Lob der Intoleranz

Von Jürgen Fritz

„Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken. Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben.“ – Friedrich Schiller, Wallensteins Tod

Poppers Paradoxon der Toleranz

In Zeiten des Tugendkultes der Toleranz viel zu wenig bekannt und vor allem viel zu wenig verinnerlicht ist das Poppersche Paradoxon der Toleranz:

„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen. (…) Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ (Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde)

Der Toleranz müssen also, wenn sie sich nicht selbst destruieren will, Grenzen gesetzt werden. Popper hat eine solche Grenze aufgezeigt: die Aufhebung ihrer selbst durch Überdehnung. Doch dies ist nicht die einzige notwendige und richtige Begrenzung. Vertiefen wir die Gedanken Poppers ein wenig, so finden wir weitere Grenzen der Toleranz.

Toleranz und Systemstabilität

Toleranzgrenzen dienen aus systemtheoretischer Sicht zur Regelung von Parametern, die Einfluss auf die Systemstabilität haben. Innerhalb gewisser Toleranzgrenzen darf ein Parameter schwanken, ohne dass die Stabilität eines Systems gefährdet ist, zum Beispiel unsere Körpertemperatur. Werden diese Grenzen überschritten, drohen Destabilisierung oder gar der Zusammenbruch des Systems, beispielsweise eines Organismus oder auch einer Gesellschaft.

Auch die politische Linke versucht derzeit, ihr System der subtil totalitären Herrschaft in Bezug auf Gesellschaft, Weltanschauung, Sprache etc. zu stabilisieren, indem sie die Toleranzgrenzen gegenüber den ‚Rechten‘ – in Wahrheit gegenüber allem, was sich nicht bedingungslos ihrer Weltsicht unterwirft – immer mehr einengt. Der Intoleranz der Mitte und der Rechten, der Konservativen, insbesondere gegenüber der Islamisierung Europas, gegenüber der Massenimmigration von Kulturfremden, gegenüber der Dekonstruktion der Familie und der Geschlechter etc. liegt ihrerseits eine stabilisierende Intention zu Grunde. Die intendierte Stabilisierung gilt hier aber dem Ganzen der Gesellschaft, der Bewahrung (Konservierung) des erreichten kulturellen Standes, während die linke Intention inzwischen mehr und mehr auf die eigene Machtsicherung gerichtet ist.

Der destabilisierende Tugendkult der Toleranz

Generell gilt, dass Toleranz und Intoleranz zusammen ein Regulationssystem darstellen. Toleranz stellt, so sie nicht absolut gesetzt wird, durchaus eine Tugend dar. Für ein System, welches sich selbst erhalten will, ist die Tugend des Strebens nach Stabilität des Systems selbst aber eine höhere Tugend als die der Toleranz. Der Duldsamkeit werden hier also engere Grenzen gesetzt. Denn eine Ausweitung der Toleranz, die auf Kosten der Stabilität geht, trägt tendenziell selbstdestruktive Züge.

Der destabilisierende Tugendkult der Toleranz ist ein klassisches Beispiel einer fehlgeleiteten, ethisch nicht haltbaren, mithin nicht legitimierten Moral. Die Tugend der Toleranz, die löbliche Langmut, die Arnod Gehlen als den sozialen Schmierstoff im täglichen Miteinander der Menschen bezeichnete, soll zur alles beherrschenden Tugend und zum Gesellschaftsprinzip aufgeblasen werden, mit beinahe welterlösendem Impetus, wie Martin Lichtmesz und Caroline Sommerfeld es so trefflich beschreiben.

Toleranz – Selbsterhaltung – Gerechtigkeit

Der Fehler der grün-linken Gutmenschen ist also nicht das Lob der Toleranz an sich, sondern der fehlenden Einbettung in ein System von Tugenden. Alte Männer, die sich kleine Mädchen bei ihren Eltern erkaufen, um sie zu heiraten und dann sexuell missbrauchen zu können, und Eltern, die so mit ihren Töchtern verfahren, müssen, ja dürfen nicht geduldet werden, weil dies schwere Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht sind. Ebenso dürfen Genitalverstümmelungen bei kleinen Kindern, Steinigungen von Frauen, Unterdrückung von Kritik an religiösen Weltanschauungen, Unterdrückung der Redefreiheit (freie Meinungsäußerung), der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit nicht geduldet werden.

Alle Verstöße gegen das Selbstbestimmungsrecht, gegen die Würde (Selbstbestimmungsfähigkeit), gegen die unveräußerlichen Menschenrechte dürfen nicht toleriert werden und ebenso alles, was eine Gesellschaft untergräbt, die diese Rechte überhaupt erst ermöglichen und deren Einhaltung garantieren kann. Ebenso darf all das nicht geduldet werden, was die tolerante, offene Gesellschaft destabilisiert oder gar zerstören könnte. Daher darf eine offene Gesellschaft auch keine offene Grenzen haben, weil dann die Feinde der offenen Gesellschaft diese infiltrieren und von innen heraus zerstören können. Jede (geistig) offene Gesellschaft muss sich also scharf abgrenzen gegen jede totalitäre oder unfreie solche (Paradoxon der Offenheit).

Über der Toleranz steht aus ethischer Sicht die Systemstabilität, welche auf die Erhaltung der Gesellschaft gerichtet ist. Und über der reinen Systemerhaltung – denn eine ungerechte Gesellschaft will sich ja zumeist auch selbst erhalten – steht wiederum das Ideal der gerechten, menschenrechtsorientierten Gesellschaft, die es entweder zu erhalten respektive auszubauen gilt, so sie weitgehend erreicht, oder herzustellen und sich immer mehr auf sie zuzubewegen, so sie noch nicht erreicht. Innerhalb dieser Tugenden der Selbsterhaltung, der Selbstbestimmung und der Gerechtigkeit hat die Toleranz ihren Platz, nicht über diesen.

Fazit

Wer alles toleriert, dem ist letztlich alles gleichgültig. Wer gar nichts toleriert, was anders ist, der ist ungenießbar. Auch hier gilt es wohl wieder, die rechte Mitte (Aristoteles) zwischen den Extremen zu finden beziehungsweise innerhalb von gewissen Grenzen sehr tolerant zu sein, sobald diese aber tangiert werden, absolut intolerant.

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Literaturempfehlung: Martin Lichtmesz, Caroline Sommerfeld: Mit Linken leben, Schnellroda 2017, Verlag Antaios

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Bild: Youtube-Screenshot aus Sonita „brides for sale“

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13 Antworten auf „Lob der Intoleranz

  1. jheinke

    Toller Beitrag, Dank dafür.

    Toleranz stellt den Rahmen dar zur Entfaltung des größten aller Menschenrechte, der persönlichen Freiheit. In diesem Rahmen ist Toleranz ein notwendiger Rahmen zum Schutz der Menschenrechte.
    Handlungen zu tolerieren, welche die Freiheit und Selbstbestimmung Anderer einschränken, wäre das Gegenteil des Schutzes der Menschenrechte – sie ist Duldung und damit Gutheißen von Verbrechen.
    Toleranz darf sich immer nur auf die Gewährung von Freiräumen beziehen, niemals auf die Duldung von Handlungen, welche einen Eingriff in die Freiheit eines Anderen darstellen.

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  2. Letztes Aufgebot

    Zunächst einmal möchte ich zum Rekordergebnis des Blogs gratulieren. Dieses lässt die Hoffnung in mir aufkeimen, dass die grenzdebilen Gutmenschen nicht auf Dauer die absolute Mehrheit innerhalb der BRD bilden.
    Die Toleranz der Toleranzlosen wird mit diesem brillanten Beitrag herrlich ad absurdum geführt.

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  3. Pingback: Lob der Intoleranz – Leserbriefe

  4. maja1112

    Toleranz existiert nicht mehr in diesem Land. Wo nur der kleine Napoleon von der Saar
    seinen Toleranzpreis gefunden hat? Wahrscheinlich auf dem Müll, wo ihn Merkel hingeworfen hat.

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  5. Tanzender Berg

    „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranz nicht zu tolerieren.“ Das ist der Knackpunkt. Aus diesem Grund muß der Islam verboten und mit schärfster Repression unterdrückt werden. Die Chinesen scheinen das verstanden zu haben.

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  6. hmh.

    Bei einer korrekten Quellenangabe des Eingangszitats bemerkte man allerdings beim Nachlesen, daß Schiller hier keineswegs selbst sprach, sondern seinem sehr bewußt „aus gröberem Stoffe geschaffenen“ Wallenstein etwas in den Mund gelegt hat:

    Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,
    Das schnell sich handhabt wie des Messers Schneide,
    Aus ihrem heißen Kopfe nimmt sie keck
    der Dinge Maß…

    E n g ‚ ist die Welt und das Gehirn ist w e i t ,
    Leicht bey einander wohnen die Gedanken,
    doch hart im Raume stoßen sich die Sachen
    Wo Eines Platz nimmt, muß das andre rücken,
    Wer nicht vertrieben seyn will, muß vertreiben,
    Da herrscht der Streit und nur die Stärke siegt,

    weiter:

    https://books.google.de/books?id=yFNTAAAAcAAJ&pg=PA268&dq=Eng+ist+die+Welt,+und+das+Gehirn+ist+weit

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  7. Surgeon100

    Gott ist tolerant gegenüber dem Verführten und Blinden und will ihm helfen, erwachsen, reif und sehend zu werden, auch gegenüber Fehlern, die jemand dann bereut.
    Gott aber ist nicht tolerant gegenüber dem Bösen, der Lügen und against real evil.

    Die falsche Toleranz heute ist keine, denn sie kommt von Verführten, die weiter Verführung und Lügen dulden und sogar wollen.

    Echte Toleranz hat nur der Entwickelte und Weise gegenüber den Unwissenden.
    Toleranz der Kranken gegenüber weiterer Krankheit aber ist keine, sondern sie Verführung und Schwäche und Krankheit.

    Der Kranke kann gar nicht tolerant sein, das kann nur der Gesunde !

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  8. R.J.

    Danke für diese luzide Analyse.

    (A) Der Gedanke der Toleranz gehört unabdingbar zum ethischen Universalismus, dem gemäß Menschen elementare Rechte besitzen, die nicht verhandelbar sind und nicht von Religionen etc. gegebenen Restriktionen unterliegen. Das ist eine genuin abendländische Idee, die über viele Jahrhunderte in einem vielschichtigen, asynchronen Prozess aus dem Spektrum der antiken Philosophie sowie des Christen- und Judentums entstanden ist. Sie ist positiv inhaltlich bestimmt, auch in den Grenzen der Toleranz, und dadurch gegenüber feindlichen Ideen abgesetzt. Diese huldigen allesamt einer (vergleichsweisen) Intoleranz, wie das typischerweise in kollektivistischen, parareligiösen oder politisch-religiösen Gedankenwelten wie dem Kommunismus und der moslemischen Umma der Fall ist.

    (B) Unter anderem das Fehlen der Notwendigkeit, diese Idee nach innen und außen verteidigen zu müssen, hat spätestens nach dem Niedergang des Kommunismus dazu geführt, dass der dionysische, sich an seiner moralischen Vortrefflichkeit berauschende Typus vollends Oberhand bekam. Er ist es, der sich in der heutigen politischen und publizistischen Canaille und ihren Mitläufern überwältigend manifestiert. Es verhält sich wie bei einem Immunsystem, das dann, wenn es in einer Richtung unterbeschäftigt ist (z.B. Infekte), beginnt, mit seinen freien Valenzen in der anderen Richtung Unsinn anzustellen (z.B. Allergien).

    (C) Aus der Forderung, dass alle Menschen gewisse gleiche Rechte haben SOLLEN, wurde die Forderung, dass die FAKTISCHEN Lebenswelten aller Menschen das gleiche Recht haben. Und das, obgleich die meisten dieser Lebenswelten der übergreifenden Idee der Menschenrechte ablehnend gegenüberstehen. So ist es lehrreich zu sehen, was z.B. der Islam in der der sog. Kairoer Erklärung aus den Menschenrechten macht; das hätte, mit den entsprechenden Wortersetzungen, auch Stalin unterschreiben können.

    (D) Der unbegrenzte Universalismus mutierte so zum unbegrenzten Relativismus. Ganz so, wie wenn man sich auf einem Kreis um 180 Grad und mehr bewegt und schnurstracks dort landet, wo man auch gelandet wäre, wenn man von der anderen Seite gekommen wäre. In der Tat gibt es zwischen „Rechten“, die Kulturen gegeneinander absetzen und ihnen das Recht zusprechen, über ihre Mitglieder nach Belieben zu verfügen, und den entsprechenden „Linken“ viele Parallelen. Der gemeinsame Feind ist der Einzelne, das gemeinsame Kultobjekt das Kollektiv.

    (E) Was praktisch zählt, ist die Lebenswelt, die realisiert werden wird. Vermutlich ein Partikularismus, in dem sich am Ende der Stärkste, Skrupelloseste durchsetzt. Es ist erhellend zu sehen, wie die vornehmlich von sog. Linken/Grünen mit Energie betriebene Entgrenzung des hiesigen Wertesystems und Paralyse seines Immunsystems ein Vakuum schafft, das dann nach aller Wahrscheinlichkeit der Islam mit all seiner Antiintelligenz, Antisensibilität, Antikultur (siehe nur Musik, Theater) und geistigen Friedhofsstille in überraschend kurzer Zeit ausfüllen wird. Dahin gehört auch, dass der sog. Feminismus mit dem Misstrauen, das er zwischen den Geschlechtern sät, faktisch das Terrain vorbereitet, auf dem der Islam die umfassende Geschlechtertrennung einführen kann.

    (F) Der Unterschied zur Zerstörung der römischen Kultur – soweit die Quellenlage Schlüsse zulässt – scheint mir darin zu liegen, dass seinerzeit das Moment der genussvollen intellektuellen Selbstzerstörung fehlte. Und das wiederum hängt mit der modernen Parabildung und massenhaften Erzeugung stark resonanzfähiger Hohlköpfe zusammen, die luxurierend, wie das Imponiergeweih des Riesenhirschs, auf den Errungenschaften aufsitzen, die vergangene Generationen schufen. Ändert sich die Umwelt dramatisch: finis cervorum civitatis.

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  9. Caesarion

    „Keine Toleranz den Intoleranten“ titelt ein Buch von Alexander Kissler aus dem Jahr 2015. Es fällt auf, dass seit diesem Zeitpunkt, explizit seit dem Herbst dieses denkwürdigen Jahres, kaum ein Begriff im politischen Diskurs so missbräuchlich verwendet wird wie das Wort Toleranz. In Ihrem Artikel weisen Sie sehr eindrücklich auf die Grenzen dieser Tugend hin, die ja viele Zeitgenossen gerne für sich reklamieren weil sie der Ansicht sind, dann auf der richtigen Seite zu stehen. Über die Konsequenzen ihrer Geisteshaltung machen sich viele dieser Menschen so lange keine Gedanken, wie sie nicht selbst betroffen sind.
    Besonders im grün-linken und linksliberalen Teil unserer Gesellschaft ist diese „Eitelkeit des Guten“, wie unlängst Alexander Meschnig titelte, ein weit verbreitetes Phänomen. Die lediglich gefühlte moralische Überlegenheit dieses Teils der Gesellschaft äussert sich dann oftmals in der Verurteilung und Ausgrenzung Andersdenkender, womit sie sich dann selbst der eigenen Intoleranz überführen – was sie aber aufgrund ihrer Deutungshoheit nicht so empfinden. Andererseits dürfen die „Pseudo-Toleranten“ nicht vergessen werden, die Gleichgültigkeit eben mit dieser Toleranz verwechseln, solange sie beim Konsumieren und Verdauen nicht gestört werden.

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