Praktischer Egoismus: Zuerst komme ich, dann ich und zuletzt ich

Von Jürgen Fritz, Mo. 01. Okt 2019, Titelbild: Pixabay, CC0 Public Domain

Wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt, sagt der Volksmund. Doch ganz so einfach sind die Dinge natürlich nicht, was spätestens dann klar wird, wenn es zu Interessenkonflikten kommt. Denn dann würde offensichtlich schlicht das Recht des Stärkeren greifen, der eben mehr Durchsetzungskraft besäße, sich um seine Interessen zu kümmern. Was unterscheidet nun aber den Egoisten vom Egozentriker und was den praktischen vom theoretischen: vom logischen, psychologischen und ethischen Egoismus?

Egoist und Egozentriker

Betrachten wir zunächst den praktischen Egoisten. Dieser ist vollkommen an seinem Eigennutz, an seinem Eigeninteresse orientiert (Primat des Ichs). Der Egoist ist absolut ich-bezogen, ich-süchtig oder, wie man oft auch sagt, selbstsüchtig. Man könnte aber auch von Selbst- oder Eigenliebe sprechen bzw. genauer: von absolutem Wohlwollen sich selbst gegenüber, das alle anderen nur als Mittel zum eigenen Wohl, zum eigenen Nutzen ansieht. Der praktische Egoist ist mithin jemand, der sich nicht von anderen Handlungsmaximen vorgeben lässt, sondern diese selber setzt. Insofern ist er quasi moralisch autonom. Doch seine Handlungsmaximen haben dabei stets und ohne Ausnahme den eigenen Vorteil des Handelnden zum Zweck.

Anders als der Egozentriker sieht der Egoist dabei die Interessen und das Wohl der anderen durchaus, ordnet diese aber immer den eigenen Interessen, den eigenen Zielen unter, während der Egozentriker die anderen gar nicht richtig wahrnimmt. Dem Egoisten ist also im Gegensatz zum Egozentriker durchaus bewusst, was er tut. Er übersieht die anderen nicht, nein, er sieht sie sogar sehr klar, oft auch ihre Wünsche, Bedürfnisse, Interessen und Präferenzen und macht sich diese oft für sich selbst zunutze, indem er andere über ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte steuert und ausnutzt, so zum Beispiel der Heiratsschwindler, der natürlich genau weiß, was er tut.

Der plumpe und der rationale, kluge Egoist

Der praktische Egoist muss also durchaus kein plumper Egoist solcher sein, dem es immer nur um sofortige, rücksichtslose Triebbefriedigung geht. Er kann durchaus ein kluger, ein rationaler Egoist sein, der Triebbefriedigungen aufschieben oder gar ganz auf sie verzichten kann, wenn ihm das langfristig – und das ist das Entscheidende – für ihn selbst von Nutzen erscheint.

Der kluge, kultivierte Egoist ist also in der Lage, einer rationalen Kontrollinstanz in sich, in seiner Seele (Logos und Thymos) die Aufgabe zuzuweisen, die Neigung zur unmittelbaren Wunschbefriedigung (Eros) zugunsten nicht unmittelbar vor Augen liegender Ziele zu zügeln. In dieser Selbstdisziplin gleicht er dem Altruisten, der dazu auch in der Lage ist. Anders als dieser zügelt der rationale Egoist seine Triebe, Wünsche und Bedürfnisse aber nicht um anderer oder um der Richtigkeit einer Handlung selbst willen, sondern weil er überblicken kann, dass es für ihn selbst besser ist, dem Drängen seines Eros nicht nachzugeben. All seine Gedanken und Abwägungen kreisen also immer um sich selbst. Sein Ich steht immer im Mittelpunkt. Der Unterschied zwischen dem plumpen und dem rationalen Egoisten besteht nur darin, wie weit die Kreise gezogen werden um diesen Mittelpunkt, also im Weitblick.

Dies gilt auch für den Paradiesgläubigen, der das Gute nicht um seiner selbst willen tut, einfach weil er ein guter Mensch sein will, sondern um einer Belohnung willen, die er sich im Jenseits unter Umständen farbenfroh und voller Sinnenfreuden ausmalt. Dieser Egoist ist quasi nur ein besonders weit vorausdenkender solcher. Oder wie schon Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) formulierte: „Denn, ich wiederhole es, alle Tugend, die irgendwie eines Lohnes wegen geübt wird, beruht auf klugen, methodischen, weitsehenden Egoismus.“ 

Ziele des Egoisten: Selbsterhaltung, Lustgewinn, Machtzuwachs, Vermeidung von Kompetenzverlust, Selbstverwirklichung …

Der rationale Egoist wird – anders als der plumpe, ungezügelte solche – eine Frau, die er sehr begehrenswert findet, deshalb nicht vergewaltigen, weil ihm bewusst ist, wie groß die Gefahr ist, dass er dafür schwer bestraft werden könnte und das Leid, das ihm selbst durch die Strafe zuteil wird, das Ausmaß an Lust, welche er kurzfristig gewinnt, bei weitem übersteigt. Der kluge Egoist wägt also für sich selbst Kosten und Nutzen langfristig ab, erstellt quasi eine persönliche Lust-Leid-Gesamtbilanz. Verschlägt es ihn und die Frau dagegen auf eine einsame Insel und die Gefahr der Überführung fällt vollständig weg, verschiebt sich die persönliche Kosten-Nutzen-Analyse vollkommen und die Klugheit rät dem praktischen Egoisten nun zu einem ganz anderen Verhalten, sofern dem keine anderen Nachteile entgegenstehen, zum Beispiel dass er dann Angst haben muss, die Frau könnte ihn nachts, wenn er schläft, ermorden.

Der kluge, kultivierte Egoist kann also äußerlich genauso handeln wie der moralisch motivierte Mensch. Letzterer dagegen wird fernab von solchen persönlichen Kosten-Nutzen-Analysen bestimmte Dinge, die ihm wesentlich mehr persönlichen Nutzen als Nachteil brächten, aus einem völlig anderen Grund ablehnen, der über das eigene Ich hinausgeht (das Wohl des oder der anderen bzw. das Gute an sich). Genau diese zusätzliche Perspektive, die das eigene Ich transzendiert, fehlt dem Egoisten. Die Unterschiede zwischen beiden sieht man besonders in Kriegen, wenn kaum eine äußere Sanktion zu erwarten ist, so eine Frau des Feindes vergewaltigt wird. Hier zeigt sich dann der Unterschied zwischen dem praktischen, insbesondere dem rationalen Egoisten und dem Zivilisierten, der neben der Klugheit noch eine zweite Kontrollinstanz in sich trägt: Moralität (Sittlichkeit).

Dabei muss das Ziel nicht immer die eigene Lust und Triebbefriedigung (Hedonismus) sein. Der praktische Egoist kann auch andere Dinge anstreben, zum Beispiel die eigene Selbsterhaltung (Thomas Hobbes), ein Maximum an persönlicher Macht, die Vermeidung von Kompetenzverlust (Peter Mersch) oder die eigene Selbstverwirklichung (grenzenlose Abtreibung bis in die letzte Schwangerschaftsperiode hinein).

Der praktische Egoist ist der geborene Heuchler

Fragt man den reinen Egoisten um Rat, was man in einer bestimmten Situation tun soll, weil man unsicher ist, was das Richtige ist, so wird er wahrscheinlich dazu raten, das zu tun, was einem selbst am meisten nutzt. Sobald er selbst aber irgendwie von der Handlung betroffen ist, wird er zu dem raten, was nicht für den Ratsuchenden, sondern für ihn selbst am nützlichsten erscheint, ohne dass er dies natürlich zeigt. Sprich der reine Egoist wird immer dann lügen, täuschen und betrügen, wenn dies ihm selbst irgendwelche Vorteile verschafft. Der praktische Egoist ist mithin der geborene Heuchler. Ihm wird keine Mittel fremd sein, um seine Ziele zu erreichen, und diese sind wiederum immer auf sein eigenes Wohl, seinen eigenen Vorteil gemünzt. Sprich der praktische Egoist ist als Ratgeber, als Freund völlig ungeeignet. Ihm können Sie niemals vertrauen, wenn Sie ihn um Rat fragen, weil sie ja nie wissen können, ob er sie nicht aus egoistischen Motiven belügt und täuscht.

Das heißt nicht, dass der praktische Egoist das Wohl der anderen nie berücksichtigen würde. Es kann durchaus sein, dass er sogar vielen anderen hilft, ihre Ziele zu erreichen. Das tut er dann aber nicht um ihretwillen, sondern weil er zum Beispiel denkt: Die eine Hand wäscht die andere. Wenn ich ihm jetzt so sehr behilflich bin, wird er mir das nächste Mal auch behilflich sein und wird das auch weitererzählen, so dass dies meinem Ruf sehr nutzt, was mich enorm weiterbringen wird.“

Solche Gedanken haben natürlich andere auch, die keine praktischen Egoisten sind, und dagegen ist ja gar nichts zu sagen. Im Gegenteil, kluges soziales Handeln erscheint absolut ratsam und sinnvoll. Der Unterschied ist der: Ein kluger Geschäftsmann wird zum Beispiel bemüht sein, möglichst viele zufriedene Kunden zu haben, weil er weiß, dass ihm dies langfristig nutzen wird und er am Ende sogar größere Gewinne wird erzielen können, wenn er es im Moment nicht übertreibt, sondern faire Preise und faire Geschäfte macht. Angenommen, der Geschäftsmann hat jetzt aber die Möglichkeit, durch einen geschickten Deal einen riesiges Geschäft zu machen, bei dem er so viel verdienen wird, dass er für alle Zeiten ausgesorgt haben wird. Dazu muss er seinen Geschäftspartner zwar völlig täuschen, dies jedoch innerhalb des gesetzlichen Rahmens, so dass er auch keine Gefängnisstrafe zu befürchten hat. Der praktische Egoist wird nun nach Abwägung der Vor- und Nachteile für ihn selbst, den anderen womöglich gnadenlos über den Tisch ziehen. Das Einzige, was ihn davon abhalten könnte, wäre dass er selbst große Nachteile davon hätte (Klugheitserwägungen).

Gruppenegoismus

Praktischen Egoismus finden wir darüber hinaus auch bei Gruppen, so zum Beispiel bei der Familie, der Sippe, dem Clan, dem Fußballverein, der Firma, der Mafia, dem Staat, dem Reich etc. Oder auch bei Religionsgemeinschaften oder Anhängern einer gemeinsamen Ideologie. Hier wird quasi der Egoismus bezogen auf die eigene Person überwunden zugunsten des Egoismus bezogen auf die eigene Gruppe. Innerhalb dieser gelten also andere Regeln als anderen Gruppen und deren Mitglieder gegenüber. Wenn ein Fußballer den eigenen Mitspieler foult werden seine Mannschaftskameraden, die Fans und die Vereinsführung dies völlig anderes bewerten als wenn er genau das gleiche Foul gegenüber einem gegnerischen Spieler begeht. Wenn der Soldat auf den eigenen Kameraden schießt, ist das etwas völlig anderes, als wenn er auf einen feindlichen Soldaten schießt.

Das Ziel im Umgang mit anderen Gemeinschaften ist nun der Vorteil der eigenen Gemeinschaft. Auch hier finden wir dann wieder das ganze Muster der Heuchelei. Es wird gelogen, betrogen, getäuscht usw. usf., alles nun aber zum Wohl der eigenen Gruppe. Das Ziel kann hierbei beispielsweise sein, dass die Gruppe, der man angehört, immer weiter wächst und alle anderen Gruppen immer weiter zurückdrängt. Das ist typisch für einige Religionen, die auf Ausbreitung angelegt sind, und für ideologische Weltanschauungsgemeinschaften.

Eine rein egoistische Gruppenregel könnte dann lauten: Männer der eigenen Gemeinschaft dürfen Frauen anderer Gemeinschaften heiraten und Kinder mit ihnen zeugen. Diese gehören dann zur eigenen Gruppe und werden von klein auf im Sinne dieser, also mit der entsprechenden Weltanschauung, erzogen. So wächst die eigene Gemeinschaft und man entzieht den anderen Gemeinschaften einen Teil ihrer Frauen und der potentiellen Kinder, die diese bekommen könnten. Umgekehrt kann solch eine rein egoistische Gruppe natürlich verbieten, dass eigene Frauen Männer anderer Gemeinschaften heiraten dürfen, denn dann bestünde ja die Gefahr, dass der eigenen Gruppe Frauen entzogen werden und auch die möglichen Kinder dieser Frauen, die dann der anderen Gemeinschaft mit anderem Weltbild zugute kommen.

Praktischer und theoretischer Egoismus

Soweit der praktische Egoismus, als nächstes gilt es zweitens den theoretischen, das heißt a) den logischen, b) den psychologischen und c) den ethischen Egoismus zu untersuchen. Der praktische Egoist denkt nicht viel über seine Haltung nach, vor allem redet er normalerweise nicht über sie und wenn doch, lügt er, so gut er kann, wenn er schlau ist. Theoretische Egoisten machen sich über ihre Haltung Gedanken und versuchen, den Egoismus entweder logisch zu erklären (kein Wesen, das Interessen hat, kann überhaupt anders, als egoistisch zu sein, das geht schon rein logisch nicht anders) oder psychologisch (es ginge schon auch anders als egoistisch, de facto aber nicht, weil dies in der menschlichen Natur, die zwar auch anders sein könnte, es aber halt mal nicht ist, nun mal so determiniert ist) oder gar ethisch zu rechtfertigen (Egoismus ist nicht nur etwas Unausweichliches oder Faktisches, sondern auch etwas zutiefst Gutes). Dazu in kürze mehr.

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