Fehlvorstellungen sind keine „subjektive Wahrheiten“, sondern Fehlvorstellungen

Von Jürgen Fritz, Do. 25. Apr 2019, Titelbild: YouTube-Screenshot aus dem Film The Truman Show (Schlussszene, als Truman entdeckt, dass seine gesamte Welt, die er 30 Jahre lang für echt hielt, eine reine TV-Inszenierung war)

Phantasie ist ohne jeden Zweifel eine der schönsten Gaben überhaupt, mit welcher der Mensch wie kein anderes bekanntes Wesen gesegnet ist. Seit Jahrtausenden erfinden die Menschen Geschichten, dabei gibt es jedoch Unterschiede. 1. Der Schriftsteller weiß, a) dass seine Geschichten erfunden sind und will b) andere auch nicht Glauben machen, sie wären es nicht. 2. Der Hochstapler weiß a) auch, dass seine Geschichten erfunden, also nicht real sind, will aber b) andere Glauben machen, sie wären wahr. 3. Der verblendete Fanatiker dagegen hält a) seine Geschichten selbst für wahr und kann dann b) in anderen besonders gut Fehlvorstellungen erzeugen, weil sie seine innere Überzeugung spüren.

Der Ort der Wahrheit

Zunächst zum Wahrheitsbegriff: Möchte man diesen erfassen und sich ihm annähern, lautet die erste Frage, wo der Ort der Wahrheit ist, was also überhaupt wahrheitsfähig, was wahrheitswertdefinit ist.

Erste Feststellung: Der Ort der Wahrheit ist nicht die Wirklichkeit, diese ist nicht wahrheits- oder falschheitsfähig. Die Realität selbst kann nicht wahr oder falsch sein, sie ist, ob uns das gefällt oder nicht, wie sie ist. Was aber wahr oder falsch sein kann, sind a) unsere Vorstellungen in Bezug auf die Wirklichkeit, das Bild, das wir uns von der Realität machen, sowie b) Aussagesätze, in denen solche Vorstellungen i.B.a. die Wirklichkeit zum Ausdruck kommen. In dieser Semantik ist etwas ganz Entscheidendes erhalten, was immer wesentlich war, wenn es um Wahrheit ging, bis die Postmoderne es kappte: der Bezug zur Realität.

Fehlvorstellungen sind keine „subjektive Wahrheiten“, sondern Fehlvorstellungen

Beispiel 1: Der Satz „Rom liegt in Italien“ und die Vorstellung, dass dem so ist, sind wahr, weil Rom wirklich in Italien liegt. Beispiel 2. Der Satz „Australien ist flächenmäßig größer als Asien“ und die Vorstellung, die dem Satz zu Grunde liegt, sind falsch (Fehlvorstellungen), weil Australien in Wirklichkeit kleiner ist als Asien. Wer meint, Australien sei größer, der hat keine „subjektive Wahrheit“ in Bezug auf die Größe von Australien und Asien, sondern eine Fehlvorstellung. Ob sich die Fehlvorstellung für den, der sie hat, angenehm anfühlt oder unangenehm, ob sie ihm selbst schlüssig und glaubwürdig erscheint, ändert nichts an ihrem diesbezüglichen Charakter.

Wenn der Richter also den Zeugen auffordert die Wahrheit zu sagen, also wahre Sätze zu formulieren und keine falschen, dann ist er nicht an dessen „subjektiven Wahrheiten“ (Fehlvorstellungen) interessiert, sondern er möchte ausschließlich wahre Satze hören, um sich über diese wahre Beschreibung der Realität ein Bild machen zu können, was sich wirklich abgespielt hat.

Verdeutlichung über das semiotische Dreieck

Über das semiotische Dreieck lässt sich vielleicht am besten verstehen, wo der Ort der Wahrheit (und der Falschheit) sich befindet. Wahrheitsfähig ist, wie gesagt, nicht die Realität, nicht der Gegenstand in der Wirklichkeit, das Ding, das außersprachliche Objekt, die Wirklichkeit selbst (rechts unten), wahrheitsfähig sind unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit (oben) und unsere Sätze über die Wirklichkeit (links unten).

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Wenn in meiner Vorstellung ein Ding eine Eigenschaft hat, über die es in Wirklichkeit gar nicht verfügt (Illusion) oder wenn ich meine, etwas würde existieren, das es gar nicht gibt (Halluzination), so habe ich eine Fehlvorstellung, die dann auch in einem falschen Satz sprachlich zum Ausdruck kommen kann. Wenn ich dagegen meine, also die Vorstellung habe, Bayern München ist derzeit Tabellenführer in der Fußball-Bundesliga, und die Bayern sind wirklich Tabellenführer, dann habe ich eine wahre Vorstellung. Wer meint, Dortmund sei Tabellenführer, obschon es in Wahrheit die Münchner sind, hat eine Fehlvorstellung.

Wahr ist also nicht die Realität – die ist, wie sie ist -, sondern wahr (oder falsch) sind meine Vorstellungen und meine Sätze, in denen ich meine Vorstellungen von der Welt ausdrücke. Beim Lügen klaffen a) die Vorstellung des Sprechenden und die gesprochenen Sätze auseinander sowie auch b) die Sätze und die Wirklichkeit und zwar mit Täuschungsabsicht, also der Intention, in dem anderen eine falsche Vorstellung zu erzeugen, nicht aber die Vorstellung über die Wirklichkeit und diese selbst. Der Lügner weiß ja, dass es nicht stimmt, was er sagt. Seine falschen Sätze entspringen nicht einem Irrtum, sondern eben einer Täuschungsabsicht.

Daher sind eine Satire oder ein Witz natürlich auch keine Fake-News, weil die Täuschungsabsicht fehlt, weil sie nicht darauf abzielen, in dem anderen Fehlvorstellungen zu erzeugen.

Ausschließlich Daseinsbewältigung und Daseinserfüllung oder auch Daseinserkenntnis?

Etwas für wahr halten (etwas glauben), ist hierbei eine conditio sine qua non (eine notwendige Bedingung) für eine wahre Vorstellung, mithin für Wissen. Wer nichts für wahr hält, kann nichts wissen, hat keinerlei Erkenntnis, denn Wissen impliziert ja, dass man das Gewusste für wahr hält, dass man glaubt, dass es wahr ist. Der Glaube, nicht der religiöse, sondern allgemein der Glaube ist daher, anderes als Nietzsche meinte, der einen viel zu engen Glaubensbegriff hatte, Voraussetzung für Wissennicht sein Gegensatz.

Es werden aber nicht nur Dinge für wahr gehalten (geglaubt), die auch tatsächlich wahr sind, sondern auch anderes (Fehlvorstellungen). Und nun gibt es zwei Sorten von Menschen: 1. diejenigen, die wissen wollen, ob es sich bei ihren Vorstellungen von der Welt um wahre oder falsche Vorstellungen handelt, und 2. diejenigen, denen das nicht so wichtig ist, sofern sich die eigenen Vorstellungen nur angenehm anfühlen und ein Welt- und Selbstbild ermöglichen, mit dem sie sich wohl fühlen, das ihnen Halt, Sinn und Orientierung verleiht und so hilft, ihr Leben zu bewältigen (Daseinsbewältigung) und zu genießen (Daseinserfüllung), während für die Erstgenannten auch die Daseinserkenntnis ein zentrales Anliegen ist.

Diese extrem neugierigen und zugleich kritischen Geister zweifeln Dinge auch dann an, wenn der Zweifel zu unangenehmen Erkenntnissen führen kann. Sie fragen also nicht zuvor schon, ob ihnen die Erkenntnis nutzen oder schaden wird. Sie sind nicht primär nutzen-, sondern erkenntnisinteressiert und bilden fast immer die Minderheit.

Wahrheitsorientierte und Nutzen-/Gefühlsorientierte

Ich nenne die Ersten die Erkenntnis- oder Wahrheitsorientierten und die Zweiten die Nutzen- und Gefühlsorientierten. Wer von beiden vernünftiger ist, scheint mir nicht ausgemacht. Wahrscheinlich hat jeder seine Anlage entweder zu dem Einen oder zu dem Anderen und beide können gar nicht anders. Der Eine fragt immer primär nach seinem persönlichen Nutzen, ob ihm das angenehme Gefühle jenseits der Freude am Erkennen selbst verspricht, die bei ihm unter Umständen vielleicht auch nicht sehr stark ausgeprägt ist. Der Andere kann nicht anders als wissen wollen, wie die Dinge wirklich sind, und die Erkenntnisfreude oder auch nur der Erkenntnisdurst überwiegt das unangenehme Gefühl, welches durch manches Wissen erzeugt wird, denn das, was man herausfindet, ist ja nicht immer schön, wenn man tief genug gräbt.

Gleichwohl wählt der Wahrheitsorientierte die rote Pille, um mit dieser Metapher aus Matrix zu sprechen, was ihm nicht selten sogar Schwierigkeiten mit seiner Umwelt einbringt. Oder aber er bricht, wie in dem wunderbaren Spielfilm von Peter Weir Die Truman Show, siehe Titelbild, aus seiner extra für ihn konstruierten, höchst angenehmen und sicheren, aber nur vorgespielten Scheinwelt, in der nichts echt ist außer ihm selbst, aus, obschon er nicht weiß, was ihn in der ihm völlig fremden echten Welt erwarten wird. 

 

Das egozentrische Weltbild (Solipsismus)

Wenn jemand aber von „seiner Wirklichkeit“ oder „seiner Wahrheit“ spricht, dann meint er etwas anderes, drückt sich nur falsch aus. Er meint: seine Vorstellung von der Wirklichkeit. Es gibt Milliarden von Vorstellungen von der Welt, aber natürlich nur eine Wirklichkeit. Es sei denn, derjenige, der so spricht, stellt sich die Welt derart vor, dass er meint, alle wären vollkommen getrennt und jeder würde in einem anderen Universum leben, jedes Universum würde sich jeweils nach dessen Vorstellung formen, die derjenige hat, der im Zentrum seines eigenen Universums sitzt.

Oder er meint gar, das wäre aber wirklich arg, es gäbe nur sein Universum und alle anderen wären in seiner Welt quasi nur Staffage (solipsistisches respektive egozentrisches Weltbild).

Literaturempfehlung

Eine ausführliche Sprachanalyse des Wahrheits-, wie auch des Wissens-/Erkenntnis-Begriffs sowie der Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher und überhaupt menschlicher Erkenntnis findet sich in: 

Jürgen Fritz: Das Kartenhaus der Erkenntnis: Warum wir Gründe brauchen und weshalb wir glauben müssen, Akademiker-Verlag 2012, EUR 68,00

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