Warum man sich nicht als „Atheist“ bezeichnen sollte

Von Jürgen Fritz, Mi. 23. Okt 2019, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

„Was für eine schlaue Erschleichung und hinterlistige Insinuation in dem Wort Atheismus liegt! – als verstände der Theismus sich von selbst.“ (Arthur Schopenhauer, 1788 – 1860)

Auf keinen Fall die theozentristische Sprache übernehmen, weil das den Blick auf das Ganze bereits völlig verstellt und verschiebt

Als „Atheist“ sollte man sich deshalb nicht bezeichnen, weil das ein ideologischer Kampfbegriff einer bestimmten weltanschaulichen Gruppierung (der Theisten) ist, die ihr Weltbild ins Zentrum zu rücken versuchen und sämtliche andere weltanschaulichen Parteien an die Peripherie drängen wollen. Bestimmte Monotheisten, Untergruppen einer Untergruppe einer Untergruppe, wollen sogar seit weit über tausend Jahren alle anderen Weltanschauungen – sowohl alle metaphysisch asketischen solchen als auch andere metaphysische Spekulationen (andere metaphysische Hedonismen) – ausrotten.

Wer diese zutiefst parteiische, theozentristische Sprache übernimmt, blickt auf sich selbst schon nicht mehr neutral, nicht mehr sachadäquat, sondern schon durch die getrübte Brille dieser Untergruppierung der Theisten, sieht sich selbst mithin schon durch deren Augen, gibt damit die Deutungsmacht aus der Hand, macht die Verschiebung des gesamten Spektrums mit, die zum Ziel hat, eine bestimmte Untergruppierung einer bestimmten Partei ins Zentrum zu rücken und übernimmt eine nicht sachadäquate Klassifizierung.

Metaphysische Asketen und metaphysische Spekulanten bzw. metaphysische Hedonisten

Was es gibt, ist folgendes und das wäre gleichsam eine sachadäquate Einteilung, wobei die Reihenfolge (1 und 2) natürlich auch gedreht werden könnte: 1. metaphysisch asketische und 2. metaphysisch spekulative Weltanschauungen bzw. metaphysische Hedonismen.

Letztere geben sich letztlich ihrem zum Jenseits gelenkten Eros (Begehrungsvermögen, niedrigster Seelenteil) hin, der nicht auf erkennen wollen (Logos, höchster Seelenteil) und nicht auf sein wollen (Thymos, mittlerer Seelenteil), sondern auf haben wollen ausgerichtet ist, hier: Trost, ewiges Leben und Gottesnähe haben wollen, die mithin ewige Genüsse, ewiges Wohlsein und ewiges Glück begehren (Hedonismus).

Der metaphysische Asket (altgriechisch: ἀσκεῖν = askeín = üben, Askese = Übung, Selbstschulung, angestrebt wird die Erlangung von Tugenden oder Fähigkeiten, Selbstkontrolle (Eroskontrolle) und Festigung des Charakters, nicht nur, aber auch durch Verzicht) verzichtet auf solche den Eros befriedigenden Spekulationen in Bezug auf ein kontingentes Jenseits (Transzendenz).

Der metaphysische Asket übt sich mithin in Bescheidenheit auf solche Spekulationen. Er übt sich in Zurückhaltung, in intellektueller Redlichkeit, in moralischer Integrität, weil er von sich Ehrlichkeit gegen sich selbst einfordert und Verzicht auf solch süße Verlockungen, die den Charakter korrumpieren würden, ließe er sie in sich ein, weil sie gleichsam die Unwahrhaftigkeit ins Innerste der Seele einziehen lassen würden, Wahrhaftigkeit aber eine der höchsten Tugenden ist.

Sachadäquate Einteilung der Weltanschauungen

Eine der Sache angemessene Einteilung der Weltanschauungen würde etwa wie folgt aussehen, wobei die Reihenfolge 1 und 2 natürlich auch gedreht werden kann:

1. Metaphysisch asketische Weltanschauungen, die sich nicht in Spekulationen über ein kontingentes Jenseits ergehen, die ein solches weder postulieren noch beschreiben, was dort angeblich sei, die also zurückhaltend sind, weil man dies schlicht nicht wissen kann. Metaphysische Asketen üben also diesbezüglich Verzicht, was bisweilen Charakterstärke und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber verlangt, weil die erotischen Versuchungen, sich ein entsprechend ausgemaltes Jenseits vorzustellen, bisweilen sehr mächtig und verführerisch sein können (dazu unbedingt im Koran lesen, wo diese Genüsse sehr plastisch geschildert sind, im Christentum ist der Eros mehr auf etwas höhere Genüsse gelenkt).

2. Metaphysische Spekulationen: All diese Weltanschauungen sind vom Eros angetrieben und können unter einen grenzenlosen Hedonismus (altgriechisch ἡδονή = hēdonḗ = Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde) subsumiert werden, wobei diese Genusssucht quasi über das Irdische, über die Immanenz hinaus ausgedehnt wird. Metaphysische Spekulanten üben sich nicht wie Asketen in Verzicht auf diese Ausmalungen eines kontingenten Jenseits, sondern postulieren a) eine zweite Welt, eine Transzendenz und geben b) vor, sie (in vielen Untergruppen und Unteruntergruppen: und nur sie!) wüssten, was dort sei.

Die Kriegslüsternheit der metaphysischen Spekulanten (Hedonisten)

In der Beschreibung dieser postulierten Transzendenz gibt es hunderte oder tausende von Gruppen (Parteien), die dieses kontingente Jenseits alle unterschiedlich beschreiben. Sie alle sagen nicht: „So stelle ich mir die Welt vor und das hilft mir, damit komme ich besser als ohne solche Vorstellungen zurecht (Askese überfordert mich), vielleicht ist es aber nur ein Konstrukt, das gar nicht wahr ist, das ist mir egal, Hauptsache es hilft mir“, sondern sie alle behaupten: „So ist die Welt“.

Damit widersprechen sie sich alle, denn jede Partei, jede Weltanschauungsgruppe und sogar die Untergruppen und die Unteruntergruppen dieser metaphysisch höchst spekulativen Weltanschauungsparteien bekämpfen sich gegenseitig seit Jahrtausenden bis aufs Blut. In Europa tobte von 1618 bis 1648 ein Krieg, 30 Jahre, eine ganze Generation lang!, der unfassbare materielle und seelische Verwüstungen angerichtet hat, die sich der moderne Mensch kaum noch vorzustellen vermag, ein Krieg, der nicht nur, aber auch sehr stark metaphysisch spekulativ motiviert war. Im Nahen Osten toben seit Jahrzehnten ständig Kriege zwischen Sunniten und Schiiten, im früheren Indien, jetzt Indien und Pakistan zwischen Hindus und Muslimen, in Myanmar derzeit zwischen Buddhisten und Muslimen usw. usf.

Parteien und Unterparteien in der Partei der metaphysischen Spekulanten

Die Weltanschauungsgruppe der metaphysischen Spekulationen bzw. metaphysischen Hedonismen unterteilt sich wiederum in verschiedene Untergruppen, die sich dann teilweise wieder in Unteruntergruppen aufteilen (daher Parteien, Partei = Teil von einem Ganzen), die sich oft spinnefeind sind:

a) Metaphysische Spekulationen ohne Wesen im Jenseits (Glaube an die ewige Wiederkehr, das Nirwana und dergleichen mehr)

b) Metaphysische Spekulationen mit personenartigen Wesen im Jenseits.
b1) mit genau einem Gott (Monotheismen = Ein-Gott-Weltanschauungen)
b2) mit vielen Göttern (Polytheismen = Viele-Götter-Weltanschauungen).

Innerhalb der Monotheismen gibt es wiederum verschiedene Ein-Gott-Weltanschauungen, die sich dann meist wiederum in Unterunteruntergruppen aufspalten.

Hier eine Liste von 1. metaphysisch asketischen und 2. metaphysisch spekulativen (hedonistischen) Weltanschauungen, die zeigt wie viele Untergruppen es gerade bei 2. gibt, was zeigen dürfte, wie vielfältig die menschliche Phantasie bei der Ausmalung der postulierten und spekulativ angenommenen Jenseitsvorstellungen ist.

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