Nach Überwindung der sakrifiziellen Gewalt ist es Zeit, auch die religiöse Gewalt hinter uns zu lassen

Von Jürgen Fritz, Sa. 20. Jun 2020, Titelbild: Screenshot aus Agora

In Teil eins der dreiteiligen Reihe Monotheismus und die Sprache der Gewalt ging es um die monotheistische Revolution, welche eine neue Unterscheidung in die Welt brachte, die zwischen Rechtgläubigen, die dem wahren Gott dienen, und den „Götzendienern“. In Teil zwei zeigte Jan Assmann wie dadurch zu den bestehenden vier Formen der Gewalt eine völlig neue fünfte in die Welt kam: die religiöse Gewalt, die erstmals Menschen gegen Menschen aufbrachte im Namen des gekränkten, eifersüchtigen Gottes. In Teil drei erläutert der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, dass die Idee des eifersüchtigen Gottes nicht im Raum des Religiösen, sondern des Politischen wurzelt: Gott tritt an die Stelle des Pharaos. Nach der sakrifiziellen sollten wir nun auch die religiöse Gewalt hinter uns lassen.

Die Idee des eifersüchtigen Gottes wurzelt im Raum des Politischen

Dies ist eine vollkommene neuartige Struktur, die in den anderen Religionen, den heidnischen, keine Parallele hat. Die Idee des eifersüchtigen Gottes wurzelt dabei in der Idee des Bundesschlusses zwischen Jahwe und seinen Anhängern und gehört damit in den Raum des Politischen. Der Zorn Jahwes gehört nicht zu seinem Wesen, sondern zu seiner Herrschaft, zu seiner Herrscherrolle. Der eifersüchtige, gewaltbereite und tatsächlich immer wieder zuschlagende Gott ist der gesetzgebende, richtende und strafende, also legislative, judikative und exekutive Bundesgott. Es handelt sich bei dieser göttlichen Gewalt also nicht um rohe Gewalt, die sich spontan aus göttlichen Affekten entlädt, sondern um Rechts- und Staatsgewalt, die theologisiert auf die Ebene göttlichen Wesens und Handelns gehoben wird.

Bei dieser Gewalt handelt es sich ursprünglich um Gegengewalt nicht in Form von Rechtsgewalt gegen rohe Gewalt, sondern – und das ist das unerhört Neue des biblischen Monotheismus – gegen die Staatsgewalt in ihrer besonders aggressiven, expansionistischen Form des assyrischen und babylonischen Staates. Jahwe wird gleichsam gegen die aggressive Arroganz der imperialistischen Mächte der alten Welt aufgeboten. Es ist mithin staatsgründende, staatserhaltende und rechtsetzende Gewalt. Daher basiert sie notwendigerweise auf der Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Diese Unterscheidung gehört also in die zentrale Gründungssemantik des biblischen Monotheismus und kommt auch in dem expliziten Gebot des politischen Kontextes der Landnahme und Ausrottung der sieben Völker vor.

Daraus ergibt sich, dass die Gewalt zu dem Staat gehört, den Jahwe mit den Kindern Israels gründen will. Aber nicht unbedingt zu der Religion, die sich später aus diesem ursprünglich politischen Impuls entwickelt hat. Es handelt sich also von Hause aus um politische Gewalt, die sich aus dem Bundesschluss als politisches Bündnis ergibt. Damit ist diese Gewalt zugleich untrennbar verbunden mit der Idee des Gesetzes. Es ist mithin die Gewalt, die das Recht braucht, um wirksam zu werden, ja überhaupt in Kraft zu treten. Die Gewalttätigkeit und -bereitschaft des biblischen Gottes, immer verstanden als des biblischen Gottesbildes (also des imaginierten Gottes in der Vorstellungswelt der Anhänger des einen Gottes, nicht in der Wirklichkeit) ergibt sich aus der Vermoralisierung und Verrechtlichung der Religion, aus dem revolutionären Schritt, die Ansprüche an Gerechtigkeit zur Sache des biblischen Gottes zu machen.

Der starke Staat wird ersetzt durch den starken Gott, Jahwe tritt an die Stelle des Pharaos

Damit wird das Gesetz, das andernorts einfach ein Instrument der Regierungs- und Gemeinschaftskunst war zur Sicherstellung einer gewaltfreien Sphäre zivilen Zusammenlebens, zur Kodifikation göttlichen Willens, für dessen Verwirklichung sich die Anhänger dieses imaginierten Gottes mit allem Eifer einsetzen müssen. Gott zum Gesetzgeber und das Recht zu seiner Sache, zum Inbegriff der religiösen Bindung zu machen, bedeutete in der alten Welt einen revolutionären Schritt. Die Bibel stellt diesen Schritt als Befreiungsschlag dar und darin hat sie gewiss Recht, so Jan Assmann. Das System der altorientalischen Sakralkönigtümer basierte auf einer negativen, einer pessimistischen Anthropologie, wie sie uns von Thomas Hobbes oder Carl Schmitt und vielen anderen staatskonservativen Denkern vertraut ist und die sich auf die Formel bringen lässt: „Ohne einen starken Staat schlagen sich die Menschen gegenseitig die Köpfe ein“ (greift die rohe Gewalt um sich). Die Zuchtrute des Staates, wie streng sie auch sein mag, ist immer noch besser als die Anarchie, die den Krieg aller gegen alle bedeutet.

Mit dieser Vorstellung räumt die Bibel auf, indem sie einen starken Staat durch einen starken Gott ersetzt. Die Bibel befreit gleichsam von dem ägyptischen Kleinmut, die Menschen könnten ohne einen Staat nicht leben. Damit wird deutlich, dass die biblische Religion, die ja das Modell für die heutigen Weltreligionen abgibt, in vieler und in entscheidender Hinsicht als alternativer Nachfolgeinstitution des frühen hochkulturellen Staates vom Typ Ägyptens und Mesopotamiens zu verstehen ist und weniger als Nachfolgeinstitution der ihr vorhergehenden Religionen. Als Bundespartner des Volkes Israel tritt Jahwe an die Stelle Pharaos und der assyrischen und babylonischen Großkönige, aus deren Händen er sein Volk befreit. Aber nur ein starker, gewaltbereiter und gewalttätiger Gott kann die Menschen von der fixen Idee erlösen, ohne einen starken Staat nicht leben zu können.

Das Eifern für das Heil

Hinzu kommt ein weiteres: die exklusive Unterscheidung zwischen wahr und falsch, die mit der Offenbarung einhergeht. Schon das 18. Jahrhundert hat in dieser Unterscheidung und dem Begriff der Offenbarung die Quelle von Gewalt und Intoleranz ausgemacht. Dabei sei es ein großer Vorzug des Judentums, die ewigen Wahrheiten nicht dogmatisch festzuschreiben.

Das Christentum hat in den Augen des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) das Verhältnis von ewigen und historischen Wahrheiten umgekehrt. In Christus sei die Offenbarung der ewigen Wahrheit historisch geworden. Dadurch komme es jetzt zu Theologie und Orthodoxie, zu Schrift und Glauben. Das Christentum bindet sich an die Dogmen im Sinne einer allein seligmachenden Heilslehre und löst sich vom Gesetz. Damit wird zwar allen die Chance des Heils eröffnet, in Wahrheit aber wird erst dadurch die Grenze zwischen Christen und Heiden gezogen. Denn wer diese Chance verwirft, bleibt vom Heil ausgeschlossen.

Was im Rahmen des Gesetzes eine Frage von Recht und Unrecht war, wird jetzt im Glauben eine Frage von Heil und Verdammnis. Damit geht die Unterscheidung von Leib und Seele einher sowie eine ganz neue Form der Gewalt: Gewalt gegen den Leib zur Rettung der Seele, im vermeintlichen Interesse des Ketzers oder der Hexe. So kommt es im Christentum zum Eifern für das Heil und den Glauben, der in seiner Gewaltbereitschaft den alttestamentlichen Eifer für das Gesetz oft weit übersteigt.

Die notwendige Befreiung von dem starken, überwachenden und strafenden Gott

Die allgemeine Menschenreligion könne niemals auf ein System verbindlicher Lehrsätze festgelegt werden. Jede konkrete Religion sei in Bezug auf diese allgemeine Menschenreligion zu relativieren. Relativierung bedeute aber nicht Vergleichgültigung, solange die konkreten Religionen auf die verborgene Wahrheit ausgerichtet blieben. Wer aber diese Wahrheit mit Gewalt durchsetzen wolle, der habe sie schon verfehlt. All diese Überlegungen steckten bereits in Lessings Ringparabel. Sie gehörten auf die Ebene einer durch keine Dogmatik einholbaren Weisheit, die es in allen Kulturen gebe. Eine Weisheit, die sich auf einen Konvergenzpunkt jenseits aller religiösen und konfessionellen Unterscheidungen beziehe.

Nachdem uns die Vorstellung eines starken Gottes von der Vorstellung, ohne einen starken Staat nicht leben zu können, befreit hat, sollten wir uns auch von der Idee freimachen, ohne einen starken, also überwachenden und strafenden Gott nicht leben zu können. 

Die genealogische Frage nach den Ursprüngen der religiösen Gewalt führte auf die politische Sphäre, das heißt auf die Staatsgewalt und Rechtsgewalt zurück. Religiöse Gewalt sei nichts Ursprüngliches, nichts in der Natur der Sache Gelegenes, im Grunde eine contradictio in adiecto, ein Widerspruch in sich. Die monotheistische Bewegung habe ursprünglich eine Befreiung von der Allmacht des Staates bedeutet. Das sei zunächst nur als Gegengewalt, als Gottesgewalt gegen Staatsgewalt denkbar gewesen. Die Religion könne ihre befreiende Gegenmacht nur entfalten, wenn sie auf ganz andere Mittel und Werte als die politischen zurückgreife. Diese Lektion hätten wir von Gandhi gelernt.

Nach Überwindung der sakrifiziellen Gewalt ist es Zeit, auch die religiöse Gewalt hinter uns zu lassen

Daher gehe es jetzt darum, endlich eine klare Trennungslinie zwischen Religion und Gewalt zu ziehen. Gewalt gehöre in den Bereich der Politik, nicht der Religion. Eine Religion, die zu Gewalt greife, bleibe im Raum des Politischen stecken und verfehle damit ihre eigentliche Aufgabe in der Welt. Es komme darauf an, die monotheistischen Religionen, die aus dem Geist der Politik und Gesetzgebung entstanden seien, radikal zu entpolitisieren und der Ordnung des Politischen, die ohne Gewalt nicht denkbar sei, eine Ordnung gegenüber zu stellen, deren Macht auf Gewaltlosigkeit beruhe. Dadurch erst würde der ursprüngliche Impuls des Monotheismus verwirklicht, den Menschen aus der Allmacht des Staates zu befreien.

Die Religion habe die sakrifizielle Gewalt hinter sich gelassen, nun sei es an der Zeit, sich auch von der religiösen Gewalt loszusagen. Das sei nur möglich, so die Auffassung von Assmann, wenn wir mit Mendelssohn zwischen konkreten Religionen, wie Judentum, Christentum, Islam, und allgemeiner Menschenreligion unterscheiden.

Universale Wahrheiten gehörten nicht in den Bereich der konkreten Religionen, sondern in den Bereich der allgemeinen Menschenreligion. Und sie seien in keinem heiligen Schriftenkanon festgeschrieben, sondern nur in der Natur und in der Sache offenbart. Das heiße, sie seien verborgen und von allen Menschen in immer neuer gemeinsamer diskursiver Anstrengung anzustreben und auszuhandeln.

Glaubenssätze können niemals universal sein und müssen auf die allgemeine Menschenreligion hin relativiert werden

Dabei müssten wir lernen zu unterscheiden zwischen den „Glaubenswahrheiten“ der einzelnen Religionen und den universalen Wahrheiten der allgemeinen Menschenreligion, so zum Beispiel die Menschenrechte. „Glaubenswahrheiten“ (genauer: Glaubenssätze) könnten niemals universal sein, auch wenn sie sich in ihrer Innenperspektive so verstünden.

Vom 18. Jahrhundert müssen wir lernen, in zwei Ordnungen zu leben: a) in den Ordnungen unserer jeweiligen konkreten Religion und b) in der verborgenen, aber anzustrebenden Ordnung einer allgemeinen Menschenreligion, um die wir uns mit den anderen zusammen bemühen müssen. Dazu müssten die Universalitätsansprüche unserer „Glaubenswahrheiten“ (Glaubenssätze) zurückgenommen werden und auf die allgemeine Menschenreligion hin relativiert werden. Nur so werde es möglich sein, ohne Gewalt in gegenseitiger Achtung und Anerkennung an ihnen festzuhalten. 

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