Von Jürgen Fritz, Mo. 17 Mai 2021, Titelbild: zeitzeugen-Portal-Screenshot
Im Oktober 2006 hielt der Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann eine Gastvorlesung in Jerusalem und Haifa. Es ist hoch interessant, was Biermann bereits vor fast 15 Jahren konstatieren musste und wie wenig sich seither geändert hat, wenn es nicht sogar noch deutlich schlimmer wurde. Eine mehr als bemerkenswerte Rede.
Wolf Biermann
Im Jahr 1953 siedelte der am 15. November 1936 in Hamburg geborene Wolf Biermann kurz vor dem 17. Juni im Alter von 16 Jahren in die DDR über. Sein Vater war ein kommunistischer Arbeiter bei einer Hamburger Werft, war Jude und kämpfte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. 1943 wurde er im KZ Auschwitz ermordet. Ab 1960 veröffentlichte Wolf Biermann erste Lieder und Gedichte. Mit der Zeit wandelte er sich zu einem scharfen Kritiker der SED und der DDR. Schon 1965, er war jetzt gerade erst Ende 20, wurde daher ein Auftritts- und Publikationsverbot gegen ihn verhängt wurde. Gut zehn Jahre später, im Jahr 1976, wurde ihm dann nach einer Konzerttour in der Bundesrepublik Deutschland die Wiedereinreise in die DDR verweigert. Biermann wurde von der DDR ausgebürgert. Dies löste in Ost- und Westdeutschland breite Proteste aus.
Im Westen schrieb Biermann zahlreiche neue Lieder, beteiligte sich an der Friedensbewegung, engagierte sich gegen die Planung der Anlagen für die Lagerung von Atommüll in Gorleben (Lied: Gorleben soll leben…), gab zahlreiche Konzerte und veröffentlichte Schallplatten und CDs. Immer wieder kritisier er in seinen Liedern die DDR und die SED-Parteidiktatur. Nach eigenem Bekunden brach er mit seiner sozialistischen Überzeugung, nachdem er zuvor stets dafür eingetreten war, anstelle von Stalinismus einen wahren Sozialismus oder Kommunismus aufzubauen. Biermanns Gedichtbände zählen zu den meistverkauften der deutschen Nachkriegsliteratur. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen West- und später Gesamtdeutschlands ausgezeichnet. Im Oktober 2006 hielt der knapp 70-Jährige in Jerusalem und Haifa eine Gastvorlesung, deren Redetext DIE ZEIT am 26. Oktober 2006 in gekürzter Fassung abdruckte.
»Na, diese fünf Juden können jetzt wenigstens nicht mehr im Libanon die Araber ermorden«
Zunächst schildet Biermann ein „Fragment eines deutschen Sittenbildes“. Es gebe hauptsächlich im Westteil des wiedervereinigten Deutschland seit einigen Jahren eine Initiative eines Aktionskünstlers, der handflächengroße Messingplatten wie Straßenpflastersteine in die Bürgersteige einlasse. Auf diese Messingplatten seien Geburtsdatum und Name sowie Datum der Verschleppung von Menschen eingestanzt, die einmal in jener Straße gewohnt hätten. Diese »Stolpersteine« erinnerten in der Regel an ermordete Juden. Es gebe aber auch welche für Sinti und Roma, für Kommunisten, Sozialdemokraten und Homosexuelle. Die meisten der eingravierten Namen würden aber an ermordete Juden erinnern.
Folgende Straßenszene habe sich nun dieser Tage in Hamburg in einer gutbürgerlichen Straße zugetragen. Zwei junge Frauen knieten vor solchen Steine und polierten die stumpf gewordene Oberfläche. Sein Freund sei neben den beiden Frauen stehengeblieben und entzifferte die eingravierten Namen. In diesem Moment sei ein etwa fünfzig Jahre alter Mann vorbeigekommen. Auch der blieb stehen und habe dann im ehemaligen Judenviertel der Hansestadt Hamburg gesagt: »Na, diese fünf Juden können jetzt wenigstens nicht mehr im Libanon die Araber ermorden.« Daraufhin sei er gelassen weitergegangen.
Tatenarm und auch nicht mehr gedankenvoll
Der vielleicht „deutscheste aller deutschen Dichter“, Friedrich Hölderlin, habe in seiner Ode An die Deutschen geschrieben:
»Spottet nimmer des Kindes, wenn noch das alberne
Auf dem Rosse von Holz herrlich und viel sich dünkt,
O ihr Guten! auch wir sind
Tatenarm und gedankenvoll!«
Tatenarm sei das deutsche Volk unter seinem „vergotteten Führer Adolf Hitler“ gewiss nicht gewesen, in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges und des Völkermords aber auch nicht gedankenvoll. Herausragend gedankenvoll seien wir Deutschen auch heute (2006) nicht mehr, aber tatenarm – das seien wir wieder geworden.
Scham über ihre Untaten habe die Deutschen nach 1945 in mürrische Ängstlichkeit gelockt. Die Deutschen wollen als Volk nicht erwachsen werden, konstatierte Biermann. In Bezug auf die globalen Konflikte, etwa den Krieg zwischen Israel und seinen Todfeinden, säßen die Deutschen tatenarm auf dem Schaukelpferd der Weltgeschichte. Rein ökonomisch sei das wiedervereinigte Deutschland ein erwachsener erfolgreicher Mann, militärisch ein halbstarker Schwächling, der sich als Sanitäter und Aufbauhelfer in Krisenregionen schicken lasse. Weltpolitisch aber „wollen die Kinder der Nazigeneration partout nicht runter vom Schaukelpferd einer selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Dieses Sich-aus-allem-Heraushalten, diese scheuschlaue, lebensdumme Tatenlosigkeit im Streit der Welt sei in der praktischen Auswirkung ein Tun, will sagen: ein folgenschweres Lassen.
Der bedrohteste Teil der fernwestlichen Zivilisation
Zum Vaterland sei ihm in den letzten Jahren immer mehr dieses fremdvertraute Israel geworden. Besonders die westeuropäisch orientierten Israelis seien immer tiefer enttäuscht über die aggressive Ignoranz der westlichen Welt, die sich die Nahosttragödie wie eine Seifenoper anschaue. „In mir aber wächst Furcht, denn das nahöstliche Israel ist der bedrohteste Teil der fernwestlichen Zivilisation“, so Biermann.
In diesem historischen Trauerspiel nämlich könne es kein Happy-End geben. „Wir wissen doch alle seit Sophokles, dass in einer echten Tragödie immer alle widerstreitenden Parteien aus ihrer Position recht haben und dass die Personae dramatis deshalb nur entscheiden können, ob sie diesen oder lieber einen anderen Fehler machen.“ Falsch sei alles. Ja, heillos sei in dieser tragischen Konstellation jedes Tun und Lassen. Jeder Weg führe in die Katastrophe. Den Gaza-Streifen besetzen sei falsch, den Gaza-Streifen räumen ebenfalls. In Deutschland würden es die Meinungsmacher lieben, den Zaun, mit dem sich Israel schützt, in Erinnerung an das geteilte Deutschland gehässig eine Mauer zu nennen. „Ich lebte lange genug hinter der Berliner Mauer und weiß, wie zynisch diese Gleichsetzung ist“, so Biermann wörtlich. Dennoch bleibe das Dilemma: Diesen Zaun zu bauen sei falsch, aber ihn nicht zu bauen sei vermutlich noch falscher.
Die Überlebenden haben die Schoah-Lektion gelernt und wollen sich niemals wieder abschlachten lassen
In Deutschland sage er klipp und klar: Die ungeduldigen Zuschauer müssten endlich kapieren, dass es keine Lösung gebe für den Konflikt zwischen Juden und Arabern. Hier in Israel sage er das Gegenteil: Die verzweifelten Israelis müssten einsehen, dass es doch Lösungen gebe. „Warum? Weil es sie geben muss.“
Israel habe in Deutschland schon eine bessere Presse gehabt. Drei Jahrzehnte nach dem Holocaust hätten die Deutschen dem jüdischen Volk schon fast verziehen, was sie ihm angetan haben. Doch nun würden die Täter mehr und mehr ungnädig angesichts dieses heillosen Dauerkonflikts ihrer Opfer. Immer wieder höre er das kalt-herzliche Argument: Diese Juden müssten doch während der Nazizeit am eigenen Leibe gelernt haben, was Unterdrückung sei. „Na eben drum!“, halte er dann heiß-herzlos dagegen. Die Überlebenden hätten die Schoah-Lektion gelernt und wollten sich niemals wieder abschlachten lassen.
„Die Juden sind an allem schuld!“ und die Araber werden für unmündige Menschen dritter Klasse gehalten, an die man noch keine aufklärerisch-humanen Maßstäbe anlegen dürfe
Die simpleren Durchschnittsdeutschen aber würden Partei für die Araber ergreifen. Es werde wieder der Refrain des alten Liedes geplärrt: „Die Juden sind an allem schuld!“ Und auf den reflexhaften Vorwurf des Antisemitismus antworteten „unsere modernen Judenhasser“ cool: »Man wird Freunde doch kritisieren dürfen!« Mit dem scharfen Auge starrten die Deutschen auf die Juden in Israel, mit dem triefenden Auge glotzten sie auf die Araber in Palästina.
Und dann bringt Biermann eine Schlüsselerkenntnis auf den Punkt: Das romantische Verständnis der Deutschen für die Islamisten im Nahostkonflikt habe Gründe. Sie hielten Araber für affige Wilde, für unmündige Menschen dritter Klasse, an die man noch keine aufklärerisch-humanen Maßstäbe anlegen dürfe. Die Zuneigung der Deutschen sei eine Art von vormundschaftlicher Verachtung. Der schwärmerische Respekt vor dem Fremdländischen sei nur Bequemlichkeit und Hochmut. Er sehe im Multi-Kulti-Geschwärme seiner alternativen Zeitgenossen die seitenverkehrte Version des Rassendünkels von gestern. Womit dies zusammenhängt, habe ich hier versucht zu aufzutröseln und zu erklären: Der Judenhass der Neuen Linken.
Selbst die Aufklärung über die skandalöse Hamas-Charta nutzt wenig
Doch zurück zum brillanten Biermann. Wenn die Zahlmeister der EU regelmäßig Alimente an die Palästinenser überwiesen, dann wollten sie es nicht wahrhaben, dass sich im Gaza-Streifen „die abgeklärten Massenmörder der Fatah mit den fanatischen Massenmördern der Hamas eigentlich nur über den Weg zur Endlösung der Judenfrage streiten“, denn im Grunde seien sie alle einer Meinung: „Israel muss vernichtet werden!“
Leider trägt es zur Aufklärung bisher wenig bei, wenn in großen Zeitungen sogar die skandalöse Hamas-Charta (die ich hier ausführlich zitierte und analysierte) abgedruckt werde:
»Israel wird aufsteigen, bis der Islam es vernichtet, so wie er seine Vorgänger vernichtet hat. … Dank der Ausbreitung der Moslems über die ganze Welt, die die Sache von Hamas verfolgen…, ist die Bewegung eine universelle. … Wer ihren Wert anzweifelt oder es vermeidet, sie zu unterstützen, oder so blind ist, ihre Rolle zu leugnen, fordert das Schicksal heraus. … Der Prophet, Segen und Friede sei mit ihm, hat gesagt: Der jüngste Tag wird nicht kommen, bevor nicht die Moslems gegen die Juden kämpfen (und die Juden töten) und der Jude sich hinter Steinen und Bäumen verbirgt. Die Steine und Bäume werden sagen: Oh Moslem! da versteckt sich ein Jude hinter mir, komm, töte ihn! … Friedensinitiativen laufen allesamt den Überzeugungen der Hamas zuwider.«
Idioten-Logik (verschwörungsmythisches antiaufkläerisches Sündenbockdenken)
Soweit das in der Tat schreckliche Zitat aus der skandalösen Hamas-Charta von 1988. Der Slogan »Die Juden sind an allem schuld« sei offenbar so unausrottbar wie das dumme Vorurteil, dass alle Juden besonders intelligent seien, fährt Biermann fort. „Die Juden waren und bleiben auch nach Meinung des gebildeten Elite-Packs an allem schuld.“ Auch am Amoklauf der bombenumgürteten Selbstmordmörder der Hamas und der Hisbollah. „Die jüdischen Neo-Cons in New York haben den bigotten Simpel George W. Bush in den Krieg gegen den Diktator Saddam Hussein getrieben. Die Juden sind durch ihre globale Machtpolitik schuld an der Atombombenproduktion Irans. Der Geldjude treibt im Börsengeschäft mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) die armen Länder immer tiefer in die Schuldenfalle.“ Diese Idioten-Logik (verschwörungsmythisches antiaufkläerisches Sündenbockdenken) gelte auch für gebildete Schwachköpfe, die jüdischen Kriegsgewinnlern die Schuld dafür gäben, dass die deutschen Steuerzahler jetzt teure Kriegsschiffe in den Libanon schicken müssten.
Die Rolle deutscher Massenmedien
Journalistische Ausgewogenheit der Berichterstattung über den Nahostkonflikt sei für das populäre deutsche Wochenmagazin stern „nur noch ein Feigenblatt in Fingernagelgröße“, konstatiert Biermann bereits 2006. Und das wirkungsmächtigste Blatt des Westens, der SPIEGEL, beuge sich der antiisraelischen Stimmung in Deutschland und bestärke sie zugleich im Tonfall augenzwinkernder Ausgewogenheit. Auch die meisten Nachrichten im Radio, die verschiedenen Fernsehsender – „fast alle singen mit falscher Stimme und echtem Gefühl, so wie das deutsche Harfenmädchen in Heines Wintermärchen“.
„Wenn die Araber die Waffen endlich niederlegen, wird es keinen Krieg mehr geben, aber wenn Israel die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben“
Währenddessen brenne Israel unter dem Raketenhimmel. „Die Juden sitzen wieder in den Bunkern, fliehen von Norden nach Süden.“ Aber das Land sei klein. Die arabischen Raketen flögen immer weiter und träfen immer genauer. Wie früher in den Weisen von Zion die Juden als Christenkinderfresser, so würden heute die Israelis als Kinderschlächter dargestellt, die eine christlich-moslemische Zivilisation in die Steinzeit zurückbomben wollten. „In Wirklichkeit aber sind es Araber, die Israel ausrotten und im nächsten Schritt die gesamte westliche Zivilisation vernichten wollen.“ Sein alter Freund, der Historiker des Jüdischen Widerstands, Arno Lustiger habe zu ihm gesagt: „Wenn die Araber die Waffen endlich niederlegen, wird es keinen Krieg mehr geben. Aber wenn Israel die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben.“
Die makabre Rechnung der iranischen Führung
Jedes tote arabische Kind sei ein kleiner Sieg im Medienkrieg, stellt Biermann klar. Der Anführer der Hisbollah predige im Libanon mit seiner sanften Stimme, dass arabische Bürger des Staates Israel, die gelegentlich von den Raketen der Hisbollah getötet würden, froh sein sollten, denn sie würden als Märtyrer in Allahs Paradies eingehen. Und der „durchgeknallte Führer des Iran, der das Gemetzel finanziert“, schreibe die Reden von Goebbels und Hitler ab, „schülerhaft wortwörtlich“. Alle Welt rechne damit: Der Iran werde bald seine Atombombe haben und die Trägerraken „als fliegende Perserteppiche dazu“. Ahmadineschad habe gedroht: „Wir werden den Juden einen Gefallen tun und ihre Auschwitz-Lüge in eine Wahrheit verwandeln, denn wir werden die Endlösung der Judenfrage verwirklichen.“
All diese Informationen sein in deutschen Massenmedien präsent, aber es kratze die Masse der Bevölkerung nicht. Der Chef des Iran machte der staunenden Menschheit eine makabre Rechnung auf: „Wenn bei einem atomaren Krieg eine Atombombe auf Israel falle, seien endlich alle 5 Millionen Juden auf einen Schlag tot. Wenn aber Israel kurz vorher noch die Raketen für den Gegenschlag abfeuere, werden vielleicht 15 Millionen Araber sterben – was tut das! Dann haben wir eben 15 Millionen Märtyrer mehr im Himmel, aber auf der Erde bleiben über eine Milliarde Moslems am Leben, um die Welt zu erobern.“
Die Deutschen kuschen vor den radikalen Moslems mit vorauseilender Feigheit: O heiliger Sankt Florian!, verschon mein Haus, zünd andre an!
Auch den Deutschen seien diese Fakten bekannt, und trotzdem steckten sie den Kopf in den Sand, „sie kuschen vor radikalen Moslems mit vorauseilender Feigheit. Sie wollen sich durch Wohlverhalten die Exportmärkte erhalten, die Rohstoffquellen sichern und sich die Terroristen im eigenen Lande vom Halse halten“. Es gebe in Deutschland einen spöttischen Spruch über den Schutzpatron der Feuerwehr: »O heiliger Sankt Florian! / verschon mein Haus, zünd andre an!«
Wenn er ungeniert sage: DIE Amerikaner, DIE Juden und von DEN Arabern, DEN Israelis spreche, und auch DIE Deutschen sage, müsse kein Besserwisser ihm erklären, dass es sehr verschiedene Deutsche, Juden, Araber, Israelis und Amerikaner gebe. Was ihn anwidere, das sei „die großmäulige Besserwisserei der Wenigwisser in Europa gegenüber dem Nahostkonflikt“.
Die feineren Deutschen ergehen sich in schmallippiger Äquidistanz: Alle sind gleich schuld
Die gröberen Deutschen habe er geschildert. Die feineren Deutschen seien moderater. Sie hielten sich bedeckt mit schmallippiger Äquidistanz. „Sie sagen: Juden und Araber sind gleich schuld! Die Streithähne sollen sich endlich vertragen!“
Politische Schöngeister würden sich in die ironische Pose der schönen Donna Blanca aus Heines berühmtem Gedicht Religionsdisput werfen, wo am Ende der Maulschlacht zwischen Rabbi und Pfaffe die junge Königin in der Loge sitzt. Der König hat schon die Schnauze voll von dem Wortegemetzel der gottvergifteten Eiferer und fragt seine Frau: Wer von beiden habe denn nun gesiegt? Was sie ihm antwortet, sei zum geflügelten Wort geworden:
»Welcher Recht hat, weiß ich nicht
Doch es will mich schier bedünken
Daß der Rabbi und der Mönch,
Daß sie alle beide stinken.«
„Für mich gehören auch die Millionen Moslems zur Zivilisation“
Ja, jeder Krieg stinke, so Biermann. Böse seien auch die Krieger aufseiten der Guten. „Unrecht tun auch die Kämpfer, die ihre Freiheit verteidigen. Es brüllen auch die Gerechten, wenn sie blindwütig um ihr Überleben kämpfen.“ Doch immer mehr Kommentatoren erklärten, dass in Nahost kein Rassen-, kein Klassen- und kein Religionskrieg tobe, sondern ein Krieg der Kulturen. Die Welt des Islam scheine heute gegen die Werte des Abendlandes zu stehen. „Ich aber sehe in diesem Konflikt zweier angeblich nicht kompatibler Kulturen ein Scheinproblem. Für mich gehören auch die Millionen Moslems zur sogenannten Zivilisation„, macht Biermann seine Sicht deutlich. Es seien die Nachfahren einer altehrwürdigen geistigen Tradition. Geniale Baumeister, göttliche Handwerker, begnadete Dichter, weise Philosophen. Es seien die Nachgeborenen von Abrahams Sohn Ismael, die schon den Lauf der Sterne berechneten, „als wir in den Wäldern Germaniens noch auf der Bärenhaut schnarchten“.
Und schon gar nicht könne er ein Feind der unterdrückten arabischen Völker sein, die heute „in totalitären Militärdiktaturen verblöden, in gotteslästerlichen Gottesstaaten verkommen“. Sogar die fanatisierten Intifada-Kids und ihre todtraurig-jubelnden Heldenmütter und all die analphabetischen Männer, wie sie im Westjordanland für jeden falschen Märtyrer Freudentänze machten, könne er nicht so einfach aus meiner Menschheit ausschließen. Aber die Palästinenser würden von ihren arabischen Brüdern selbst aus der Menschheit ausgeschlossen und vorgeschickt in einen tödlichen Kampf. „Die riesigen reichen arabischen Länder rund um Israel mit ihren gewaltigen Ressourcen an fruchtbarem Land und Bodenschätzen und alter Hochkultur sollten ihre Ölmilliarden investieren, um diesen Elendsten ein friedliches Leben zu ermöglichen“, stellt Biermann sehr treffend dar und es stellt sich in der Tat die Frage, warum sie dies nicht tun. Vielleicht wollen Sie mal selbst überlegen, liebe Leser.
„Ohne entschlossene Gewalt gegen bis an die Zähne bewaffnete religiöse Fanatiker haben wir nicht mal die Chance zu einem Streitgespräch“
Es helfe gegen Gewalt außer Gewalt auch Gewaltlosigkeit. Ja, es helfe auch Gerechtigkeit, es helfe Liebe und Güte, womöglich Bildung, Verzeihen und selbstkritische Demut, so Biermann weiter. Aber das bleibe für ihn das humane Drama: „Ohne entschlossene Gewalt gegen bis an die Zähne bewaffnete religiöse Fanatiker oder andere fundamentalistische Menschheitsretter haben wir Menschen nicht mal die Chance zu einem Streitgespräch über die letzten Dinge zwischen Himmel und Erde.“ Siehe dazu meinen Schlüsseltext Das Verhältnis von Vernunft und Gewalt.
David Ben Gurion werde der Satz in den Mund gelegt: Wer nicht an Wunder glaube, der sei kein Realist. Und dann endet Biermann mit den Worten:
„Ich stand in der Negev-Wüste im Kibbuz Sede Boker zusammen mit der israelischen Schriftstellerin Jonath Sened. Sie hat als kleines Mädchen bei Jizchak Katzenelson in einem Keller im Warschauer Ghetto Hebräisch gelernt. Sie zeigte mir das Arbeitszimmerchen eures Staatsgründers. Mir gefällt sein berühmter Satz. Auch ich glaube an Wunder, denn es ist schon ein doppeltes Wunder: Erstens, dass es uns Menschen überhaupt gibt. Und zweitens, dass wir noch immer leben. Ich glaube an das verzweifelte Lied aus dem Ghetto Wilna im Jahre 1943: »Mir lebn ejbig…«“
Hier können Sie Biermanns Redetext von 2006 in der ZEIT nachlesen.
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