Von Jürgen Fritz, Fr. 19. Jun 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons
Wenn man vom Anfang der Philosophie – und damit auch dem wissenschaftlichen Denken – spricht, stellt sich natürlich die Frage nach dem Vorher. Auch die Menschen vor dieser Zäsur, vor dieser Wendezeit des menschlichen Geistes hatten das Bedürfnis nach Sicherheit und Ausrichtung in der Welt. Was gab ihnen Halt und Orientierung? Es war dies der Mythos.
Das mythische Denken
Im Mythos wurden meist Götter als Ursachen der Entstehung der Welt und der natürlichen Phänomene angesehen. Diese Erzählungen waren dabei nicht metaphorisch gemeint, sondern suggerierten, wahr zu sein. Genauer: Die Menschen dieser Ära nahmen, ähnlich wie kleine Kinder, die Mythen wie selbstverständlich auf und kamen noch gar nicht auf die Idee, die Wahrheitsfrage zu stellen, denn der Wahrheitsbegriff setzt den Falschheitsbegriff voraus. Nur da, wo es ein Falsch gibt, kann es ein Wahr geben. Ohne das Bewusstsein, dass eine Vorstellung oder eine Rede falsch sein kann, die Wirklichkeit also nicht richtig wiedergibt, auch kein Bewusstsein von Wahrheit.
Ihrem Charakter nach waren die alten Mythen personal (Bezug auf Göttergestalten) und transzendent (Bezug auf die jenseitige Götterwelt). Ursprünglich handelte es sich um mündlich weitergegebene Erzählungen, die gegen Ende des mythischen Zeitalters in Griechenland auch schriftlich aufgezeichnet wurden, so in Homers: Ilias (wahrscheinlich im 8. Jahrhundert v. Chr. verfasst) und Odysee (wahrscheinlich um die Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr.) und in Hesiods: Theogonie (um 700 v. Chr.). Dieses mythische Denken wurde im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. schrittweise abgelöst, wenngleich sich auch noch sehr lange danach mythische Elemente in der Philosophie finden. Selbst heute, zweieinhalb Jahrtausende später, finden sich im Denken sehr vieler Menschen noch viele mythische Elemente, ganz stark natürlich bei Verschwörungsgläubingen. Ja, das Bedürfnis nach Mythen scheint geradezu in uns angelegt zu sein.
Entstehung und Wesen der Philosophie
Die Philosophie ist dem Bedürfnis des denkenden Menschen entsprungen, über sich selbst und sein Dasein in dieser Welt zur Klarheit zu gelangen. So lassen Platon und Aristoteles das philosophische Denken mit der staunenden Verwunderung beginnen, also mit der Loslösung und der naiv unbefangenen Hinnahme des Lebens und der Umgebungswelt mit ihren Rätseln, und mit dem Erwachen der Selbstbesinnung, die zuerst all diese Rätsel als Rätsel erkennt. So wäre denn die Philosophie, ihrer ursprünglichen Absicht nach, eben das Ergebnis der Selbstbesinnung und Selbstorientierung des Menschen im Leben, wie in der Welt. Und dieses oberste Ziel hat sie im Wesentlichen immer beibehalten.
Das Wort „Philosophie“ setzt sich bekanntlich zusammen aus „philia“ (Liebe) und „sophia“ (Weisheit, Wissen, Einsicht, Wissenschaft). Spätestens seit Sokrates – Ich weiß, dass ich nichts weiß – sieht der philosophische Geist sich hierbei nicht als im Besitz des Wissens und der Weisheit, sondern als ein Strebender, dem es darum geht, zur Erkenntnis zu kommen, wobei dieses Zur-Erkenntnis-kommen als unabschließbarer Prozess angesehen wird. Bereits seit der Antike gilt der Anspruch, weise zu sein, oft als Anmaßung und infolgedessen die Beschränkung auf die Philosophia – im Sinne der Weisheits- und Wahrheitssuche – als Gebot der Bescheidenheit. Der Philosoph ist mithin immer ein Suchender, ein Strebender, der sich nicht anmaßt, im Besitz des letztgültigen Wissens und der absoluten Weisheit zu sein, diese aber stets anvisiert und zur Leitlinie seines Strebens macht.
Das Verhältnis zur Gewalt
Deshalb wäre es auch zutiefst unphilosophisch, einem anderen Menschen physische Gewalt anzutun, um seine Position durchzusetzen, weil einem philosophischen Geist natürlich bewusst ist, dass er nie ganz sicher sein kann, ob er nicht doch irrt und der andere Recht hat, während zwar nicht allen, aber doch vielen Religionen, besonders den abrahamitisch-monotheistischen – Judentum, Christentum, Islam – und ganz besonders der Letztgenannten Gewalt durchaus inhärent ist, siehe dazu insbesondere Jan Assmanns Untersuchungen zum Thema Monotheismus und Gewalt, der darlegte dass speziell dem Monotheismus (Ein-Gott-Glaube) im Gegensatz zu den alten Polytheismen (Viel-Götter-Glaube) die religiöse Gewalt inhärent ist.
Denn wer glaubt, im Besitz der absoluten und einzigen Wahrheit und Weisheit zu sein, die er vollkommen spekulativ und unkritisch aus einem empirisch wie logisch in keiner Weise nachweisbaren Jenseits (Tranzsendenz) ableitet und auf das Diesseits (Immanenz) appliziert, diese „Wahrheiten“ – in Wirklichkeit handelt es sich natürlich um höchst spekulative metaphysischen Annahmen – im Extremfall unter Berufung auf eben jene angeblich „höhere Wirklichkeit“ nicht ein Mal angezweifelt werden darf, da dies einem Frevel gleichkäme, der muss eigentlich, sofern er konsequent sein will, geradezu für diese ins Feld ziehen und notfalls Menschenleben für die „gute Sache“ opfern. Was ist schon so ein kleiner Frevler im Vergleich zu diesem „Höheren“?
Vom Mythos zum Logos
Aus diesen Bemerkungen dürfte klar geworden sein, dass philosophisches und wissenschaftliches Denken denselben Ursprung haben. Sie dienen der Selbstorientierung des Menschen in der Welt mit Hilfe der Ratio. Philosophie und Wissenschaften haben aber nicht nur einen Wahrheitsanspruch, sondern dieser ist auch überprüfbar. Die Philosophie hat hierbei nicht wie andere Wissenschaften einen begrenzten Gegenstandsbereich, wie zum Beispiel die Biologie den der belebten Natur, sondern fragt nach der Welt im Ganzen. Dies ist gleichsam das Gemeinsame zwischen Philosophie und Religion. In diesem Punkt berühren sie sich.
Mythos und Logos sind beides Erklärungsmethoden der Welt. Alles was uns begegnet, ja mehr als das, die Welt als Ganzes, wird versucht zu erklären. Der Mythos versucht dies durch Geschichten, Gedichte und Sagen. Meistens sind Götter Ursache aller Erscheinungen. Die sogenannten Vorsokratiker – also die frühen Denker vor der sokratischen Ära wie Thales von Milet (ca. 625 bis 548 v. Chr.) Heraklit von Ephesos (um 520 bis 460 v. Chr.), Parmenides von Elea (um 515 bis 455 v. Chr.) und viele andere – und dann Sokrates, Platon und Aristoteles stehen für den Wechsel der Methode zur Erklärung der Welt: vom Mythos zum Logos.
Überprüfbarkeit und Offenheit für Kritik
Logos steht hierbei für die rationale Erklärung der Welt, die sich nicht primär an der Schönheit der Rede oder Erzählung, sondern an der Wahrheit orientiert. Die Gedanken eines Philosophen und die Untersuchungen von Wissenschaftlern sind hierbei prinzipiell für jedermann zugänglich und überprüfbar, somit also nicht autoritär (ohne einen in dogmatischen Fragen „unfehlbaren“ Papst), nicht hierarchisch, nicht exklusiv, sondern für jedermann, der bereit ist, genau hinzuschauen und selbst zu denken, offen.
Die Ergebnisse sind im Gegensatz zu religiösen Lehren nicht gegen Kritik immunisiert, sondern genau im Gegenteil: der Erkenntnisfortschritt kommt gerade durch die Kritik an bestehenden Theorien. Einsteins 1905 veröffentlichte spezielle und 1915 veröffentliche allgemeine Relativitätstheorie waren geboren aus der Auseinandersetzung mit und der Kritik an Newtons klassischer Physik und erweiterten diese wie auch unser gesamtes Weltbild und waren somit eine Bereicherung, eine Weiterentwicklung.
Religion: eine süße, wohlschmeckende Täuschung
In den Religionen dagegen werden Mythen erzählt, beispielsweise der Paradies-Vertreibungs-Mythos, der Mythos vom auserwählten Volk oder der Mythos von Mohammeds Offenbarungen. Auch hier wird ein Wahrheitsanspruch geltend gemacht. Literarische Texte, wie beispielswiese Gedichte, Märchen, Romane, Novellen oder andere fiktionale Texte, weisen keinen Wahrheitsanspruch auf. Sie beanspruchen nicht zu erzählen, was sich wirklich zugetragen hat, oder die Welt als Ganzes zu erklären, sondern anhand einer fiktiven Geschichte oder aber als kunstvoller Ausdruck eines Inneren etwas Spezielles deutlich zu machen.
Religiöse Texte, so könnte man also provokativ formulieren, können zwar, ähnlich einem Gedicht, einer Sage oder einem Roman, durchaus tiefe Einsichten enthalten, sind aber im Grunde Märchen, die beanspruchen, keine Märchen zu sein und somit wiederum doch keine sind, da ja Märchen diesen Anspruch gerade nicht erheben. Sie kommen mithin in falschem Gewand daher, geben gleich einem Hochstapler vor, etwas zu sein, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Religion gründet daher immer auf einer Täuschung, einer süßen, für viele wohlschmeckenden, oftmals vielleicht auch hilfreichen, weil Orientierung und Halt gebend, aber dennoch einer Täuschung.
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