Da braut sich was zusammen

Von Jürgen Fritz, So. 9. Sep 2018

„Ich bin froh, dass du es bist, der mich umbringt“, sagt die 17-Jährige. „Es tut mir sehr leid, dass ich dich offensichtlich irgendwie gereizt oder verärgert habe“, fügt sie hinzu. „Wahrscheinlich war ich zu wenig aufmerksam ihm gegenüber“, denkt sie sich. „Bestimmt hat er sich etwas gewünscht und ich habe es nicht gleich bemerkt, bin dem Wunsch nicht schnell genug nachgekommen oder habe ihm zu wenig Beachtung geschenkt. Das wird ihn gekränkt haben.“ Aber dann befällt die Sterbende doch noch eine Sorge.

Es macht uns nichts aus, für diese gute Sache zu sterben

In ihren letzten Atemzügen ist sie einerseits sehr glücklich, weil sie weiß, dass es gut war, sich die letzten Jahren für diesen armen, seit Jahrhunderten von den bösen Weißen ausgebeuteten Menschen einzusetzen. Aber dann befällt sie doch noch die Sorge, dass die Rechten auch diese Tat instrumentalisieren könnten.

„Bestimmt gehen jetzt wieder Tausende auf die Straße, betrauern meinen Tod und weisen auf irgendwelche Statistiken hin, die angeblich beweisen, dass seit drei Jahren immer mehr Mädchen und Frauen vergewaltigt und getötet werden“, denkt sie sich. „Das möchte ich nicht! Die sollen zuhause bleiben, denn erstens interessieren uns solche Statistiken überhaupt nicht und selbst wenn das stimmen sollte, macht es uns zweitens nichts aus, wenn wir jetzt mal dran sind, nach all dem Unglück, dass wir früher diesen armen Menschen angetan haben. Es macht uns nichts aus, für diese gute Sache zu sterben. Nun sind wir halt mal dran. Das ist nicht mehr als gerecht so.“

Er kann nichts dazu, es ist unsere Schuld

Ein wenig Angst hat sie aber doch, wenn sie ganz ehrlich ist. Angst, dass der liebe Gott jetzt vielleicht auf diesen armen jungen Mann zornig sein könnte, weil er sie einfach so umgebracht hat. Ihre letzten Worte richten sich daher nach oben gen Himmel. Ihre Lippen ob des hohen Blutverlustes, der die letzten ein, zwei Minuten eingetreten ist, bereits ganz schwach – überall um sie her ist die Straße schon ganz rot -, können ihre Worte nicht mehr formen und so spricht sie sie nur noch innerlich:

„Lieber Gott, zürne bitte nicht diesem armen Menschen, der in seiner Verzweiflung und kurzfristigen Verwirrung sein Messer gegen mich richtete. Bestimmt tut es ihm morgen schon unendlich leid. Er kann nichts dazu. Es waren die Umstände, die ihn zu dem gemacht haben, der er jetzt ist. Es waren wir Weiße, die diesen armen Menschen seit Jahrhunderten alles genommen haben, und dann wird man eben irgendwann zornig und auch mal ein bisschen unkontrolliert. Das würde jedem so gehen, selbst dir, wenn man dich immer so behandelt hätte.“

„Ich liebe euch alle“

Dann schaut sich den jungen Mann noch ein letztes Mal an, der über ihr steht, das von ihrem Blut rot verschmierte Messer immer noch in der Hand mit hasserfülltem Gesicht. Er scheint irgendwelche Worte auszustoßen, sie im Sterben noch zu beschimpfen, wirkt dabei voller Aggression, aber sie kann die Worte nicht mehr hören. Es spielt auch gar keine Rolle, was er sagt. Er ist eben jetzt gerade sehr erregt.

Nun beginnt auch ihr Geist zu schwinden. Noch einmal schaut sie ihn liebevoll an. Jetzt hat sie keine Angst mehr – weder um sich noch um ihn. Sie weiß, dass sie im Himmel seine größte Fürsprecherin sein wird und sie weiß, dass Gott zuallererst Liebe bedeutet, ja im Grunde überhaupt nichts anderes als das. Noch immer schaut sie ihn an.

„Ich liebe dich“ ist ihr letzter Gedanke, den sie mit letzter Kraft nochmal versucht zu artikulieren. Ihre Lippen zucken, ihre Stimmbänder können aber nichts mehr hervorbringen und die Lippen könnten den Hauch auch nicht mehr zu einem Wort formen. „Ich liebe dich, ich liebe euch alle“, ist ihr letzter Gedanke, wobei sie dieses „alle“ natürlich nicht auf alle bezieht, sondern auf diese armen Menschen. Dann hört ihr Herz, das bis zum Schluss so voller Liebe, auf zu schlagen.

„Sie haben meine Botschaft verinnerlicht“

Ein breites Lächeln ist auf seinem Gesicht zu sehen, als er nach links zu seinem Vater blickt. „Siehst du“, sagt er zu diesem, „sie haben meine Botschaft verstanden“. Sie folgen mir nach. Sie lassen sich alle töten und nehmen so die Schuld der ganzen Welt auf sich, bleiben dabei bis zum letzten Atemzug voller Liebe. Wahrlich, Vater, ich sage dir: Ich bin unendlich stolz auf meine Schüler. Dieses Mädchen können wir sofort aufnehmen.

Der Vater blickt zu seinem geliebten Sohn. Er versteht ihn und traut sich lange schon nicht mehr, ihm zu widersprechen. Was soll man auch gegen so viel Liebe tun? Ja sicher, er hat früher auch viele Fehler gemacht. Oft ist er jähzornig geworden, war enttäuscht von seiner eigenen Schöpfung, hat sich im Grunde über sich selbst geärgert, dass sie ihm nicht besser gelungen ist, und hat seinen Ärger dann auf seine Geschöpfe projiziert, war dabei nicht immer gerecht. Das ist ihm heute bewusst. Oft hat er seine Wut nicht mehr zügeln können und hat sie an seinen wehrlosen Geschöpfe ausgelassen. Manchmal ist er regelrecht in Rage geraten, doch mit den Jahren wurde er ruhiger, geduldiger, gelassener, milder und gütiger. In diesem Punkt hatte sein Sohn ihm durchaus gut getan.

Noch nie fühlte er sich so machtlos

Und immer hatte er sich bemüht, gerecht zu sein. Dabei hat er dazu gelernt im Laufe all der Jahrtausende. Aber er wusste immer auch, dass man nur mit Liebe nicht regieren kann, weder als König noch als Gott. Doch all das kann er seinem Sohn schon lange nicht mehr klar machen. Noch nie fühlte er sich so machtlos. Auf seiner Stirn ist ein Sorgenfalte zu sehen, doch die sieht sein Sohn nicht, der wie berauscht ist von so viel Liebe, der ganz außer sich, dass zweitausend Jahre nach ihm seine Botschaft endlich so eine Dynamik zu entfalten imstande ist.

Nein, die Sorgenfalte auf der Stirn des Vaters, die womöglich etwas anderes ankündigt: Verzweiflung, die sieht er nicht, weder die Sorgenfalte noch das Aufziehende. Er sieht nur dieses Mädchen, er sieht nur ihr Herz, nicht das ausgeblutete, ermattete Organ, ihr inneres Herz, ihr geistiges, welches so voller Liebe. Und er ist unendlich glücklich. Gleich wird er die junge Frau persönlich begrüßen und in die Arme schließen, wie all die anderen, die er in den letzten Wochen und Monaten in seine Arme schließen konnte und wie all die, die sich bald schon dazugesellen werden. Er küsst seinen Vater auf die Stirn und rennt los, sie in Empfang zu nehmen.

Wenn die Menschen wüssten, was sie dereinst im Himmel erwarten wird, dann wäre auch diese Hoffnung für sie dahin

Als er weg ist, schaut sein Vater sehr besorgt auf die Erde hinab. Er ahnt, was in wenigen Jahrzehnten dort aufziehen wird. Dann schaut er hinüber nach Osten zu seinem Kollegen mit dem „südländischen Aussehen“, der nur eine einzige Sprache spricht und der die gleichen Ansprüche stellt, wie er selbst, der aber zweitausend Jahre jünger und viel vitaler ist, voller Elan und Ehrgeiz. Auf seiner Stirn ist keine Sorgenfalte zu sehen. Nein, sein Gesicht drückt etwas anderes aus.

Schnell wendet der Besorgte sich ab, er will das jetzt nicht sehen. Gerne würde er sich seinem Widersacher im offenen Kampf stellen, aber dazu hat er einfach nicht mehr die Kraft. Er weiß, dass er gegen den viel Jüngeren nicht bestehen könnte, und er ahnt, was dieser eines Tages mit ihm und auch seinem Sohn machen wird. Wenn die Menschen wüssten, was sie dereinst im Himmel erwarten wird, dann wäre auch diese Hoffnung für sie dahin. Ihm wird ganz schwer ums Herz.

Dann hört man ein lautes Lachen durch die himmlischen Gefilde schallen. Es ist kein schönes Lachen, kein gütiges. Es trägt nichts von dem in sich, wovon sein Sohn so sehr berauscht ist, dass er gar nicht mehr fähig ist, anderes zu sehen. Nein, dieses Lachen trägt etwas Höhnisches in sich.

Es hört sich an, als ob der Himmel uns auslachen würde

Der Vater geht in sein Haus, er will das nicht hören und will im Moment auch nichts mehr sehen. Er ist sehr betrübt und hat niemandem, dem er seine Betrübnis mitteilen könnte, nicht einmal seinem Sohn. Dieser versteht ihn schon lange nicht mehr und er ist es müde, seinem Sohn Dinge erklären zu wollen, die dieser einfach nicht hören will und alle vom Tisch fegt. Die Jugend tickt einfach anders, dagegen kommt man nicht an. Die Zeiten haben sich eben geändert.

Auf der Erde hören die Menschen einen lauten, seltsamen Donner. Es klingt ganz merkwürdig. Manche meinen, es höre sich an, als ob der Himmel sie auslachen würde. Ein Gewitter scheint sich anzubahnen. Die Umstehenden sehen das tote, ausgeblutete Mädchen am Boden liegen, dem kein Rettungssanitäter, kein Notarzt und kein Chirurg mehr helfen kann. Sie hören den Donner. Einer schaut nach oben und sagt zu den anderen: „Da braut sich was zusammen.“

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Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

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