Wenn die Fairen den anderen das Feld überlassen

Von Jürgen Fritz, Sa. 21. Dez 2019, Titelbild: YouTube-Screenshot, Nancy Kerrigan

Ein herrschaftsfreier, fairer Diskurs erfordert intellektuelle Disziplin. Vor allem aber setzt er voraus, dass beide ein solches Gespräch überhaupt wollen. Was, wenn die eine Seite sich dem durch Diskursvermeidungsstrategien systematisch zu entziehen sucht oder noch schlimmer: jede offene, ehrliche, faire Erörterung mit brachialer Gewalt verhindert?

Intellektuelle Disziplin als Voraussetzung eines fairen Gesprächs

Zur intellektuellen Disziplin gehört die Fähigkeit, beim Thema zu bleiben, was natürlich voraussetzt, dass dieses überhaupt erkannt wird. Das schließt nicht aus, das Thema X in einen größeren Zusammenhang zu bringen, zum Beispiel die Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit) mit Y oder die historische Genese von X aufzuzeigen, und so das Dahinter quasi zu beleuchten, um das behandelte Thema in einem größeren Kontext zu erfassen, dadurch besser einordnen zu können und tiefer zu verstehen.

Intellektuelle Disziplin schließt aber aus Whataboutism (Ablenkung von unliebsamer Kritik durch Hinweise auf andere wirkliche oder vermeintliche Missstände: „der hat doch auch“) sowie andere Ad-hominem-Schein-/Ablenkungs-Argumente (zur Person reden, die etwas vorträgt, statt zu dem Vorgetragenen: „Ach der, was weiß der denn schon? Der ist doch ein AfD-ler, Linker, Rechter, Jude, Lobbyist, alter weißer Mann, war bei Black Rock, gehört zur Mainstreampresse…“).

Intellektuelle Disziplin schließt auch aus, nur Schlagworte aufzuschnappen, ohne den Sinn des Gesagten oder Geschriebenen zu erfassen, und dann über das Schlagwort (Trigger) rein assoziativ auf ein völlig anderes Thema Y oder Z zu springen (Themenhopping).

Intellektuelle Disziplin ist eine Schlüsselkompetenz für Diskursfähgikeit und Gesprächskultur, welche wiederum Zivilisiertheit mit ausmacht.

Diskursvermeidungsstrategien: Warum herrschaftsfreie Sachgespräche so selten klappen

Liegt es an mangelnder Zivilisiertheit und mangelnder Diskursfähigkeit, weil die intellektuelle Disziplin fehlt? Nun, oft fehlt es schon an den Grundvoraussetzungen für einen solches Gespräch. Ein herrschaftsfreier Diskurs setzt ja voraus, dass beide beziehungsweise alle Seiten diesen überhaupt wollen und dass alle entweder ein echtes Erkenntnisinteresse haben (wissen wollen, wie es wirklich ist) oder bei Interessenskonflikten ein Konsensinteresse.

In einem herrschaftsfreien Diskurs herrscht aber natürlich doch etwas. Kein Streitgespräch ist frei von Herrschaft. Was die Herrschaft in einem solchen Diskurs ausübt ist aber keine Person, die körperlich stärker, wirtschaftlich mächtiger oder durch Position oder Status überlegen ist, sondern es herrscht etwas anderes: die Kraft der Fakten und der besseren Argumente. Ein solcher Diskurs wird also letztlich nur dann glücken, wenn beide respektive alle bereit sind, sich den Fakten und besseren Argumenten zu unterwerfen.

Wenn nun aber einer weiß oder ahnt – ganz dumm sind die Leute ja fast nie und für die raffinierten gilt das folgende umso mehr -, dass er die deutlich schlechteren Argumente und viel weniger Fakten für seine Position ins Feld führen kann, welches Interesse sollte er dann haben, sich überhaupt auf einen herrschaftsfreien Sachdiskurs einzulassen? Sagen darf derjenige das aber natürlich nicht. Gäbe er es offen und ehrlich zu, stünde er ja sofort wie der Gelackmeierte da: „Der hat überhaupt keine Argumente“ oder noch schlimmer: „Der kann überhaupt nicht sachlich diskutieren“, „Der ist nicht bereit, sich einem offenen, ehrlichen Gespräch zu stellen“ usw.

Was wird derjenige ohne Erkenntnisinteresse, ohne Konsensbereitschaft oder mit nur schwachen Argumenten also tun? Er wird natürlich einfach versuchen, den herrschaftsfreien Sachdiskurs zu untergraben, sei es dass er versucht, vom Thema abzulenken, die Person des Opponenten angreift und versucht, diese grundsätzlich zu diskreditieren. Oder er wird versuchen, den anderen zu emotionalisieren, so dass der auch unsachlich wird, usw. usf.

Der Einsatz von Gewalt zur Vermeidung eines fairen Wettbewerbs

Ein Tennis-/Tischtennis-/Badminton-Match oder eine Schachpartie setzen voraus, dass beide miteinander spielen wollen. Wenn einer das gar nicht kann oder nur sehr viel schlechter als der andere, dann kommt kein richtiges Match, keine richtige Partie zustande. Wenn nur zum Spaß gespielt wird, mag der Schlechtere seine Niederlage noch hinnehmen. Wenn es dabei aber um sehr, sehr viel geht, wird der Schwächere meist geneigt sein, zu bescheißen oder noch besser: den anderen schon vor dem Match kampfunfähig zu machen, indem er ihm zum Beispiel vor dem Match Abführmittel in den Tee schüttet, den Gegner besticht oder ihm die Beine bricht.

Denken Sie an den Fall von Tonya Harding, die Anfang 1994 auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan (siehe Titelbild) während des Trainings zur US-amerikanischen Meisterschaft ein Attentat verüben ließ. Ihr damaliger Ehemann beauftragte und bezahlte den Attentäter, der Nancy Kerrigan mit einer Eisenstange auf die Beine schlug, so dass diese den Wettbewerb nicht fortsetzen konnte. Tonya Harding gewann anschließend die US-amerikanischen Meisterschaften. Manchmal macht das auch ein Fan des Einen, der einen Konkurrenten so ausschaltet. Denken Sie an die Antifa, die für die Linkspartei, die Grünen, die SPD und inzwischen auch für die Merkel-CDU marschiert und zuschlägt.

Oder denken Sie an das Messerattentat 1993 auf Monica Seles am Hamburger Rothenbaum. Die 19-jährige Seles war damals die beste Tennisspielerin der Welt, dominierte die Tennisszene schon seit zwei, drei Jahren und hätte womöglich eine der größten Spielerinnen aller Zeiten werden können. Doch dann rammte ihr der aus Thüringen kommende, erwerbslose paranoide Verehrer von Steffi Graf Günter Parche beim Seitenwechsel ein langes Schlachtermesser in den Rücken. Von diesem Anschlag hat sich Seles psychisch niemals ganz erholt, erreichte nie wieder die Spielstärke, die sie hatte, und Parche erreichte sein Ziel: Steffi Graf wurde wieder die Nr. 1.

Die mosaische Unterscheidung

Es gibt viele Möglichkeiten, ein faires Kräftemessen überhaupt nicht erst zustande kommen zu lassen, wenn man sich dem nicht stellen will. Man kann zum Beispiel auch verhindern, dass der Opponent die Arena überhaupt auch nur betreten kann, indem man zum Beispiel nicht in TV-Sendungen einlädt, ihm damit gar keine Möglichkeit gibt, seine Argumente vorzutragen, so dass der Großteil der Bevölkerung diese gar nicht zu Ohr bekommt, siehe das ZDF, welches nun über seinen Chefredakteur Peter Frey verlautbaren ließ, dass Björn Höcke nie wieder eingeladen wird.

Oder Sie wählen die ganz drastische Methode, dass alle, die Ihre Sicht in Frage stellen, ja nur den leisesten Zweifel äußern, gleich totgeschlagen werden, damit gar nicht erst ein Diskurs aufkommt und alle wissen, was ihnen zukünftig blüht, wenn sie nicht parieren. Siehe die alttestamentliche Schilderung – die Mosaische Unterscheidung, wie es der Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann nennt -, als Moses die Leviten an einem Tag 3.000 Männer, die eigenen Brüder erschlagen lässt:

»Mose stellte sich an den Eingang des Lagers und rief: »Wer auf der Seite des HERRN steht, soll herkommen!« Da versammelten sich alle Leviten bei ihm. Er sagte zu ihnen: »Der HERR, der Gott Israels, befiehlt euch: ›Legt eure Schwerter an und geht durch das ganze Lager, von einem Ende zum anderen. Jeder soll seinen Bruder, seinen Freund oder Verwandten töten!‹« Die Leviten gehorchten, und an diesem Tag starben etwa 3000 Männer.« (2. Buch Mose, 32, 26-28).

Ob Judentum, Christentum oder Islam, alle monotheistischen Weltreligionen sind Kinder einer Revolution: der Ablösung der vielen Götter (Polytheismus) durch den alleinigen Gott (Monotheismus). Diese Umwälzung brachte für unsere Vorstellung von der Welt, für unser Menschenbild und für unsere Moral fundamentale Veränderungen mit sich, die Jan Assmann im Gegensatz zu den polytheistischen Weltanschauungen als wohl tiefste Quelle von Ausgrenzung, Intoleranz, Hass und Gewalt herausgearbeitet hat.

Wenn die Fairen den anderen das Feld überlassen

Den meisten europäischen bzw. westlichen Christen konnte das in einem jahrhundertelangen mühevollen Aufklärungsprozess weitgehend ausgetrieben werden. Doch einen solchen Prozess hat im Grunde die gesamte islamische Welt niemals durchgemacht. Hier werden sogenannte Apostaten (Abtrünnige, die sich der Religion abwenden) zum Teil noch immer mit dem Tode, fast überall aber mindestens mit sozialer Ausgrenzung und massiven Straften bedroht. Einer Diskussion der Richtigkeit der islamischen Weltanschauung respektive Ideologie wird sich fast vollständig entzogen und wer es wagt, diese anzuzweifeln, riskiert regelmäßig seine Gesundheit, wenn nicht sogar sein Leben.

Das Prinzip ist immer das Gleiche: Jemand entzieht sich dem herrschaftsfreien, dem offenen, dem ehrlichen, dem sachlichen, dem fairen Diskurs und setzt, um diesen zu verhindern, sogar brachiale Gewalt ein. Damit ist die Partie schon vor dem ersten Ballwechsel beziehungsweise vor dem ersten Zug auf dem Brett entschieden und der argumentativ und meist wohl auch in der Sache Schlechtere hat gewonnen, sofern diese Gewalt nicht ihrerseits mit Gewalt unterbunden wird – Gewalt nicht um dem anderen das Eigene aufzuzwingen, sondern um einen fairen Wettbewerb überhaupt erst zu ermöglichen. So wie ein Schiedsrichter über die Gewalt verfügen muss, Spieler, die andere permanent grob foulen, vom Platz zu verweisen. Einer der vielen Punkte, die der Nazarener nie verstand und die all die Pazifisten bis heute nicht verstehen, und damit den Gewaltmenschen und Diskursunterdrückern das Feld überlassen.

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