Vier Wochen Impfkampagne: Deutschland liegt 88 Prozent hinter dem Soll zurück

Von Jürgen Fritz, So. 24. Jan 2021, Titelbild: Our World in Data-Screenshot

Heute vor vier Wochen startete die deutsche Impfkampagne. Es sollte die größte solche werden, die Deutschland jemals gesehen hat. Schließlich stecken wir mitten in einer Jahrhundertkatastrophe, wie die Kanzlerin ganz richtig konstatierte. Bis zum Sommer, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, werde allen Bürgern in Deutschland ein Impfangebot unterbreitet worden sein. Mehr als ein Zehntel der Zeit bis zum Sommerende ist um. Zeit für ein erstes Zwischenresümee.

Jens Spahn und Angela Merkel: Wir werden allen Bürgern in Deutschland bis zum Sommer ein Impfangebot unterbreiten

Zunächst soll klar gestellt werden: Wir wollen die Bemerkung von Jens Spahn, bis zum Sommer werde allen Bürgern in Deutschland ein Impfangebot unterbreitet worden sein, sehr großzügig interpretieren und „bis zum Sommer“ als: bis zum Ende des Sommers am 21. September, also bis zum Herbstbeginn interpretieren. Die Formulierung von Spahn, der ein Meister im Erzeugen von gewünschten Fehlvorstellungen ist, suggeriert zwar etwas anderes, denn „bis zum Sommer“ und “ bis zum Sommerende (21.09.)“ bzw. „bis zum Herbstbeginn (22.09.)“ sind eigentlich nicht das Gleiche, aber wir wollen hier großzügig sein.

Und es ist ja auch sinnvoll, sich dieses Datum 21.09.2021 als Ziel zu setzen, weil es dann schnell deutlich kühler wird, was die Infektionen mit SARS-CoV-2 enorm begünstigt. Also nehmen wir den 21.09.2021 als Zielmarke. So hat es inzwischen auch die Kanzlerin konkretisiert und präzisiert, die zwar auch gerne sehr ungenau spricht, aber nicht so unpräzise wie Spahn.

Wie kann ein Schutz für die Gemeinschaft („Herdenimmunität“) erreicht werden?

Nun werden nicht alle Bürger in Deutschland sich impfen lassen wollen und das ist auch nicht notwendig. Eine sogenannte „Herdenimmunität“ oder vielleicht besser ein Schutz für die Gemeinschaft dürfte erzielt werden bei etwa 80 Prozent geimpften Bürgern. Die 60 bis 70 Prozent, von denen vielfach die Rede war, werden wahrscheinlich noch nicht ausreichen, insbesondere weil die Mutationen von SARS-CoV-2 eine höhere Basis-Reproduktionszahl aufweisen als die Virusvariante, die uns bislang den ganzen Ärger bereitete. Und selbst die Basis-Reproduktionszahl der bisherigen Variante wurde vom RKI inzwischen von ca. 3 auf 3,3 bis 3,8 heraufgesetzt. Schon bei dieser weniger ansteckenden Variante stecken also 100 Infizierte 330 bis 380 (arithmetisches Mittel: 355) andere an, wenn man nicht gegensteuert.

Bei einer Basis-Reproduktionszahl von 3,55 bräuchten wir bereits eine Immunität bei mindestens 72 Prozent der Bevölkerung. Denn dann würden von 100 Infizierten nicht 355 andere angesteckt, sondern 72 Prozent weniger, da diese ja schon immun wären. 72 Prozent weniger als 355 sind 99,4. Bei einer Immunität von 72 Prozent der Bevölkerung ginge also selbst ohne Gegenmaßnahmen, bei ganz normalem Leben die Zahl der aktiv Infizierten ganz, ganz langsam zurück (von 100 auf 99,4 auf 98,8 auf 98,2 … usw.), würde auf jeden Fall nicht mehr weiter ansteigen.

Nun sind die britische und wohl auch andere Mutationen aber nochmals deutlich ansteckender als die bisherige Hauptvariante von SARS-CoV-2, so dass wir wahrscheinlich eine Immunität bei 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung brauchen werden, um COVID-19 allmählich verschwinden zu lassen oder ganz klein zu kriegen, so dass wir wieder normal leben können.

Warum das Ziel, 80 Prozent bis zum 21.09.2021 zweimal geimpft, sehr sinnvoll und auch realistisch ist

Nehmen wir also eine sehr sinnvolle Zielmarke: Bis zum 21.09.2021 sollen mindestens 80 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft sein. Bei den beiden mRNA-Impfstoffen vonBioNTech/Pfizer und Moderna soll der Impfschutz etwa 95 Prozent betragen. Wenn also 80 Prozent der Bevölkerung damit geimpft wären, so hätten etwa 76 Prozent der Bevölkerung einen Impfschutz. Drei von vier wären dann also zumindest mal für einige Monate immun, wobei wir optimistischerweise davon ausgehen wollen, dass die Impfstoffe auch gegen die Mutationen wirksam sein werden.

Ab Herbst oder Winter müssten dann wahrscheinlich die Ersten sicherheitshalber erneut geimpft werden (Auffrischung), um den Impfschutz dauerhaft zu gewährleisten. Besser wären natürlich 90 Prozent Impfquote statt 80, zumal andere Impfstoffe eine zum Teil deutlich geringere Wirksamkeit haben als BioNTech und Moderna. Bei AstraZeneca geht man zum Beispiel davon aus, das hier kein 95 prozentiger Schutz gegeben ist, sondern nur zu 70 bis 90 Prozent. Bei einem nur 70 prozentigen Impfschutz wären bei einer Impfquote von 80 Prozent nur 56 Prozent tatsächlich gegen COVID-19 immun. Das würde bei weitem nicht reichen.

Kurzum, eine 80 Prozent-Impfquote ist sicherlich das absolute Minimum. Eigentlich sollten 90 bis 95 Prozent oder mehr angestrebt werden. Das wird aber vorerst nicht realistisch sein. Forschungsgruppe Wahlen und das ZDF-Politbarometer berichteten Mitte Janaur, dass schon jetzt 67 Prozent der Bürger sich impfen lassen wollen und weitere 22 Prozent zwar noch unsicher sind, das aber nicht völlig ablehnen. Wenn erstmal 50, 60, 67 Prozent der Menschen bei uns geimpft sind, dann werden von diesen 22 Prozent noch Unsicheren sicherlich nicht alle (dann wären es 89 Prozent insgesamt), aber doch viele noch dazu kommen, wenn sie merken, dass die Impfungen bei denjenigen, die sie bereits bekamen, keine nachhaltigen Schädigungen bewirkten, so dass eine 80 Prozent-Impfquote als erste Zielmarke nicht nur sehr sinnvoll, sondern auch sehr realistisch ist.

Statistik: 67 Prozent der Befragten sind bereit, sich impfen zu lassen

Nach dem ersten Zehntel liegen wir 88 Prozent hinter dem Soll zurück

Die deutsche Imfpkampage startete erst am 27. Dezember 2020. Andere Länder waren hier durchaus schneller. Aber gut, nehmen wir also den 27. Dezember als Startpunkt und rechnen nun bis zum 21. September 2021, so stehen insgesamt 269 Tage zur Verfügung. Verimpft werden sollten bis dahin mindestens 160 Dosen, nämlich bei 80 Prozent der Bevölkerung – mehr wird bis dahin wohl nicht drin sein, weil die Bereitschaft sicher noch nicht bei 90 oder 95 Prozent liegen wird – je zwei Impfungen.

160 Impfdosen in 269 Tagen ergeben pro Tag etwa 0,6 Impfdosen. Nach 27 Tagen (bis zum 22.01.2021) müssten demnach pro 100 Menschen in Deutschland mindestens 16,06 Dosen verimpft sein. Tatsächlich erreicht wurden aber in den ersten 27 Tagen nicht 16,06 Dosen pro 100 Menschen, sondern gerade einmal 1,95.

Nach dem ersten Zehntel der knapp neun Monate von Dezember 2020 bis September 2021 (27 von 269 Tagen) liegen wir damit 88 Prozent hinter dem Soll zurück.

2021-01-23

Der Rückstand der ersten Monate muss später kompensiert werden, so dass eine halbe Million Impfungen pro Tag nicht ausreichen werden

Das aber heißt, die Geschwindigkeit der Impfkampagne muss enorm zunehmen, muss drastisch erhöht werden, nicht nur auf das acht- bis neunfache. Denn was in den ersten Wochen und Monaten zu wenig geimpft wurde, muss ja in den Folgemonaten sogar noch kompensiert werden. Hier werden dann 0,6 verabreichte Impfdosen pro 100 Einwohner pro Tag, die wir im ersten Monat nicht mal zu einem Achtel schafften, nicht mehr ausreichen. Denn die Rückstände aus den ersten Wochen und Monaten kommen ja noch oben drauf.

Und 0,6 Impfdosen pro 100 Einwohner pro Tag bedeuten bei 83 Millionen Menschen ohnehin schon 493.680 Impfungen pro Tag, also knapp eine halbe Million täglich. Das wird aber später nicht mehr ausreichen, weil der Rückstand wettzumachen sein wird. Und je länger wir in den ersten Monaten viel zu wenig impfen, umso mehr müssen wir später deutlich über eine halbe Million Impfungen pro Tag schaffen.

Das politische Schicksal Jens Spahns und das Vermächtnis von Angela Merkel könnten an dieser Frage hängen

Daran könnte sich das weitere politische Schicksal des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn und das Vermächtnis der Kanzlerin Angela Merkel knüpfen, bei der sich die Frage stellen wird, ob sie mit einem gigantischen Versagen in dieser Jahrhundertkatastrophe aus dem Amt scheiden wird.

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