Die Rede, die den Bundespräsidenten zum Kochen brachte

Von Jürgen Fritz, Sa. 9. Nov. 2024, Titelbild: YouTube-Screenshot BILD

Feierlicher Festakt zu „35 Jahre Friedliche Revolution“ im Schloss Bellevue. Als Festredner geladen der Schriftsteller Marko Martin. Und der macht etwas, was so wohl niemand erwartet hatte. Er liest der SPD, der deutschen Ost-Politik, den Pseudo-Friedens-Predigern in Ost und West heftig die Leviten – und schließlich auch sehr deutlich dem Hausherrn selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Nach Martins Rede rastet dieser förmlich aus.

Steinmeiner hat ziemlich die Fassung verloren, ist wutenbrannt auf mich zugestürmt

Marko Martin berichtet: „Frank-Walter Steinmeier ist wutentbrannt auf mich zugestürmt, er hat ziemlich die Fassung verloren. (…) Steinmeier warf mir vor, ihn zu diffamieren. Offensichtlich fühlte er sich persönlich von meinen Worten getroffen.“ Augenzeugen berichten, dass Steinmeier auch von Umstehenden, wie Ex-Stasi-Unterlagen-Behörden-Chefin Marianne Birthler (76), nicht zu beruhigen gewesen sei. Schon während der Rede atmete Steinmeier schwer, kaute mit dem Kiefer, musste schwer an sich halten, um seine Gefühle und sich im Griff zu behalten. Der Bundespräsident habe nach Martins Rede sicht- und hörbar die Contenance verloren. Steinmeier habe dem Schriftsteller an den Kopf geknallt, er und „die Intellektuellen“ hätten keinen Schimmer davon, wie schwer der Job von Politikern sei. Was er hinter den Kulissen nicht alles versucht habe. Martin bestätigte die Augenzeugenberichte.

Ausschnitte aus Marko Martins Rede

»Sehr geehrter Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren – vor allem aber hochverehrte polnische Gäste, darunter auch Protagonisten der Solidarność-Revolution und der Mit-Initiator des Streiks auf der Danziger Werft: Ohne Ihren Mut hätte es überhaupt kein „1989“ gegeben. Da Sie bei dem heute anschließenden, ausschließlich deutschen Panel anscheinend nicht dazu geladen sind, deshalb von hier aus ein ganz herzliches Danke, Dziekuje bardzo!

(…) Millionen von DDR-Bürgern waren jedenfalls damals nicht auf der Straße gewesen, sondern hatten quasi hinter den Wohnzimmergardinen abgewartet – was im Übrigen kein Werturteil ist, sondern lediglich ein quasi nachgetragener Fakten-Check, der so manch fortwirkende Mentalitäten erklärt. (…)

Vielleicht werden sich jetzt manche fragen, ob ausgerechnet zum 35. Jahrestag einer friedlichen und erfolgreichen Revolution ein solcher Tenor angemessen sei. Gegenfrage: Wäre es etwa „angemessen“, die Tatsache zu beschweigen, dass bei den letzten Landtagswahlen in ostdeutschen Ländern zwei illiberale Parteien Erdrutschsiege einfahren konnten, die eine rechtsextrem und beide offen Putin-affin und infamste Kreml-Propaganda verbreitend, was jedoch zumindest im Fall der autoritären Wagenknecht-Sekte die beiden großen demokratischen Parteien bei ihren diversen Verhandlungen nicht sonderlich zu stören scheint?

(…) Doch weshalb plötzlich auch diese Inflationierung des Friedensbegriffs, obwohl die übergroße Mehrheit der in der DDR aufgewachsenen Jugendlichen und Männer einst den Kriegsdienst ebenso wenig verweigert hatte wie zuvor die Teilnahme am Wehrkundeunterricht in der Schule, die vormilitärische Lager-Ausbildung in der Lehrzeit und späterhin die Übungen der sogenannten „Betriebskampfgruppen“? Wirkt hier womöglich noch immer jene Regime-Propaganda nach, die „Frieden“ nur dann gewährleistet sah, wenn es den Machtinteressen des Kreml diente, während das Verteidigungsbündnis der Nato als „imperialistischer Kriegstreiber“ verleumdet wurde?

(…) So bezeichnete etwa im Jahr 1982 Egon Bahr (SPD) in der Zeitschrift „Vorwärts“ Solidarność gar als „Gefahr für den Weltfrieden“. Eine wahnwitzige Infamie, welcher der Dichter Peter Rühmkorf, bis heute weithin verehrt als subversiver Feingeist, auf diese Weise sekundierte – in der schroffen Diktion der Nazi-Vätergeneration: „Mehr als Arbeit und Disziplin verschreiben kann der polnischen Nation ohnehin kein Mensch auf der Welt – doch wer bringt neben der nötigen Courage auch noch den Mut auf, sie tatsächlich zu verordnen?“

(…) jener pervertierte Friedensbegriff, der gänzlich ohne die Frage nach Dauer, Stabilität und Gerechtigkeit auskommt, saust ja inzwischen wie ein Weberschiffchen zwischen Ost und West hin und her. (…) Währenddessen scheint es, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung, die einst aus den Worten Egon Bahrs sprach, noch heute fortwirkt. Schon wird Gerhard Schröder (SPD), nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie. Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers (Steinmeier, SPD) hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“. Säbelrasseln und Kriegsgeheul?

Sehr geehrter Herr Bundespräsident und bei allem Respekt: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern „eine Brücke“ – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 – als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte, und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her. Und wiederum war mit beträchtlicher Arroganz überhört worden, wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde. Und es ist auch das bedrohte Osteuropa, das die Folgen zu tragen hat – in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand.

Für unsere und eure Freiheit: Es ist die gepeinigte Zivilbevölkerung in der Ukraine ebenso wie die Soldaten und Soldatinnen der ukrainischen Armee, die mit ihrem Widerstand auch unsere seit 1989 gesamtdeutsch existierende Freiheit zu schützen versuchen – auch jetzt, in dieser Minute und unter unvorstellbaren Opfern. Und nein, jene Militär- und Osteuropawissenschaftler und die oftmals in ihren eigenen Parteien so sträflich isolierten Politiker in Deutschland, die sich Tag für Tag Gedanken darüber machen, wie das überfallene Land angemessener als bisher unterstützt werden kann – diese engagierten Männer und Frauen verdienen es nicht, als „Kaliber-Experten“ (Steinmeier-Zitat) denunziert zu werden, suggerierend, es handle sich bei ihnen um „ausgelassene“ schießwütige Querulanten.

Nennen wir es ruhig beim Namen: Das alles sind mehr als verbale Ausrutscher, die dann pflichtschuldig zurückgenommen werden (Steinmeier hatte sich später für die „Kaliber-Experten“ entschuldigt, jf). Da ja hier, von quasi höchster Stelle, fatale Denkmuster sichtbar werden und Behauptungen aufgestellt werden, die danach sogleich in die Öffentlichkeit diffundieren und dort zusätzlich Konfusion erzeugen (von denen übrigens gerade BSW und AfD profitieren, jf). Gerade in Zeiten verstärkter Krisen aber ist vor allem gedankliche Klarheit ein hoher Wert.

Wenn, erlauben Sie mir zum Abschluss diese Überlegung, gerade jetzt 35 Jahre nach dem Mauerfall häufig und oft zu Recht von diesem oder jenem „Defizit Ost“ die Rede ist – wie wäre es dann gleichzeitig mit einer Debatte zu jenem Erkenntnis-, Handlungs- und Ehrlichkeitsdefizit West, das es doch ebenso einzugestehen und zu überwinden gelte? Und zwar nicht als rein rhetorische Bußübung, sondern als notwendiger Abschied von gesamtdeutschen Lebenslügen und Verdrängungen, denn diese kosten anderswo, ganz konkret und fürchterlich, Menschenleben.

(…) Ich … zitierte … die Worte eines russischen Dissidenten, die noch heute ungebrochen aktuell sind: „Die Wahrheit ist milde; sie ist radikal, aber auch fähig zum Verzeihen. Gerechtigkeit und Verzeihen sind allerdings nicht möglich vor und außerhalb der Wahrheit.“

Meine Damen und Herren, obwohl vielleicht einige von Ihnen eine etwas andere Rede erhofft oder erwartet hätten – ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.<<

Hier kann die komplette Rede nachgelesen werden: WELT und hier kann die ca. 16-minütige Rede komplett angehört werden.

Kommentare zur Rede

Filipp Piatov, stv. Politikchef BILD: »Dass es bis November 2024 gedauert hat, dass ein deutscher Intellektueller das historische Versagen des Bundespräsidenten auf offener Bühne angesprochen hat, sagt einiges über die intellektuelle Landschaft in Deutschland. Dennoch gebührt Marko Martin natürlich großer Dank.«

Prof. Dr. Thomas Jäger, lehrt Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln: »Steinmeier, der der Größe der Herausforderungen seines Amtes nicht gerecht wird, erwartet von allen anderen, dass sie der Größe der Herausforderungen gerecht werden. Inbegriff dieser politischen Klasse.« Ich erlaube mir zu ergänzen: insbesondere der politischen Klasse in der SPD.

Und Prof. Dr. Thomas Jäger weiter: »… wichtige Rede von Marko Martin. Die Aufarbeitung dieser Politik ist dringender denn je, um die mentale Zeitenwende endlich zu vollziehen. Es wurden schon wieder knapp drei Jahre vergeudet.« –Und schließlich: »Die Vorgänge um die Rede von Marko Martin sind auch deshalb so bedeutsam, weil sie wie unter einem Brennglas dokumentieren, dass die mentale Zeitenwende nicht gelingen kann, solange diejenigen noch im Amt sind, die Deutschland in diese Lage gebracht haben

Paul Ronzheimer, stv. Chefredakteur BILD: »Frank-Walter Steinmeier zeigt mit diesem Verhalten gegenüber Kritikern seiner russlandfreundlichen Haltung erneut, dass er der falsche Präsident für unser Land ist. Er steht für alles, was außenpolitisch falsch war und uns in eine dramatische Abhängigkeit von Russland getrieben hat. Er steht für die ganze schmutzige Moskau-Connection der SPD. Er steht für eine Bundesrepublik, die sich bis heute nicht eingestehen will, welche dramatischen Fehler passiert sind. Dadurch, dass Steinmeier einen Wutanfall bekommen hat, weil ein Kritiker die genau richtigen Töne getroffen hat, zeigt er auch, dass er NICHTS dazu gelernt hat und offenbar auch NICHTS dazu lernen will. Steinmeier hätte schon lange zurücktreten müssen

Prof. Dr. Jan Claas Behrends, Historiker: »Resümieren wir den heutigen Tag und Reaktionen auf die Rede von Marko Martin in Bellevue: Interessant ist, dass Fran-Walter Steinmeier sich für einen diplomatischen Übermenschen hält, Intellektuelle dagegen verachtet (ganz nach alter deutscher Tradition). Dem Staatsmann hat der Denker als Untertan gegenüberzutreten. Das hat Martin nicht getan und den Zorn des Bundespräsidenten auf sich gezogen. Zugleich hat der Eklat eine zutiefst demokratische Komponente. Auch der Präsident ist nur ein kleiner Mann, der sich empört und die Contenance verliert, wenn man ihn kritisiert. Wie mein erster Chef, der Tankwart war. Wir leben in einer klassenlosen Gesellschaft. Deprimierend ist hingegen, wie selten ein solcher „Eklat“ (es war ja eigentlich nur eine milde Richtigstellung) passiert. In der Regel wird bei uns nur staatstragend erzählt, was die Regierenden hören wollen. Marko Martin hat damit gebrochen. Ich würde mir ja wünschen, dass Marko Martins Beispiel Schule macht und dass wir wieder – zivil, aber in aller Bestimmtheit – über unsere Geschichte streiten. Dieser Präsident der leeren Worte ist dazu offenkundig nicht in der Lage.«

Prof. Dr. Martina Winkler, Osteuropa-Historikerin: »Nichts von dem, was Marko Martin gesagt hat, war wirklich neu. Aber während Steinmeier offene Briefe, Analysen, Kommentare etc einfach ignorieren konnte, ging das jetzt nicht mehr. Martin hat die Barrieren eingerissen, die ganz offenbar bisher zwischen der Zivilgesellschaft und dem Schloss Bellevue bestanden. Das ist es, was Steinmeier so schockiert, und das wiederum zeigt, was für eine Fehlbesetzung er ist. Er ist ein Staatsoberhaupt für Schlösser, Kirchen, warme Worte, kein demokratisch denkender Präsident. Danke, Marko Martin!«

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