Der Eklat im Bundestag: ein Zeichen des zunehmenden Bedeutungsverlusts der AfD

Von Thomas Schmid, Mo. 23. Nov 2020, Titelbild: YouTube-Screenshot

Wenn Abgeordnete der AfD, der Partei, die vor Jahren noch von der absoluten Mehrheit träumte, nun Aktivisten in den Bundestag einschleusen, die versuchen, vom Volk gewählte Vertreter unter Druck zu setzen, dann ist das vor allem eines, wie Thomas Schmid konstatiert: ein fast schon verzweifelter Versuch, den eigenen Bedeutungsverlust zu kompensieren.

Wir sehen keine Entparlamentarisierung, sondern das Gegenteil

Wäre die politische Welt ideal, dann stünden sich Parlament und Regierung immer auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Und es geschähe politisch nichts, was nicht zuvor in allen Einzelheiten parlamentarisch beraten und dann beschlossen worden wäre. Wie alle Parlamente hinkt auch der Deutsche Bundestag diesem Ideal hinterher. Das hat weniger mit bösem Willen als damit zu tun, dass die politischen Probleme heute oft so komplex sind, dass es den Abgeordneten längst nicht immer möglich ist, die jeweilige Materie vollständig zu durchdringen. Das stärkt die Exekutive, gibt ihr einen Vorsprung. Schon gar in Zeiten schwer lastender Krisen, die – vom Euro bis zu Corona – schnelle Entscheidungen erfordern.

Daraus ziehen einige den Schluss, dies sei ein schleichender Prozess der Entparlamentarisierung, der Entmachtung des Parlaments. Tatsächlich findet aber das Gegenteil statt. Längst gibt es in den demokratischen Parteien einen ziemlich weiten Konsens darüber, dass die beschlossenen Corona-Maßnahmen zwar notwendig, für die Demokratie aber auch gefährlich sind. Denn sie setzen bestimmte Freiheitsrechte außer Kraft, wenn auch nur partiell und befristet.

Es ist perfider Unsinn, das Infektionsschutzgesetz „Ermächtigungsgesetz“ zu nennen

Deswegen hat die Mehrheit der Abgeordneten den Versuch unternommen, mit dem Infektionsschutzgesetz der Politik der Dekrete ein Ende zu machen und das Corona-Regiment auf eine verlässliche Gesetzesbasis zu stellen. Es wäre zu viel, von einer Sternstunde des Parlamentarismus zu sprechen. Immerhin aber hat sich das Parlament zurückgemeldet, in Stellung gebracht und nach dem Heft des Handelns gegriffen. Es ist perfider Unsinn, dieses Gesetz ein „Ermächtigungsgesetz“ zu nennen. Die Abgeordneten haben, im Gegenteil, die Handlungsfähigkeit des Bundestages bewiesen.

Der Deutsche Bundestag bedarf keiner Korrektur von außen durch das angeblich „wahre Volk“

Er bedarf keiner erpresserischen Instandbesetzung. Aus guten Gründen gibt es die Bannmeile. Die Abgeordneten müssen immer frei entscheiden können. In diesem Sinne ist der parlamentarische Raum ein heiliger Raum. Wenn einzelne Abgeordnete – wie soeben geschehen – sich ermächtigt fühlen, das Parlament zur Straße hin zu öffnen, sind sie im Bundestag fehl am Platz.

Der Versuch der AfD, den eigenen Bedeutungsverlust zu kompeniseren

Dass Abgeordnete der AfD offensichtlich rechte Aktivisten an den Kontrollen vorbei in den Bundestag eingeschleust haben, ist letztlich aber nur eine Groteske. Die Partei, die vor Jahren noch von der absoluten Mehrheit träumte, muss seit geraumer Zeit mit ansehen, dass ihr Rückhalt wie Schnee in der Sonne schmilzt. Wenn sie jetzt im Umgang mit dem Parlament zu Methoden greift, die an jene von Joseph Goebbels während der „Kampfzeit“ der Nationalsozialisten erinnern, dann ist das ein fast schon verzweifelter Versuch, den eigenen Bedeutungsverlust (die AfD steht im Wahl-O-Matrix-Mittel aller Umfragen inzwischen unter 10 Prozent, Tendenz weiter sinkend, JFB), die eigene Bedeutungslosigkeit zu kompensieren.

P.S. von JFB: 75 Prozent der wahlberechtigten Bürger lehnen die AfD vollkommen ab

Selbst das als AfD-nah geltende Meinungsforschungsinstitut INSA kommt aktuell zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der wahlberechtigten Bürger mit Parteinennung, also das Volk, welches sich vornehmlich an Wahlen beteiligt, die AfD vollkommen ablehnen. Bei allen anderen Parteien sind es maximal 23 (Union und SPD) bis 41 Prozent (Die Linke), welche von den  Bürgern mit einer Parteipräferenz vollkommen abgelehnt werden.

2020-11-16

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Dieser Artikel erschien zuerst auf dem WELT-Blog des Autors Thomas Schmid – die Texte und erscheint hier mit dessen freundlicher Genehmigung. Teaser und Zwischenüberschriften durch JFB.

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Zum Autor: Thomas Schmid, Jg. 1945, nahm in seinen Zwanzigern an der Studentenbewegung in Frankfurt teil, was ihn später gegenüber Heilslehren misstrauisch machte – und ihn die Bürgerfreiheit schätzen lehrte. Lektor, freier Autor, Journalist. Zuletzt in Berlin Chefredakteur und dann Herausgeber der WELT-Gruppe. In seinem Blog veröffentlicht er regelmäßig Kommentare, Essays, Besprechungen neuer, älterer und sehr alter Bücher, Nachrufe und nicht zuletzt Beobachtungen über den gemeinen Alltag.

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