Warum Moral in der Politik wichtig und was von Trump zu halten ist

Von Jürgen Fritz, Fr. 03. Apr 2020, Titelbild: YouTube-Screenshot

Joseph Nye ist einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen. In seinem neuen Buch „Do morals matter?“ (Warum Moral in der Außenpolitik wichtig ist), legt er eine prägnante, eindringliche Analyse der Rolle der Ethik in der amerikanischen Außenpolitik vor. Dabei arbeitet er alle 14 Präsidenten von Roosevelt bis Trump durch und bewertet ihre Außenpolitik anhand von drei ethischen Dimensionen: a) ihrer Absichten, b) der von ihnen eingesetzten Mittel und c) der Konsequenzen ihrer Entscheidungen. Daneben bewertet er auch ihre Führungsqualitäten und arbeitet heraus, welche Ansätze funktionieren und welche nicht. Dem Tagesspiegel gab Nye diese Woche ein sehr interessantes Interview.

83 und kein bisschen müde

Joseph Nye, Jahrgang 1937, ist inzwischen 83 Jahre alt. Einst studierte er in Oxford Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre, promovierte zum Dr. phil. an der Harvard University. Schon mit 27 Jahren trat er dem Lehrkörper der Harvard Faculty bei, lehrte zusätzlich in Genf, in Ottawa (Kanada) und in London. Außerdem war er in verschiedenen Regierungsdienstellen tätig, unter anderem im US-Außenministerium. 1993, 1994 war er zudem Vorsitzender des National Intelligence Councils, welches die Nachrichten und Analysen aus dem In- und Ausland für den US-Präsidenten und der amerikanischen Regierung koordiniert und vorträgt. Von 1994 bis 1995 war er schließlich stellvertretender US-Verteidigungsminister. 1995 wurde Nye Dekan der Harvard’s John F. Kennedy School of Government. Er ist Vorsitzender der Trilateralen Kommission für Nordamerika.

Darüber hinaus ist Joseph Nye unter anderem Senior-Mitglied im Aspen Institute und Direktor der Aspen–Strategy–Group, kümmert sich hier um die Beziehungen zwischen den USA und anderen Staaten, vor allem Europa. 2005 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität St. Gallen. 2010 verlieh ihm die Keiō-Universität die Ehrendoktorwürde.

Joseph Nye

Joseph Nye, YouTube-Screenshot

Seine Forschungsarbeiten haben sich stets mit Problemen von Staat und Macht im Zusammenhang auf internationale Abhängigkeiten und Globalisierung beschäftigt. Unter seinen zahlreichen Publikationen zählen vor allem folgende drei Bücher zu den wichtigsten: 1. Bound To Lead: The Changing Nature of American Power (Gebunden an die Führung: Die sich verändernde Natur der amerikanischen Macht, 1990), 2. Das Paradox der amerikanischen Macht (2003), 3. Soft Power: The Means to Success in World Politics (Soft Power: Die Mittel zum Erfolg in der Weltpolitik, 2004). 

Ist Moral wichtig?

Im Dezember 2019 brachte Nye nun ein neues Buch heraus: Do Morals Matter? – Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump (Ist Moral wichtig? – Präsidenten und Außenpolitik von Roosevelt bis Trump). Dem Tagesspiegel gab Joseph Nye diese Woche ein sehr interessantes Interview zu seinem neuen Buch, in welchem er eine Art „ethisches Punktesystem“ entwickelt und anhand dieses Systems die Außenpolitik der 14 letzten US-Präsidenten ab Franklin D. Roosevelt (1933-1945) bewertet.

Doch wie genau macht er das, wollte der Tagesspiegel wissen. „Ich bewerte erstens die Motive und Absichten, zweitens die Mittel, die in der Außenpolitik des jeweiligen Präsidenten zum Einsatz gekommen sind, und drittens die Konsequenzen“, so Nye. Vergleiche dazu hier und siehe das folgende Schaubild, welches die drei großen klassischen moralphilosophischen Ansätze, Tugendethik / Deontologie (Pflichtethik) / Teleologie (Konsequentialismus), zeigt:

Tugendethik-Deontologie-Teleologie (2)

Natürlich gebe es keine einfache mathematische Formel für das ethische Verhalten eines Präsidenten, erläutert der 83-Jährige. Doch gebe es in der öffentlichen Debatte oft Argumente, die noch viel einfacher seien, wie „Wir sind die Guten – also ist es gut, was wir tun.“ Mit seinem Modell wolle er ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man verschiedene Dimensionen gegeneinander abwägen müsse, um zu moralischen Urteilen zu kommen.

Trump kann noch nicht abschließend beurteilt werden, aber bisher sind seine Leistungen eher unzulänglich

Roosevelt (1933 – 1945), Truman (1945 – 1953) und Eisenhower (1953 – 1961) würden, wenn man diese drei Kategorien anlege, in seinem Ranking im obersten Viertel landen. Sie hätten die Machtposition, die die USA nach dem Ersten Weltkrieg erlangt haben, „sehr breit interpretiert und wollten diese Macht nicht nur zum Wohl des eigenen Landes, sondern auch zum Wohl anderer Länder einsetzen“. Auch George Bush senior (1989 – 1993) beziehe er in diese oberste Kategorie mit ein. Bush senior habe versucht, mit dem Ende des Kalten Krieges eine Weltordnung zu etablieren, die mit den Werten der Verantwortung für andere im Einklang stand.

Im untersten Viertel würden dagegen unter anderem Lyndon B. Johnson (1963 – 1969) landen, weil er den Vietnamkrieg eskalierte. Ebenso und aus ähnlichen Gründen Richard Nixon (1969 – 1974) und weil er das Vertrauen in die Politik zerstört habe. Außerdem George W. Bush (2001 – 2009), „vor allem wegen des Einmarschs im Irak“.

Und was ist mit Donald Trump? Was Trump anbelange, sei es noch zu früh, eine abschließende Bewertung abzugeben. Aber seine Leistungen seien bislang eher unzulänglich, er brauche dringend Nachhilfe, so Joseph Nye.

In der Außenpolitik braucht es vor allem Kontextintelligenz

Wichtige Eigenschaften, die eine Führungspersönlichkeit haben sollte – und sie seien wichtig, um moralische Urteile zu fällen – seien Kontextintelligenz und auch emotionale Intelligenz. Jeder, der eine Entscheidung moralisch abwäge, sollte seine Absichten, die nötigen Mittel und mögliche Konsequenzen abwägen. Um zu einem guten Urteil zu kommen, müsse man möglichst viele Informationen haben, auch um nicht beabsichtigte Folgen abschätzen zu können. Das meine er mit „Kontextintelligenz“.

Bush senior habe diese zum Beispiel besessen. „Er war gebildet, besonders in den internationalen Beziehungen.“ Sein Sohn hingegen hätte sich vor allem mit der heimischen Politik ausgekannt, ihm fehlte aber der Sinn für die Komplexität der internationalen Beziehungen. Daher sei er weniger gut in der Lage gewesen, nicht beabsichtigte Folgen abzuschätzen. Sein Vater habe 1991 entschieden, nicht zu versuchen, Bagdad einzunehmen, da er die Gefahr gesehen habe, dass er die Unterstützung Verbündeter verlieren könnte. Bush junior dagegen „behauptete, der Einmarsch nach Bagdad werde ein ‚cakewalk‘, ein Kinderspiel“ sein. Das sei ein gutes Beispiel für das Fehlen von Kontextintelligenz.

Realismus ist die Basis, Liberalismus und universale Menschenrechte müssen aber dazu kommen

Außer dem moralischen Kompass habe jeder Präsident eine „mental map“, eine Vorstellung von der Welt. Die am weitesten unter amerikanischen Präsidenten verbreitete Weltsicht sei wohl der Realismus, so Nye. Dazu gehöre die Vorstellung, dass es in den internationalen Beziehungen keine übergeordnete Regierung geben könne, dass es sich quasi um ein chaotischen System handele, in dem jeder sich selbst helfen müsse und in dem Vorsicht die wichtigste Tugend und ein Gleichgewicht der Macht das wichtigste Ziel sei.

Eine zweite Weltsicht sei der Liberalismus. Liberale Außenpolitiker gingen davon aus, dass die internationale Anarchie Grenzen habe und Regeln möglich seien. Kosmopoliten glaubten an die weltumfassende Gültigkeit von Menschenrechten und eine Gesamtverantwortung aller für alle. Sie messen dem Nationalstaat daher eine geringere Bedeutung bei.

Welche Weltsicht aus moralischer Perspektive denn die „höherwertige“ sei, fragte darauf der Tagesspiegel. Aus Nyes Sicht sei der Realismus kein schlechter Ausgangspunkt für die Außenpolitik eines Präsidenten, aber niemand könne alleine darauf stehen bleiben. Denn sonst würde Realismus zu einer Ausrede für das Nicht-Handeln. Ein gutes Beispiel sei hier die Reaktion von Donald Trump auf den Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul. Trump habe darauf im Grunde mit einem Schulterzucken reagiert. Er „suggerierte, der Vorfall sei es nicht wert, Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien zu gefährden.“

Trump ist wohl am ehesten ein primitiver Realist

Insgesamt sei Donald Trump „eine Ausnahmeerscheinung“, „dermaßen selbstbezogen“, dass man ihn in keine der traditionellen Kategorien einordnen könne. Sicher sei er kein Liberaler oder Kosmopolit. Vielleicht könne er als primitiver Realist gelten, allerdings fehle ihm dazu die Fähigkeit zur umsichtigen Abwägung.

Es sei zwar noch zu früh, das abschließend zu beurteilen, aber die Coronakrise werde wohl das Bewusstsein für transnationale Gefahren stärken, die von keinem Land allein bekämpft werden könnten. In Zukunft werde es nicht mehr darum gehen, Macht über andere Länder zu haben, sondern Macht mit anderen Ländern. Ähnliches gelte für den Klimawandel. Trump habe in der jetzigen Krise die Grenzen der USA für Europäer aus dem Schengenraum geschlossen, ohne sich mit Europa abzusprechen. Nye glaubt nicht, dass wir in Zukunft solche Dinge tun könnten, ohne uns vorher abzustimmen.

Die Coronakrise habe Donald Trump insgesamt stark geschwächt. Anfangs nannte er die Krise einen Witz, eine Medienhysterie. Damit habe er wohl die Börsen beruhigen wollen. Doch das habe ja nicht so richtig geklappt. Letztlich werde er als jemand dastehen, „der als politischer Führer versagt hat. Außerdem werden wir in eine Phase der Rezession rutschen.“ Die Aussichten seiner Wiederwahl werden nach Einschätzung von Joseph Nye stark sinken. Doch der Harvard-Professor fügt hinzu: „Aber seit 2016 wissen wir ja auch, dass die Politik voller Überraschungen ist. Man sollte keine Vorhersage mehr für bare Münze nehmen – auch meine nicht.“

Ohne Berücksichtigung der Moral versteht man weder die Vergangenheit noch die Zukunft

Und die Abschlussfrage des Tagesspiegels, ob Moral (in der Politik) wichtig sei, beantwortet Nye wie folgt: Ein Freund habe ihm einmal gesagt, die Hauptzutat des außenpolitischen Kuchens seien Interessen, die Moral sei nur der Zuckerguss, der ihn hübsch aussehen lasse. „Aber wenn Sie Moral nicht berücksichtigen“, fügt er hinzu, „werden Sie die Geschichte nicht verstehen – und die Zukunft auch nicht.“

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