Von Herwig Schafberg, Sa. 01. Jan 2022, Titelbild: The New York Times-YouTube-Screenshot
Es war vor einem Jahr, als Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump mit dem Sturm aufs Kapitol in Washington D.C. die Bestätigung des Wahlergebnisses mit Gewalt verhindern wollten. Damit wurde nicht zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein Gesetzgebungsorgan unter gewaltigen Druck gesetzt, wie der Historiker Herwig Schafberg zu bedenken gibt.
Sturm aufs Kapitol in Washington D.C. 2021
Am 6. Januar 2021 versammelten sich Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump in Washington D.C. und zogen zum Kapitol – dem Amtssitz des US-Kongresses, um diesen daran zu hindern, die Wahl Joe Bidens zum Präsidenten zu bestätigen. Nachdem es einigen von ihnen gelungen war, Türen aufzubrechen, Fenster einzuschlagen und in das Kongressgebäude einzudringen, rückte die Masse zu Hunderten nach und drang in dem Gebäude immer weiter vor, ohne von den Ordnungskräften mit nachhaltiger Wirkung aufgehalten zu werden. Viele Menschen wurden verletzt, fünf Personen – unter ihnen ein Polizist – kamen ums Leben. Mehrere Räume wurden verwüstet, die Sitzung der beiden Kammern musste unterbrochen werden und deren Mitglieder brachten sich mit knapper Not in Sicherheit.
Dieser Sturm auf das Kapitol stieß im politischen Spektrum von links bis rechts auf mehr oder weniger scharfe Kritik und wurde vor allem von Demokraten als ein unvergleichlicher Anschlag auf die Demokratie in den USA gesehen. Doch war es tatsächlich das erste Mal, dass so etwas geschah?
Democrats were for occupying capitols before they were against it (The Washington Post)
Protestierer stürmten das Gebäude, “forcing their way through doors, crawling through windows and jamming corridors” (sie zwängen sich durch Türen, krabbeln durch Fenster und blockieren Gänge), schrieb The Washington Post am 15. Januar 2021 und zitierte einen Zeitungsbericht, in dem es um “the storming of the Capitol” (die Erstürmung des Kapitols) ging — “not the one in Washington last week, but the state Capitol in Madison” (nicht das in Washington letzte Woche, sondern das State Capitol in Madison), der Hauptstadt von Wisconsin, bei dem zehn Jahre zuvor “thousands of pro-union activists… rampaged through the historic building in an effort to stop a vote on collective bargaining reform legislation” (Tausende von Gewerkschaftsbefürwortern … stürmten das historische Gebäude, um eine Abstimmung über ein Gesetz zur Reform der Tarifverhandlungen zu verhindern).
Dem Sturm auf das Capitol in Madison im Februar 2011 vorausgegangen waren Demonstrationen gegen das geplante Wisconsin Budget Repair bill, mit dem der neue Gouverneur des Staates Ausgaben kürzen wollte – insbesondere zu Lasten der Gesundheits- und Altersvorsorge für staatlich Beschäftigte. Die gewerkschaftlich organisierten Proteste gegen das Gesetzesvorhaben wurden von führenden Demokraten selbst dann noch unterstützt, als Aktivisten zu Tausenden das dortige Kapitol stürmten, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern.
“Democrat embraced the left-wing mob that occupied the state Capitol in Madison” (Die Demokraten begrüßten den linken Mob, der das Kapitol in Madison besetzte), schrieb The Washington Post. Und weiter: “House Speaker Nancy Pelosi (D-Calif.) praised the occupiers for an ´impressive show of democracy in action` and tweeted as they assaulted the Capitol that she continued ´to stand in solidarity` with the union activists. In other words, Democrats were for occupy capitols before they were against it.” (Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi (D-Calif.), lobte die Besetzer für eine „beeindruckende Demonstration der Demokratie in Aktion“ und twitterte, während sie das Kapitol stürmten, dass sie weiterhin „in Solidarität“ mit den Gewerkschaftsaktivisten stehe. Mit anderen Worten: Die Demokraten waren für die Besetzung des Kapitols, bevor sie dagegen waren.„)
Elias Canetti: Crowds and Power (Masse und Macht)
Man kann alles miteinander vergleichen, aber nicht alles gleichsetzen. Es ist in der Intention ein Unterschied, ob eine Masse Protestierer – wie in Washington vor einem Jahr – das Kapitol stürmte, um staatsstreichartig die Amtsübergabe an einen gewählten Präsidenten zu verhindern, oder ob andere – wie in Madison zehn Jahre zuvor – beim Sturm auf das dortige Kapitol lediglich für die Wahrung ihrer Besitzansprüche eintraten. Doch im einen wie im anderen Fall versuchten Aktivisten, Druck auf gewählte Volksvertreter auszuüben, und scheuten nicht vor Gewalt zurück.
Hatten in Washington vor allem der republikanische Vizepräsident Mike Pence, der den Vorsitz im US-Senat hatte und von Agitatoren des Verrats an Donald Trump beschuldigt wurde, aber auch die demokratische Sprecherin im Repräsentantenhaus der USA, Nancy Pelosi, sowie weitere Demokraten Grund zur Sorge um ihr Wohlergehen, waren es in Madison der Gouverneur und dessen republikanische Parteifreunde im Senat des Staates Wisconsin, die von der Polizei vor radikalen „pro-union acivists“ geschützt werden mussten.
Wenn eine Masse sich – mit Feindbildern vor Augen – auf ein Ziel zu bewegt, wächst mit der Macht dieser Masse die Gefahr der Überschreitung von Grenzen und damit auch der Zerstörung. „Scheiben und Türen gehören zu Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen“, schrieb Elias Canetti in seinem Buch mit dem Titel Crowds and power (auf Deutsch: Masse und Macht): „Wenn Türen und Fenster eingeschlagen sind“, können alle, die in der Masse nicht das Risiko scheuen, Grenzen zu überschreiten, dort „hinein, nichts und niemand darin ist geschützt. In diesen Häusern stecken…, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde“, als die etwa 2011 im Kapitol von Madison der Gouverneur von Wisconsin sowie dessen republikanische Parteifreunde und 2021 im Kapitol von Washington Vizepräsident Pence, aber auch Demokraten von der am einen wie am anderen Ort aufgehetzten Masse betrachtet wurden.
Zur Ermordung des Vizepräsidenten wurde in Washington ebenso aufgerufen wie zu der des Gouverneurs von Wisconsin zehn Jahre zuvor. Und es kann vermutet werden, dass die beiden, möglicherweise auch Nancy Pelosi und andere Volksvertreter gelyncht worden wären, wenn sie nicht rechtzeitig die Flucht ergriffen hätten. Ein „mit vielen geteilter Mord“– meinte Canetti – wäre für „Menschen unwiderstehlich“. Zumindest ist es in der Deckung einer Masse relativ gefahrlos, den einen oder anderen Menschen zu töten, und das fällt auch solchen Beteiligten leicht, die es sich als Einzeltäter nicht trauen würden.
Verbarrikadierten sich demokratische Abgeordnete im Kapitol von Washington schutzsuchend in ihren Büros, als die feindlich gesinnte Masse sich durch die Gänge des Gebäudes wälzte, hatten republikanische Senatoren in Madison Deckung auf dem Boden des Busses gesucht, der sie in Sicherheit bringen sollte, aber entdeckt und angegriffen worden war; denn von den „pro-union activists“ in Madison waren in der Masse viele nicht weniger außer Rand und Band geraten als zehn Jahre später Trump-Anhänger in Washington.
„Wehe, wenn sie los gelassen“
… heißt es in Friedrich Schillers Das Lied von der Glocke …
„Da werden Weiber zu Hyänen (ich ergänze: auch Männer)
Und treiben mit Entsetzen Scherz,
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz.“
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
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