Die vier Formen des moralischen Universalismus

Von Jürgen Fritz, Di. 30. Jun 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

Neue Rechte attackieren gerne die ethische Position des moralischen Universalismus. Vertreten wird vielfach ein moralischer Partikularismus und Relativismus. Von den Neuen Linken übrigens ebenso. Diese widersprechen sich sogar selbst, propagieren einerseits die universalen Menschenrechte und zugleich einen Kulturrelativismus, was dem Menschenrechtsuniversalismus gerade widerspricht, der Kulturen, die die universalen Menschenrechte negieren, ja gerade nicht als gleichwertig apostrophieren kann, ohne sich gleichsam selbst zu negieren. Der Menschenrechtsuniversalismus ist ein Resultat des moralischen Universalismus, welcher wiederum in vier Formen auftritt. Doch wie hängen diese zusammen?

Alles sei relativ, meinen die kulturellen und ethischen Relativisten

Kulturrelativisten sind der Auffassung, die eine Kultur K1 mache es eben so, sie habe die Moral M1, die andere Kultur K2 mache es anders, sie habe die Moral M2. Einen übergeordneten Maßstab gäbe es nicht, also auch keine unabhängige, vom je eigenen Standort losgelöste Beurteilungsbasis, keinen unabhängigen Beurteilungsmaßstab, weil ja jeder immer schon irgendwo stünde und das, wo er steht, immer ein historisch Gewachsenes sei unter anderem historisch Gewachsenem. Sie kennen also nicht das, was Immanuel Kant die ästhetische Haltung nannte, respektive negieren deren Möglichkeit. Aus der Sicht von Kultur K1 mit der Moral M1 sei M2 seltsam oder abstrus und umgekehrt genauso. Richtig und falsch wäre somit immer relativ. Relativ wozu? Zu der jeweiligen Kultur, zu den jeweiligen Wertmaßstäben, zur jeweiligen Tradition, die in Kultur K1 nun mal anders seien als in Kultur K2.

Wenn dies tatsächlich stimmen würde, stellte sich natürlich die Frage, warum dies dann nicht auch innerhalb der jeweiligen Kultur in Untergruppen oder gar auf individueller Ebene fortgeführt wird. Innerhalb der Kultur K1 können dann, wenn es keine absolute Moral gibt, ja auch einzelne Untergruppen, zum Beispiel Räuber- oder Mafiabanden ihre je eigene Moral M1.1 und M1.2 entwickeln, die dann auch alle wieder relativ wären. Ja es könnte sogar noch weitergeführt werden, dergestalt jeder Clan, jede Familie, jedes Subjekt seine je eigene Moral M1.xy entwickelt und auch hier gäbe es kein besser und kein schlechter, weil es ja keinen übergeordneten Maßstab gibt.

Die Verallgemeinerbarkeit von moralischen Maximen als entscheidendes ethisches Kriterium

Einziger Maßstab sei angeblich, die jeweilige Tradition, nach dem Motto: „Haben wir immer schon so gemacht“, wobei mit „immer“ „schon sehr lange“ gemeint ist, als ob das ein sachliches Argument wäre. Hätten die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen, hätten sie nach einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten dann auch so „argumentieren“, genauer: reden können. Und bezüglich der Untergruppen in der Gesellschaft hat ja in der Tat jede Mafia ihren eigenen Ehrenkodex, der sich aber nur auf die eigenen Mafia-Mitglieder erstreckt, nicht auf die Menschen, die nicht zu dieser auserwählten Gruppe gehören.

Und die Verallgemeinerbarkeit von moralischen Maximen, ihre Universalisierbarkeit, ist ja gerade das Kennzeichen einer ethisch legitimierten Moral (Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) und unterscheidet sie von einer ethisch (moralphilosophisch) nicht haltbaren. Dies hat der Volksmund durchaus treffend in die vereinfachte Wendung gebracht: „Was, wenn das jeder täte?“, was deutlich mehr ist als die Goldene Regel, die nur Zweierbeziehungen erfasst, nicht aber allgemeine, gesellschaftliche Beziehungen.

Natürlich gibt es einen absoluten Maßstab

An der Stelle merken viele schon: Irgendetwas kann an dieser relativistischen Sicht, die sogar die Goldene Regel und den kategorischen Imperativ relativeren möchte, nicht so ganz stimmen. Wird zum Beispiel der Verrat nicht von allen als moralisch verwerflich als niederträchtig angesehen? Selbst wenn die Mafia 1 von dem Verrat eines Mitgliedes der Mafia 2 profitiert, weil sie dadurch die Hegemonie in ihrem Gebiet erringt, hat sie dann besonderen Respekt und Achtung vor dem Verräter, von dem sie selbst profitierte? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die meisten insgeheim wissen, dass dieser Verrat, obschon sie selbst davon profitierten, im Grunde etwas Verächtliches war, vor allem wenn er aus niederen Motiven wie zum Beispiel Habgier erfolgte? Gibt es also nicht doch einen absoluten Maßstab, der – Kultur hin, Kultur her – für alle gilt? Die Frage, was da alles dazugehört, ist natürlich nicht leicht zu beantworten. Das zu erkennen, darum muss immer gemeinsam gerungen werden. Hier geht es zunächst um das Grundsätzliche.

Die Frage mit der Mafiamoral wird uns gleich zu einigen wichtigen Unterscheidungen bezüglich des moralischen Universalismus führen. Doch zunächst eine Feststellung: Natürlich gibt es diesen absoluten Maßstab, so jedenfalls meine Behauptung als ethischer Objektivist und Universalist. Und zwar unabhängig von einem Gott als Bezugspunkt für diesen einen Maßstab, der quasi in der Frühzeit des Universalismus als Hilfskonstruktion notwendig war, damit dieser Bezugspunkt auf möglichst simple Weise verdeutlicht werden konnte, so dass auch schlichtere Geister es nachvollziehen konnten. Doch was hat es dann mit dem Universalismus genau auf sich? Inwiefern muss hier unterschieden werden?

Die vier Formen des moralischen Universalismus

In diesem Bereich, in der Frage nach dem moralischen Universalismus herrscht nach meinem Dafürhalten einige Konfusion und das Wesentliche wurde bislang von kaum jemandem herausgearbeitet. Was meine ich damit? Ich meine, dass wir verschiedene Arten des moralischen Universalismus unterscheiden müssen und dass, wenn wir dies tun, die Dinge sich lichten und wesentlich klarer werden. Der Philosoph Harald Köhl hat hier einige wichtige Unterscheidungen herausgearbeitet. Welche Formen des moralischen Universalismus gibt es also?

1. Universalismus der Forderungsadressaten

Hier geht es um die Frage, an wen die moralische Forderung sich richtet, und die Antwort lautet: an alle. Keiner soll lügen und betrügen, andere mit Gewalt unterdrücken oder ihnen absichtlich, einfach so zum Vergnügen Schmerz zufügen. Das gilt für Männer und Frauen, Junge und Alte, Schwarze und Weiße, Europäer und Asiaten usw., kurz: es gilt für alle Menschen. Jeder Mensch, genauer: jedes Vernunftwesen ist mithin ein moralisches Subjekt.

Gewisse moralische Forderungen richten sich an alle, zum Beispiel andere nicht in ihrer sexuellen Selbstbestimmung zu verletzen. Hier kann es keine Berufung auf irgendeine Tradition geben: „“Wir machen das aber schon seit über tausend Jahren so, dass wir Frauen und Kinder vergewaltigen“. Nur weil etwas schon lange so gemacht wird, ist es noch lange nicht richtig. Andere nicht zu vergewaltigen, so meine Behauptung, ist also ein universelles moralisches Gebot. Kulturen, die das so nicht sehen, sind nicht einfach anders, sie liegen in ihren Moralvorstellungen in diesem Punkt schlicht falsch und zwar absolut falsch, nicht relativ. Dies lässt sich meines Erachtens auch beweisen, das heißt, mit den Mitteln der Vernunft und der Logik herleiten, indem man einfach die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit stellt und rational prüft.

Doch dies ist nicht der einzige Universalismus. Neben dem Forderungsuniversalismus – wer sind die Subjekte, an die sich die moralischen Forderungen richten? – gibt es noch weitere. So den …

2. Begründungsuniversalismus

Der Begründungsuniversalist behauptet, dass man seine moralische Forderung jedem moralischen Subjekt gegenüber a) vernünftig begründen können muss (Habermas) und b) dies auch jedem schuldet (Kant), es also nicht nur kann, sondern es auch tut. Diese Forderung wird dem Menschenbild des mündigen Wesens gerecht. Jedes mündige Wesen hat einen Anspruch darauf, das man ihm genau erklärt, warum eine moralische Forderung als gerechtfertigt und richtig anzusehen ist.

Die Androhung von Gewalt – „Mach, was wir dir sagen, sonst brechen wir die alle Finger und die Beine“ (Mafia) oder „… sonst kommst du in die Hölle, wo du für alle Zeiten furchtbare Qualen zu erleiden hast“ (Gott) sind hierbei keine Begründung. Begründungen verlangen die Angabe von Gründen, warum die moralische Forderung richtig ist, Gründe aus denen sich die Forderung als eine richtige solche logisch zwingend ergibt.

Gewaltandrohung ist aber keine inhaltlich Begründung der Richtigkeit von Sätzen, sondern bewegt sich rein auf der Motivationsebene, auf welcher dem Gegenüber Angst eingejagt wird. Mit rationaler Begründung der Richtigkeit von Forderungen hat dies nichts zu tun. Es kann natürlich rational sein, einer Forderung der Mafia nachzukommen, um seine Finger und Beine zu retten, aber das heißt nicht, dass die Forderung der Mafiosi richtig war. Und genau solche Begründungen liefern Mafiabanden, wie übrigens auch religiöse Systeme nicht. Hier gibt es jeweils nur Forderungen, die mit Gewaltandrohungen versehen werden. Auf eine solche rationale Begründung hat aber jedes moralische Subjekt einen Anspruch. So jedenfalls die Überzeugung des Begründunsuniversalisten.

3. Zustimungsuniversalismus

Nun kommen wir zu einer weiteren Frage: Muss denn jeder einer solchen moralischen Forderung zustimmen, damit sie gültig ist? Was, wenn einige die Begründung schlicht nicht verstehen oder wenn sie das ganze Begründungsprozedere von vorneherein ablehnen und gar nicht erst zuhören? Was, wenn sie stattdessen behaupten, sie wüssten tausendmal besser, was richtig und was falsch ist, ihr Gott, ihr Prophet, ein Guru, ein Führer oder sonst jemand, dem sie blind vertrauen, habe es ihnen gesagt, einer Begründung bedürfe es daher gar nicht?

Hier wäre meine Gegenfrage: Kann das entscheidend sein, dass jeder zustimmt? Wie ist es denn in der Mathematik, wenn jemand einen mathematischen Beweis schlicht nicht versteht, weil er der logischen Beweisführung nicht mehr folgen kann? Ist der Beweis und damit der zu beweisende Satz dadurch falsch, weil einige ihn nicht verstehen oder gar nicht erst zuhören? Oder ist er nur dann falsch, wenn jemand nachweist, dass der Beweis fehlerhaft ist? Ein Zustimmungsuniversalismus ergibt keinen Sinn, denn wenn alle erst zustimmen müssten, dann gäbe es überhaupt keine einzige moralische Regel.

Zwischenfazit

Wir haben also bisher zwei Universalismen, die überzeugend sind, den Forderungsadressaten-Universalismus: gewisse Dinge erwarten wir zu Recht (!) von jedem vernünftigen Wesen, und den Begründungsuniversalismus: jedes vernünftige Wesen darf im Gegenzug verlangen, dass man ihm genau erklärt, warum diese moralische Forderung legitim ist und von jedem gefordert werden darf.

Ein Zustimmungsuniversalismus ergibt dagegen keinen Sinn. Denn dann würden die Dümmsten und Verbohrtesten ja jede gemeinsame Regelung unmöglich machen. Doch es gibt noch einen vierten Universalismus und dieser ist in Verbindung mit dem ersten vielleicht der Schlüssel zum Verständnis der Problematik.

4. Klientenuniversalismus

Hier geht es um die Frage, nicht wer Subjekt, sondern wer Objekt (Klient, Nutznießer) einer moralischen Forderung ist, wessen Interessen, wessen Wohl also mitbedacht werden muss. Zum Beispiel könnte durchaus begründet werden, dass Tiere und Pflanzen zwar keine Subjekte von Moral sein können, denn es hätte offensichtlich wenig Sinn, einem Eisbären, einem Wal oder einer fleischfressenden Pflanze die goldene Regel oder den kategorischen Imperativ erklären zu wollen und dann von ihnen zu fordern, dass sie bestimmte Dinge fortan nicht mehr tun dürfen. Dass sie aber als fühlende Wesen oder als Lebewesen eine gewisse Achtung verdienen und zum Beispiel Tieren so wenig wie nur irgend möglich Leid zugefügt werden darf, ist wiederum rational begründbar. Das dürfte den meisten schnell einleuchten. Objekt von Moral kann man auch sein, wenn man kein moralisches Subjekt ist. Wie ist das nun aber bei Menschen?

Geistig Schwerstbehinderte könnten unter Umständen nur noch sehr bedingt moralische Subjekte sein. Das heißt, man wird vieles von ihnen gar nicht fordern können, weil sie es schlicht nicht verstehen. Damit fallen sie natürlich auch als Begründungsadressat vielleicht nicht völlig, aber weitgehend weg, aber natürlich nicht als Klient, nicht als Objekt von Moral, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen sind.

Warum man nicht Objekt einer universalistischen Moral sein kann, ohne auch Subjekt dieser zu sein, obschon man dies sein könnte

Mit dieser vierfachen Differenzierung des moralischen Universalismus verstehen wir jetzt vielleicht besser und tiefer, worin die Problematik mit Immigranten aus anderen Kulturkreisen mit einer gänzlich anderen Moral besteht. Diese müssten eigentlich sowohl Forderungsadressat als auch Begründungsadressat sein, entziehen sich aber dem oftmals, nicht weil sie geistig behindert sind, sondern weil sie a) anders geprägt sind und b) diese ihre Prägung nicht ablegen können oder wollen, womöglich sogar ihre Prägung als überlegen ansehen, ohne das aber ihrerseits vernünftig begründen zu können.

Wir erinnern uns: Gewaltandrohungen und Berufungen auf angebliche nicht sichtbare Wesen, die dann später furchtbare Gewalt ausüben, sind nicht nur keine schlüssigen Begründungen, es sind überhaupt keine Begründungen, weil sie keine Gründe angeben, warum etwas richtig ist, sondern nur Angst einjagen wollen, weil sie sich also nicht der Vernunft bedienen, sondern auf schiere Macht rekurrieren.

Die schiefe Ebene in den Abgrund

Solche Personen entziehen sich also als moralische Subjekte, als Forderungs- und als Begründungsadressat, setzen eigene Forderungen dagegen, die sie auch versuchen durchzusetzen, sobald sie in der Mehrheit oder auch nur eine starke Minderheit sind, und wollen aber zugleich moralisches Objekt des Menschenrechtsuniversalismus sein, obwohl sie diesen eigentlich ablehnen. Diesen Menschenrechtsuniversalismus wollen sie also nur, weil er für sie als Klienten, als Nutznießer überaus günstig ist. Sie nutzen also eine fremde Moral aus stretegisch-egoistischen Gründen für ihre Zwecke, ohne sie zu teilen, ja ohne sie zu respektieren und einzusehen.

Spätestens an der Stelle müsste eigentlich jeder merken: Das kann so nicht funktionieren. Man kann nicht nur Objekt einer universalistischen Moral sein wollen, ohne auch Subjekt dieser Moral zu sein, obschon man – anderes als der geistig Schwerstbehinderte und der Eisbär – Subjekt von Moral sein kann. Diejenigen aber, die das quasi als nützliche Idioten zulassen, begeben nicht nur sich selbst, sondern auch den moralischen und den daraus resultierenden Menschenrechtsuniversalismus auf eine schiefe Ebene, auf der es ab einem bestimmten Punkt des Abgleitens kein Halten mehr geben wird.

Literaturempfehlungen

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