Philosophie der Angst

Von Jürgen Fritz, Sa. 31. Okt 2020, Titelbild: Pixabay

Angst ist einer der besten Ratgeber, die es überhaupt gibt und jemals gab, während der Satz, in dem das Gegenteil behauptet wird, einer der dümmsten ist, die die letzten Jahre artikuliert wurden. Inwiefern? Eine Reflexion über diese essentielle Basis-Emotion.

Über ein phänomenales Bewusstsein verfügen heißt, dass die Dinge einen qualitativen Erlebnischarakter für einen haben

Die Basis-Emotion Angst ist essentiell für unser phänomenales Bewusstsein, welches wiederum essentiell ist für unseren Geist. Daher sind die Gefühle auch ein wichtiges Teilgebiet innerhalb der Philosophie des Geistes. Emotionen, mithin ein phänomenales Bewusstsein ist das, was uns unter anderem von künstlicher Intelligenz unterscheidet, nämlich der qualitative Erlebnischarakter, den wir bei Aktivitäten und Widerfahrnissen empfinden.

Künstliche Intelligenz verfügt bisweilen über sehr beachtliche Rechenkapazität – allerdings deutlich weniger als ein menschliches Gehirn und meist auf eine bestimmte Sache beschränkt -, aber sie verfügt über keinerlei phänomenales Bewusstsein. Artificial intelligence weiß also nicht, wie sich Dinge anfühlen (qualitativer Erlebnischarakter), wie es sich zum Beispiel ist, wenn andere einen mobben, verächtliche Scherze über einen machen und boshaft über einen lachen. Oder wenn jemand, den man liebt, einen innig umarmt, ganz festhält und sagt „Ich bin bei dir, komme da, was wolle“.

Gefühle geben unserem Dasein eine Orientierung

Gefühle und insbesondere Emotionen (gerichtete Gefühle mit einem Inhalt und Bezug, mit Intentionalität im Gegensatz zu reinen Körpergefühlen), die uns mit der Außenwelt verbinden – wir freuen uns auf oder haben Angst vor etwas, wir lieben oder verabscheuen jemanden – gehören zum logischen Raum der Gründe. Das heißt, sie helfen mit, uns in der Welt zu bewegen, unserem Leben überhaupt eine Orientierung zu geben, Gefahren zu meiden und uns dem Attraktiven, insbesondere dem, was uns angenehme Gefühle bereitet, anzunähern, sich direkt oder indirekt auf es zuzubewegen und das eigene Leben nach solchen Dingen auszurichten.

Emotionen eröffnen eine Sinnsphäre und sind überlebenswichtig

Emotionen stellen mithin Motivationsgründe dar und eröffnen damit eine Sinnsphäre. Gefühle sind quasi die Tür zu diesem ontologischen Raum, zu dieser Sphäre des Sinns, weil sie den Dingen und unserer eigenen Existenz eine Bedeutung, eine Wertigkeit verleihen. Wer über keine Gefühle und Emotionen verfügt, hat keinen Zugang zu diesem Raum.

Und ohne die essentielle Emotion der Angst gäbe es rein funktional betrachtet wohl kaum höher entwickeltes Leben mit einem Nervensystem und einem Gehirn an dessen Spitze, da ohne diese Emotion die frühen, etwas höher entwickelten Wesen lebensgefährliche Gefahren nicht gemieden hätten und daher schnell ausgestorben wären, so dass die Evolution zum Höheren hier quasi an einem bestimmten Punkt schnell abgebrochen wäre.

Emotionalität plus Verstand und Vernunft (Ratio)

Klugheit besteht also gerade darin, Gefahren, mithin potentiellen Schmerz, Verletzungen und Schädigungen der eigenen biologischen Grundlagen bis hin zur eigenen Auslöschung, zu meiden und zwar möglichst vorausschauend, nicht erst, wenn die Bedrohung unmittelbar vor einem steht und es dann vielleicht schon zu spät ist. Und die Angst, vor allem wenn sie rational fundiert ist, hilft uns dabei, diesen Selbstschutz zu gewährleisten.

Emotionalität, Verstand und Vernunft müssen hier also zusammenspielen und die Ratio sollte dabei natürlich die Herrin, die Wagenlenkerin sein, um in der Metapher des Seelenmodell Platons zu sprechen. Aber sie braucht die Gefühle, die Emotionen, auch die Angst als Antriebsfeder und als Evaluierungsfaktor (Bewertungsfaktor). Denn wozu sollte ein Wesen ohne Angst Gefahren meiden?

Die Transzendierung des Ich in der Sorge um andere und anderes

Dabei gehört die Angst und die Sorge, die Schwester der Furcht, nicht nur um das eigene Ich, sondern auch um andere und alles, was man wertschätzt, was man lieb hat, wiederum zur höheren geistigen, insbesondere der geistig-moralischen Entwicklung mit dazu (Das-Ich-transzendierende-Angst). Höher entwickelte Organismen, insbesondere Menschen sind Wesen, die um mehr Angst haben können als um sich selbst.

Das beginnt mit der Angst um die eigenen Eltern und Großeltern, die eigenen Kinder, den eigenen Partner, die eigenen Freunde, den Lieblingsverein, das eigene Land, die eigene Kultur, die zivilisierte Welt usw. und kann sich dann mit zunehmender geistiger Entwicklung fortsetzen und immer weitere Kreise ziehen, so dass das Ich transzendiert (überstiegen) wird.

Was man liebt, will man nicht verlieren

Angst ist also zugleich ein Marker, dass einem etwas wichtig ist, einem am Herzen liegt, dass man ihm Bedeutung und damit Wert zuschreibt. Was man liebt, will man nicht verlieren und man möchte nicht, dass einer geliebten Person, einem geliebten oder wertgeschätzten Wesen etwas Schlimmes passiert. Moralisch sensiblere Menschen möchten überhaupt nicht, dass fühlenden Wesen etwas Schlimmes passiert oder dass Entwicklungen zum Höheren hin wieder umgedreht werden.

Die Angst ist zugleich eine conditio sine qua non, eine notwendige, unabdingbare Voraussetzung für das Überleben, sprich die eigene Existenz.

Die Emotionen sollten uns nicht beherrschen, sondern beherrscht werden

Dabei ist der Mutige nicht jemand, der keine Angst hat, sondern er ist jemand, der es schafft, wenn es ihm sinnvoll und geboten erscheint, seine Angst zu überwinden.

Das deutet darauf hin, dass es mindestens eine, eher zwei weitere Instanzen in uns gibt außer den Emotionen und dem Eros, der auf schnelle Bedürfnisbefriedigung aus ist und die damit einhergehenden angenehmen Gefühle: eine seelische Instanz, die uns sagt, es wäre jetzt besser, nicht zu ängstlich zu sein respektive diese Furcht zu überwinden, sich also über diese Emotion hinwegzusetzen. Und eine weitere, die dieses, was die Vernunft uns sagt, durchzusetzen vermag, das Muthafte in uns.

Dieses Muthafte ist gleichsam eine sittliche Tugend, ein positives Charaktermerkmal: Nicht nur zu erkennen, was das Richtige ist, sondern auch die Kraft, die Energie und die Courage aufzubringen, für dieses auch gegen Widerstände einzustehen.

Eros, Thymos und Logos

Dies alles spricht nicht gegen die Angst, es spricht vielmehr dafür, dass die Emotionen, die wichtig sind, die zu uns gehören und uns die Welt überhaupt erst erschließen, den Dingen und unserer Existenz eine Bedeutung und einen Wert verleihen, dass diese uns aber nicht beherrschen sollten. Es gibt offensichtlich zwei andere Instanzen in uns, die über den Emotionen und dem begehrenden Seelenteil (Eros) stehen sollten, der immer auf schnelle Bedürfnisbefriedigung und die damit  einhergehenden, kurzfristig zu erreichenden angenehmen Gefühle aus ist.

Platon nannte diese zwei Seeleninstanzen Logos (Vernunft) und Thymos. „Thymos“ ist schwer adäquat zu übersetzen, hier in dem Fall: das Mut- und Stolzhafte, das uns gestattet, die Angst zu überwinden, sofern der Logos zu dem Ergebnis kommt, dass es in diesem Fall sinnvoll und gut ist, die Furcht zu überwinden, und der Thymos in uns stark genug ist, dass wir uns das trauen.

Ziel der Bildung

Aufgabe von Erziehung und Bildung, sowohl der anderen (Kinder und Jugendliche) als auch unserer selbst – zu dieser Selbstformung ist wohl nur der Mensch fähig -, ist es daher, nicht die Emotionen und den Eros in uns weg- oder klein zu bekommen, denn auch der Eros ist als Antrieb wichtig, sondern den Logos und den Thymos in uns zu stärken, so dass wir insgesamt nicht von den Emotionen und dem Eros völlig beherrscht werden, sondern dass diese von den beiden anderen Seeleninstanzen beherrscht werden.

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