Von Jürgen Fritz, Di. 08. Jun 2021, Titelbild: YouTube-Screenshot
Was versteht man eigentlich unter Evidenz? In jüngerer Zeit hat sich in bestimmten Wissenschaftszweigen eine andere, teils gegensätzliche Wortbedeutung als traditionell in der Philosophie etabliert: In Medizin, Pharmazie und Wissenschaftstheorie wird unter Evidenz der empirische Nachweis für einen Sachverhalt oder eine Behauptung verstanden. In der Philosophie bezeichnet Evidenz dagegen klassischerweise etwas anderes.
Empirische Evidenz
Viele, so zum Beispiel auch die Chemikerin und Wissenschaftsjournalisten Mai Thi Nguyen Kim, Mediziner und andere, benutzen den Ausdruck „Evidenz“ in letzter Zeit ständig. Wenn sie von ‚Evidenz‘ sprechen, so meinen sie den empirischen Nachweis für einen Sachverhalt oder eine Behauptung. Damit ergibt sich ein Gegensatz zur philosophischen Bedeutung von ‚Evidenz‘ im Sinne von selbstverständlicher Einsicht. Das heißt, womit wir es hier zu tun haben, ist das Phänomen, dass dasselbe Wort, derselbe Ausdruck, dieselbe Benennung (in der Sprache) für verschiedene Begriffe (im Denken) und für verschiedene Gegenstände (in der Realität) steht.
Die neuere Wortbedeutung beruht hierbei auf dem Einfluss des englischen Wortes ‚evidence‘, das meist mit ‚Beweis‘ oder ‚Beleg‘ übersetzt wird. Evidenzbasierte Medizin (Übersetzung von englisch evidence-based medicine) ist eine konsequent auf empirische Belege gestützte Medizin. In der Wissenschaftstheorie bezeichnet der Begriff Evidenz zumeist empirische Befunde, die als Beleg für einen fraglichen Sachverhalt, eine Aussage oder eine Theorie dienen – oder die jeweils dagegen sprechen. Auch in den Sozialwissenschaften spricht man von empirischer Evidenz.
Anekdotische Evidenz ist dagegen eine schwache wissenschaftliche Evidenz, die nur auf einzelnen Beobachtungen oder Fallbeschreibungen beruht. Bei anekdotischer Evidenz fehlt die in der Wissenschaft übliche systematische Herangehensweise, beispielsweise die Reproduzierbarkeit oder überhaupt die systematische Untersuchung.
Der Evidenzbegriff in der Philosophie: unmittelbare, unbezweifelbare Einsicht
In der Philosophie bezeichnet Evidenz dagegen klassischerweise etwas anders: das aufgrund von Augenschein oder zwingender Schlussfolgerung unbezweifelbar Erkennbare oder die dadurch erreichte unmittelbare Einsicht. Eine aufgrund von Evidenz gewonnene Gewissheit wird als selbstverständlich empfunden, zum Beispiel, dass 1+1=2, somit erübrige sich eine exakte Beweisführung. Dies führt jedoch in eine grundsätzliche Problematik.
In meinem Buch Das Kartenhaus der Erkenntnis – Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen habe ich gezeigt, dass 1+1=2, wenn man es auf physische Gegenstände bezieht, nicht immer stimmt und nicht so unproblematisch ist, wie es scheint, und das aus mehreren Gründen. Das fängt schon damit an, dass nicht immer so klar ist, wofür 1 steht. Bei einem Apfel mag das noch relativ leicht zu umschreiben sein, bei einer Wolke aber wird es schon wesentlicher schwieriger. Schon hier gibt es Phänomene der Art 1+1=1, wobei die dritte 1 dann einfach größer ist als die zwei 1en in den Summanden. Und in der Elementarteilchenphysik gibt es etliche Phänomene, die diesem Satz „1+1=2“ schlicht nicht gehorchen. Auf diesen Umstand wies schon Albert Einstein (1879-1955) hin: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“
Unsere Wahrnehmung ist durch die Begriffe, die in unserem Geist vorhanden sind, geprägt
Der Naturalist Wilfrid Sellars (1912–1989) entwickelte in seinem 1956 erschienenen berühmten und enorm einflussreichen Essay Empiricism and the Philosophy of Mind (1999 in deutscher Übersetzung erschienen als: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) eine Kritik an Voraussetzungen der Phänomenologie sowie der Analyse des Wissensbegriffs, der mit Sinnesdaten verknüpft ist. Vorausgesetzt werde dabei, dass wir von unserer Sinneswahrnehmung ein Wissen haben, welches von unserem Begriffsapparat, wie wir ihn bei der Wahrnehmung bestimmter Objekte anwenden, unabhängig wäre. Genau das ist aber fraglich.
In der Tat gilt: Je nachdem, welche Begriffe in einem subjektiven Geist gebildet wurden, wird dieser Geist das gleiche Phänomen unter Umständen anders wahrnehmen als ein anderer, obschon beide das gleiche Geschehen beobachten. Die Sinnesdaten, die z.B. über Photonen ins Auge gelangen, dort verarbeitet und ans Gehirn weitergeleitet werden, werden dort im neuronalen Netz, so wie es sich bis dahin entwickelte, aufgenommen, verarbeitet, eingeordnet etc. Ganz simpel: Wer über den Begriff, das mentale Konzept ‚Korrelation‘ nicht verfügt, der kann diesen Begriff in seiner Wahrnehmung der Welt auch nicht anwenden und wird so Dinge nicht sehen können, die aber tatsächlich existent sind. Ohne diesen Begriff (nicht das Wort, sondern das mentale Konzept) ist man an dieser Stelle quasi blind.
Das wusste schon Immanuel Kant (1724-1804), der hier bereits im 18. Jahrhundert einiges herausarbeitete: „Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Evidenz im philosophischen Sinne ist also einerseits nicht ganz unproblematisch, sobald sie von jemand beansprucht wird, beispielsweise von „Propheten“ oder solchen, die meinen, solche zu sein oder sich dafür ausgeben, andererseits kommen wir nicht völlig ohne die Vorstellung von Evidenz aus, denn auch jedes Argumentieren setzt im Grunde ja mindestens ein sehr hohes Maß an Gewissheit schon voraus, ja muss sie in gewissem Sinne voraussetzen und darf dabei aber doch nicht unkritisch sich selbst gegenüber werden.
Alle Argumente für die Evidenz stellen einen Teufelskreis (circulus vitiosus) dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch
Wolfgang Stegmüller (1923–1991), den ich persönlich ganz besonders schätze, bezeichnet Evidenz als „eine Einsicht ohne methodische Vermittlungen“ und zugleich eine der wesentlichen Säulen unseres Argumentierens: „All unser Argumentieren, Ableiten, Widerlegen, Überprüfen ist ein ununterbrochener Appell an Evidenzen, wobei … das ‚Appell an…‘ nicht so misszuverstehen ist, als würde die Evidenz jeweils den Gegenstand der Rechtfertigung darstellen. Sie ist das ‚Wie‘ und nicht das ‚Worüber‘ des Urteilens.“
So berufen wir uns in Wissenschaft und Alltag also beständig auf „evidente“ Sätze, auf „offensichtliche“ und „selbstverständliche“ Einsichten, ohne den eigentlichen Charakter dieser Einsichten jemals beweisen zu können, denn: „… das Evidenzproblem ist absolut unlösbar … alle Argumente für die Evidenz stellen einen Teufelskreis (circulus vitiosus) dar und alle Argumente gegen sie einen Selbstwiderspruch… Wer für die Evidenz argumentiert, begeht einen Zirkel(schluss), denn er will beweisen, dass es die Evidenz gibt; das zu Beweisende soll also das Ergebnis der Überlegungen darstellen, während er vom ersten Augenblick seiner Argumentation an Evidenz bereits voraussetzen muss“, so Stegmüller.
Denn was geschieht, wenn wir argumentieren? Wir übertragen einen Gewissheitsgrad von den Prämissen auf die Konklusion, von den Gründen auf das zu Begründende, das zu Beweisende. Ohne jegliche Evidenz gäbe es ja aber gar keine Gewissheit zu übertragen. Wir müssen sie also immer bereits voraussetzen, wenn wir argumentieren. Anders geht es gar nicht respektive anders hätte das ganze Prozedere des Argumentierens ja gar keinen Sinn, wenn alles gleich unsicher, alles gleich glaubhaft oder unglaubhaft, wenn alles gleich plausibel oder unplausibel wäre.
Und umgekehrt: „Wer gegen die Evidenz argumentiert, begeht einen Selbstwiderspruch; denn er muss ja in seiner Argumentation Gründe gegen die Evidenz anführen, für die er seinerseits eine bestimmte Gewissheit beansprucht, die er ebenfalls voraussetzen muss.“ (Stegmüller) Ansonsten wäre seine Argumentation ja ein im Grunde sinnloses Sprachspiel.
Ohne glauben im Sinne von etwas für wahr halten und dabei auch ein bestimmtes Maß an Gewissheit empfinden geht es gar nicht
Daraus könnte man wiederum folgern, dass wir gar nicht anders können, als eine gewisse Evidenz anzunehmen, meist aber ohne dabei wirklich hundertprozentig sicher sein zu können, dass diese Evidenz im philosophischen Sinne wirklich gegeben ist. Wir müssen das aber quasi annehmen, sonst wären wir gar nicht lebensfähig, wenn wir gar nichts glaubten. Ohne glauben – im Sinne von etwas für wahr halten und dabei auch ein bestimmtes Maß an Gewissheit empfinden, ja manchmal vielleicht sogar absolute Gewissheit – geht es also gar nicht.
Selbst wenn wir etwas empirisch oder logisch widerlegen, wenn wir eine Scheinerkenntnis als solche entlarven, sie falsifizieren und zeigen, dass es sich um eine Fehlvorstellung handelt, dann müssen wir ja glauben, dass die Widerlegung, die Falsifikation stimmt. Bei der Falsifikation benutzen wir ja irgendetwas, auf das wir rekurrieren, eine oder mehrere Beobachtungen oder einen logischen Schluss oder alles zusammen. Und das, was wir zur Widerlegung benutzen, das müssen wir wiederum glauben, wenn die Widerlegung überzeugend sein soll.
Zumindest einiges müssen wir also glauben, ohne dabei uns selbst gegenüber unkritisch und unreflektiert zu sein, so das der Anspruch sich selbst gegenüber sein soll. Vor diesem Hintergrund ist auch der Titel meines Buches zu verstehen, der oft missverstanden wird und der nichts mit metaphysischer Spekulation („religiösem Glauben“) zu tun hat, sondern mit erkenntnistheoretischer Reflexion: Das Kartenhaus der Erkenntnis – Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen (AV Akademikerverlag, 2. Aufl. 2012, EUR 68,00):
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