO einfach durchginge. Und selbst wenn, hätte Russland genügend Möglichkeiten, Flugzeuge der NATO vom Boden oder aus der Luft anzugreifen und somit die NATO wieder vor die Wahl zu stellen, entweder militärisch zu eskalieren oder klein beizugeben.
Aus diesen Gründen – man schlittere nicht so schnell in einen Atomkrieg – würde Russland eher konventionell eskalieren. „Wenn man aber einmal ein militärisch ernst zu nehmendes Streitkräftedispositv an der Ostflanke aufgestellt hätte, könnte man zumindest den öffentlichen Druck für eine Flugverbotszone bzw. ein Eingreifen gegen Russland diplomatisch ins Felde führen, um die russische Führung zu verunsichern und zu ernsthaften Verhandlungen zu bringen.“ Das Vorhandensein starker Kräfte allein erweitere bereits den eigenen diplomatischen Handlungsspielraum.
9. Sanktionen sollten die russische Wirtschaft so hart und so schnell wie möglich treffen und zum Erliegen bringen
Das russische Kalkül folge gegenwärtig einzig und allein der militärischen Logik. Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen müssten daher zeitlich und in der Intensität an die militärische Zeitleiste angepasst werden. Das Postulat, Sanktionen müssten langfristig angelegt sein und nachhaltige Wirkung entfalten ist aus Gressels Sicht fehl am Platz. Es sei Putin egal, was in fünf Jahren mit der russischen Wirtschaft passiere. Sein Entscheidungshorizont gehe kaum über den ersten April hinaus.
Der Hauptzweck von Sanktionen müsse in dieser Situation sein, die russische Wirtschaft so hart, so schnell und so breit wie möglich zum Erliegen zu bringen. „Ein vor dem ersten April einsetzender Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und der Staatsfinanzen würde die oben beschriebene Ausweitung des Krieges durch Russland schwer bis unmöglich machen. Die innenpolitischen Folgen wären zu hoch.“ Diesem Ziel seien alle anderen Maßnahmen unterzuordnen.
Dafür müssten Sanktionen nicht langfristig durchhaltbar sein. Ein komplettes Öl und Gasembargo gegen Russland könnte „für die Dauer der Kampfhandlungen“ verhängt werden. Öl und Gasexporte seien die wichtigsten Einnahmen und Devisenquellen des russischen Staates. Russland könne seine Energieexporte nicht so schnell diversifizieren. Gemeinsame Gas- und Öleinkäufe durch die Kommission (ähnliche Instrumente gibt es bei Kernbrennstäben) würden die Gasbeschaffung für kaufkraftschwächere Staaten erschwinglich machen.
Wichtig sei auch, dass alle bisherigen Sanktionen und Einschränkungen auf Russland und Belarus ausgedehnt werden, um ein Umgehen der Sanktionen über die belarussische Kolonie zu verhindern.
Eine Ausweitung und Vertiefung der Bankensanktionen, etwa das Verbot in Euro zu handeln und wechselseitig Dependenzen zu unterhalten, müsse rasch ergriffen werden. Ebenso sollten exterritoriale Sanktionen, insbesondere Druck auf chinesische und indische Banken, sich vom russischen Markt zurückzuziehen, ausgeweitet werden.
10. Fazit
Gustav Gressels Analyse mündet in dem Satz: „Wenn wir heute nicht alles tun, um den Abwehrkampf der Ukraine zu unterstützen, werden wir morgen für uns kämpfen müssen.“
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Hier kann Gressels Analyse in voller Länger nachgelesen werden:
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