Neusprech hat nur ein Ziel: den Gedankenspielraum einzuengen

Von Jürgen Fritz, Fr. 08 Okt 2021, Titelbild: YouTube-DK Books-Screenshot

„Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, korrumpiert die Sprache auch das Denken“, meinte George Orwell. Das wirklich Beängstigende am Totalitarismus sei nicht, dass er Massaker begehe, sondern „dass er das Konzept der objektiven Wahrheit angreift“.

Der totalitäre Überwachungsstaat

Der Totalitarismus, so Orwell weiter, gebe vor, „die Vergangenheit wie die Zukunft zu kontrollieren“ Und: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Ein Mittel, die Gegenwart und damit die Vergangenheit und sodann auch die Zukunft zu beherrschen, ist hierbei die Sprache.

In seinem berühmten Roman 1984, geschrieben von 1946 bis 1948, erschienen 1949, beschreibt Orwell einen totalitären Überwachungsstaat. In diesem hat die Sozialistische Partei Englands (orig. Ingsoc) eine allgegenwärtige Überwachung, inklusive umfangreicher Geschichtsfälschung, Folter und Gehirnwäsche. Ein wichtiges Mittel ist dabei die Sprache, die sukzessive in Neusprech transformiert wird.

Per Neusprech das Innere der Menschen formen und kontrollieren

Neusprech ist hierbei eine aus politischen Gründen künstlich modifiziert Sprache. Neusprech soll die Alltagssprache (Altsprech) nach und nach verdrängen. Dies dient insbesondere dazu, den Wortschatz zu reduzieren, um so differenziertes, nuanciertes Denken zu erschweren. Das zeigt der Satz „Altdenker unbauchfühl Engsoz“ (Oldthinkers unbellyfeel Ingsoc) im Kommentar der Parteizeitung in Neusprech. Eine annähernde Übersetzung in Altsprech könnte lauten: „Derjenige, dessen Weltanschauung sich vor der Revolution geformt hat, kann die Prinzipien des Englischen Sozialismus niemals in seiner letzten Tiefe erfühlen und verstehen“.

Ein weiteres Mittel zur Umformung der Sprache sind Euphemismen (Beschönigungen) und Neologismen (Neuprägungen) sowie Umdeutungen. So heißten die Haft- und Folterlager des sozialistischen Systems beispielsweise „Lustlager“. Das dahinterstehende Ministerium ist das „Ministerium für Liebe“. Damit dürft auch klar sein, was ein „Wahrheitsministerium“ in solch einem System tut. Die politischen Gefangenen in Engsoz sind „Gedankenverbrecher“ (Apostaten, Abtrünnige).

Hier zeigt sich der totalitäre Zug des Systems. Die höchste Stufe des Totalitarismus ist erreicht – und so weit gingen selbst die Nazis nicht -, wenn sogar die Gedanken und Gefühle der Menschen, wenn sogar ihr Innenleben kontrolliert und sanktioniert wird. Dann ist die höchste Stufe der Unfreiheit, der Unterdrückung, der Missachtung des Menschlichen im Menschen erreicht.

Über Parolen und Verdrehungen des Wortsinnes den objektiven Bezugspunkt für Kritik zerstören

In Parolen der Partei, wie zum Beispiel „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“ und „Unwissenheit ist Stärke“, werden den Wörtern schließlich einfach neue Bedeutungen zugewiesen, damit sie nicht gegen die Partei verwendet werden können. Jeglicher möglicher Kritik am eigenen System wird also von vorneherein der Boden entzogen, weil das Negative bzw. das Positive, das in Begriffen zum Ausdruck kommt, einfach um 180 Grad umgedreht wird, womit die negativen oder positiven Assoziationen, welche die Wörter in uns hervorrufen, völlig verdreht werden.

Auch haben Wörter je nach Bezug(sperson) andere Bedeutungen, so kann „schwarzweiß“, je nachdem, ob es für Parteimitglieder oder Parteifeinde benutzt wird, entweder besondere Parteitreue oder aber Landesverrat bedeuten. Auch hier wird also ein objektiver, klarer Bezugspunkt von vorneherein zerstört. Das gleiche Wort bedeutet einmal dieses, dann etwas völlig anderes, je nachdem ob es „der Gute“ oder „der Böse“ sagt. Mit „gut“ wird heute beispielsweise „links“ oder „klimagerecht“ gleichgesetzt mit „böse“ „rechts“.

Durch diese Verdrehungen unterbindet die sozialistische Partei von Anfang an, dass ein alternatives System gedacht werden kann, weil jegliche objektiven Bezugspunkte weggenommen werden. So könne man zwar in Neusprech durchaus sagen: „Der Große Bruder ist ungut“, differenzieren oder begründen aber lasse sich diese Aussage nicht, denn dafür fehle das notwendige Vokabular.

Wahrheit und das Gute werden an eine Person, an eine Schrift oder an eine Partei (Ideologie) gebunden und mit dieser identifiziert

In einem fortgeschrittenen Stadium, wenn der Große Bruder mit der Wahrheit und dem Guten selbst gleichgesetzt, wenn diese Ideen (Begriffe) mit ihm identifiziert werden (der Große Bruder und alle, die an ihn glauben und ihm gehorchen sind „die Guten“), ergibt dann der Satz „Der Große Bruder ist ungut“ gar keinen Sinn mehr und wird bei denen, die von klein auf im Neusprech aufgewachsen sind, womöglich nur ein Lachen hervorrufen.

Das wäre, wie wenn jemand sagen würde „Der Schimmel ist unweiß“ oder „der verheiratete Junggeselle“. Der voll und ganz im Neusprech Aufgegangene wird dann sofort denken, jemand, der so redet, habe gar nicht verstanden, was der Große Bruder ist, so wie er nicht wisse, was ein Schimmel ist, er sei mithin ein völlig Ahnungsloser. Dieser Neusprecher ist also gar nicht mehr fähig, eine Position außerhalb seiner Scheinwahrheiten (Unwahrheiten) auch nur hypothetisch einnehmen zu können, um sie sodann kritisch überprüfen zu können.

Die letzte Stufe der Indoktrination besteht also darin, Wahrheit und das Gute mit einer Person, Schrift oder Partei gleichzusetzen, so dass an diese Person, an diese Schrift oder an diese Partei der Maßstab der Wahrheit und des Guten gar nicht mehr angelegt werden kann, weil es diesen unabhängigen Maßstab gar nicht mehr gibt, da dieser gezielt zerstört wurde:

„Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ (Johannes 14:6)

Oder:

„Wir haben dir das Buch mit der Wahrheit hinabgesandt zum Heil der Menschheit.“ (Sure 39, 41)

Oder:

„Die Partei hat immer Recht.“ bzw. „Der Große Bruder sieht dich.“

Durch die Bindung der Wahrheit und des Guten an eine Ideologie wird das Einnehmen einer kritische Außenperspektive unmöglich gemacht

Durch die fehlenden Worte oder durch die Bindung von Begriffen an eine Person, an eine Schrift oder an eine Partei, an eine Ideologie gehen mit der Zeit auch die Begriffe im Geist, die mentalen Konzepte, jegliche kritische Gedanken gegenüber diesem System, gegenüber dieser Ideologie verloren, weil diese gar nicht mehr von außen betrachtet werden kann, da hierzu die Sprache, mithin der geistige Horizont nicht mehr vorhanden ist.

Für ein orthodoxes Parteimitglied beinhalte ein solches Verbrechendenk oder Deldenk daher eine völlig unhaltbare, absurde Feststellung und bleibe nur ein grober Fluch und für die Partei ungefährlich, weil solche Gedanken für den entsprechend geformten und zugerichteten Geist gar nicht mehr verständlich sind, gar nicht mehr erfasst werden können.

Neusprech hat nur ein Ziel: den Gedankenspielraum einzuengen!

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