Von Jürgen Fritz, Do. 06. Feb 2020, Titelbild: phoenix-Screenshot
Gestern stand im Thüringer Landtag in Erfurt die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten an. Dabei kam es zu einer wahren Wahlsensation. Im dritten Wahlgang wurde durch einen taktisches Streich der AfD nicht wie erwartet der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow (DIE LINKE), sondern Thomas Kemmerich, der Landes- und Fraktionschef der FDP, die gerade so mit 5,0 Prozent den Einzug ins Parlament geschafft hatte. Lesen Sie hier, wie es dazu kommen konnte, wie die AfD zum Königsmacher wurde.
Die Ausgangssituation: Dunkelrot-Rot-Grün wurde Ende Oktober 2019 abgewählt
Am 27. Oktober 2019 fanden in Thüringen, das bis dahin Rot-Rot-Grün mit dem Linken-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow an der Spitze regiert wurde, Landtagswahlen statt. Diese gingen wie folgt aus (in Klammern die Veränderungen gegenüber 2014):
- LINKE: 31,0 % (+ 2,8)
- AfD: 23,4 % (+ 12,8)
- CDU: 21,7 % (– 11,7)
- SPD: 8,2 % (– 4,2)
- GRÜNE: 5,2 % (– 0,5)
- FDP: 5,0 % (+ 2,5)
- Sonstige: 5,4 % (– 1,8)

JFB
So verteilen sich damit die 90 Sitze im Thüringer Landtag:
- LINKE: 29 (+ 1)
- AfD: 22 (+ 11)
- CDU: 21 (– 13)
- SPD: 8 (– 4)
- GRÜNE: 5 (– 1)
- FDP: 5 (+ 5)
Damit war klar: Dunkelrot-Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr. Denn für eine solche sind 46 Mandate notwendig. Die bisherige thüringische Rot-Rot-Grün-Koalition kommt aber nur noch auf 42 Sitze. Klar war damit auch: AfD + CDU + FDP, also Blau-Schwarz-Gelb, hätte dagegen rein rechnerisch eine Mehrheit im thüringischen Landtag von 48 (22+21+5) zu 42 Sitzen.
Das Kalkül von Dunkelrot-Rot-Grün
Gestern stand nun also die Wahl des neuen Ministerpräsidenten an. Dunkelrot-Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr im Landtag und sowohl CDU als auch FDP haben den Avancen der AfD widerstanden und klar gestellt, dass sie auf keinen Fall eine Regierung mit der Höcke-Partei bilden werde. Die beiden zahlenmäßig dominierenden Parteien im Landtag sind nunmehr eine links- und eine rechtsradikale. Die CDU als drittstärkste Kraft will aber weder mit der Linken noch mit der AfD koalieren. Auch eine Tolerierung der linken Regierung lehnten sowohl CDU als auch FDP kategorisch ab. Warum sollten sie das auch tun? Weiter lehnten sie auch den Vorschlag der AfD ab, eine parteilose Expertenregierung zu bilden.
Der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow, der nach der Wahl geschäftsführend im Amt geblieben war, wollte weiterhin in diesem Amt bleiben und strebte daher eine dunkelrot-rot-grüne Minderheitsregierung an. Er hätte sich somit bei jedem Gesetz, das er durch den Landtag bringen hätte wollen, eine neue Mehrheit suchen müssen. SPD und Grüne hätten ein solches Modell natürlich gerne mitgetragen, hätten sie doch damit weiterhin die Ministerposten besetzt und die Regierungsarbeit maßgeblich mitgetragen.
Klar war: In den ersten beiden Wahlgängen brauchte es die absolute Mehrheit also mehr als die Hälfte der Sitze im Landtag (90), sprich mindestens 46 Stimmen. Die Aussichten, dass Dunkelrot-Rot-Grün diese 46 Stimmen erhalten könnte, wenn sie selbst nur noch 42 Mandate ihr eigen nennen können, waren nahezu null. Denn dann hätten ja vier Parlamentarier von AfD, CDU oder FDP Ramelow wählen müssen. Die Hoffnung und das Kalkül von Dunkelrot-Rot-Grün war daher ein anderes:
Im dritten Wahlgang braucht es keine absolute Mehrheit mehr, sondern nun würde eine einfache Mehrheit reichen. Der Kandidat, der die meisten Stimmen erhält, ist also zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, selbst wenn es weniger als 46 sind. Darauf hatte Dunkelrot-Rot-Grün spekuliert, dass dies klappen würde. Doch dann kam alles anders.
Die ersten zwei Wahlgänge: die AfD stellt einen Gegenkandidaten zu Ramelow auf
Kurz vor Ablauf der Meldefrist am Montagmittag hat die AfD einen Gegenkandidaten aufgestellt: den parteilosen, ehrenamtlichen Bürgermeister von Sundhausen, Christoph Kindervater. Der Ingenieur hatte sich am Wochenende zunächst selbst per E-Mail an die Fraktionen als überparteilicher Kandidat für AfD, CDU und FDP ins Gespräch gebracht. Dies hatte – und das war wohl der erste raffinierte Kniff – die AfD aufgegriffen und Kindervater offiziell nominiert. Er trat dann heute im ersten und zweiten Wahlgang als einziger Gegenkandidat gegen Ramelow an. Weitere Nominierungen hatte es bis zum Fristende nicht gegeben.
Um 11:00 eröffnete die Landtagspräsidentin die Sitzung. Es gab keine Aussprache oder sonstige größere Debatten. Die Abgeordneten wählten in geheimer Wahl. In den ersten zwei Wahlgängen gab es zwei Kandidaten, also drei Möglichkeiten, eine Stimme abzugeben: a) für Amtsinhaber Ramelow, b) für Herausforderer Kindervater oder c) Enthaltung. Das Ergebnis des ersten Wahlgangs sah wie folgt aus:
- Bodo Ramelow: 43 (eine mehr als RRG hat)
- Christoph Kindervater: 25 (drei mehr als die AfD hat)
- Enthaltungen: 22
Ramelow hatte somit eine Stimme von AfD, CDU oder FDP erhalten, verpasste aber die notwendige Mehrheit von 46 Stimmen. Der AfD-Kandidat hat umgekehrt drei Stimmen von anderen Parteien erhalten. Es kam zum zweiten Wahlgang, der wie folgt endete:
- Bodo Ramelow: 44 (zwei mehr als RRG hat)
- Christoph Kindervater: 22
- Enthaltungen: 24
Wieder verpassten also beide Kandidaten die absolute Mehrheit und der Landtag beschloss, wie schon nach dem ersten Wahlgang, eine 30-minütige Pause. Jetzt trat das Spektakel in seine entscheidende Phase ein …
Dritter Wahlgang: Die FDP stellt nun auch einen eigenen Kandidaten auf
Nun entschied die FDP ihren Landes- und Fraktionschef Thomas Kemmerich ins Rennen zu schicken, damit nicht nur die beiden radikalen Parteien, sondern auch die politische Mitte einen eigene Option zur Wahl stellt. Somit gab es nun also drei Kandidaten.
AfD und CDU standen nun vor der Frage, ob sie Kemmerich wählen würden. Es war klar, wenn nicht nur FDP, sondern auch die CDU geschlossen den FDP-Mann wählen, kommt er auf maximal 26 Stimmen, hat also keine Chancen gegen Ramelow. Sollte aber die AfD von ihrem eigenen Kandidaten auf Kemmerich umschwenken, dann könnte sie Ramelow verhindern. Und so kam es denn tatsächlich. Der dritte Wahlgang ging wie folgt aus:
- Thomas Kemmerich: 45
- Bodo Ramelow: 44
- Christoph Kindervater: 0
- Enthaltungen: 1
Damit war Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten gewählt, der AfD war der Coup gelungen, den bisherigen und mutmaßlichen auch zukünftigen Ministerpräsidenten der Linkspartei (SED) verhindert zu haben. Und die 5,0 Prozent-Partei stellt nun tatsächlich den Ministerpräsidenten von Thüringen.
Thomas Kemmerich: der erste deutsche Ministerpräsident, der mit den maßgeblichen Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde
Verlierer des Tages war damit eindeutig: Bodo Ramelow. Bei der AfD brandete Jubel auf, während Kemmerich selbst das das Ergebnis zunächst regungslos zur Kenntnis genommen hat. Bodo Ramelow schüttelte fassungslos den Kopf.
Thomas Kemmerich nahm die Wahl an, leistete den Amtseid und nahm nun Glückwünsche entgegen, so vom CDU-Vorsitzenden Mike Mohring, aber auch von AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke. Kemmerich wirkte allerdings eher fassungslos denn glücklich. Damit hatte er wohl selbst nicht gerechnet. In den Tagen und Wochen nach der Landtagswahl war nicht einmal klar, ob die FDP die Fünfprozenthürde wirklich geschafft hat, und nun stellt sie sogar als kleinste Fraktion mit nur fünf Abgeordneten den Ministerpräsidenten.
Damit ist Thomas Kemmerich der erste deutsche Ministerpräsident, der mit den maßgeblichen Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde. Dementsprechend heftig fielen die Reaktionen aus.
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