Völkermord: IS-Anhänger zu „lebenslanger“ Haft verurteilt

Von Jürgen Fritz, Mi. 01. Dez 2021, Titelbild: Taha Al-J., AFP-Screenshot

Ein irakischer IS-Anhänger hielt sich zusammen mit seiner deutschen Frau eine Jesidin und ihre fünfjährige Tochter als Haussklaven. Als das Mädchen ins Bett machte, kettete er es stundenlang bei 45 bis 50 Grad in der glühenden Sonne an. Das Kind verdurstete. Nun wurde Taha Al.-J. zu „lebenslanger“ Haft verurteilt, genauer: auf unbestimmte Zeit, mindestens aber 15 Jahre.

Bei der Urteilsverkündigung fiel der Angeklagte in Ohnmacht

Der Vorsitzende Richter Christoph Koller sprach von einem der weltweit ersten Urteile wegen der Verbrechen des Islamischen Staates an der Minderheit der Jesiden. Bereits während der Vorbemerkungen zur Urteilsbegründung sackte der Angeklagte im Saal zusammen respektive fiel in Ohnmacht.

Der DW-Reporter Matthias von Hein meinte, der Angeklagte wirke, als sei er um Jahre gealtert. Vielleicht sei ihm erst in diesem Moment die Schwere des Verbrechens bewusst geworden, was meine These stützt, dass solche Personen nur eine Sprache verstehen, in der man auch zu ihnen sprechen muss. Ohne sehr harte Strafen entsteht in vielen nicht einmal so etwas wie ein Unrechtsbewusstsein. Nach der Ohnmacht des Angeklagten musste die Sitzung unterbrochen werden. Doch so zartbesaitet war Taha Al-J. nicht immer.

Taha Al-J

ZDF-Screenshot

Mutter und Kind als Haussklaven gehalten, immer wieder erniedrigt und dann das Mädchen mitten in der Hitze bei 45 bis 50 Grad ans Fenster gekettet

Zusammen mit seiner deutschen Ehefrau Jennifer W., die 2014 aus Lohe in Niedersachsen in den Irak ausgereist war, um sich dort der Terrormiliz Islamischer Staat anzuschließen und einen IS-Kämpfer zu heiraten, hielt sich der Iraker eine Jesidin als Haussklavin. Die Frau, die das Paar als Sklavin erstanden hatte, hatte eine kleine Tochter. Taha Al-J. das fünf Jahre alte Kind in einem Hof in der prallen Sonne angekettet haben – als Strafe, weil das Mädchen sich eingenässt und ins Bett gemacht hatte. Das Kind sei der Situation „wehrlos und hilflos ausgesetzt“ gewesen.

Taha Al-J. habe sowohl das Mädchen als auch dessen Mutter laut Anklage der Bundesanwaltschaft wiederholt erniedrigt und misshandelt. Nachdem er das Kind bei glühender Hitze an ein Fenstergitter im Hof des Anwesens im irakischen Falludscha gefesselt hatte, sei das Kind qualvoll verdurstet.

Ranja

Das Mädchen, das die beiden IS-Anhänger verdursten ließen, ZDF-Screenshot

Die Ehefrau wurde nur zu zehn Jahren Haft veurteilt

Jennifer W. stand bereits vor dem Oberlandesgericht (OLG) München vor Gericht und wurde Ende Oktober lediglich zu zehn Jahren Haft verurteilt. 3,3 Jahre davon hatte sie bereits in U-Haft verbracht, die voll angerechnet werden, und nach zwei Drittel der verhängten Strafe, siehe § 57 StGB, in diesem Fall also nach 6,7 Jahren, kann der Rest auf Bewährung ausgesetzt werden. Das heißt, Jennifer W. könnte in spätestens 3,4 Jahren schon wieder auf freiem Fuße sein. Gegen dieses Urteil hat die Generalbundesanwaltschaft aber zum Glück Revision eingelegt.

Nun fiel also das Urteil gegen den Haupttäter. Als Zeugin im Prozess gegen Al-J. hatte Jennifer W. ihren früheren Mann als gewalttätig beschrieben. Er selbst wollte sich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen nicht äußern.

Jennifer W.

Der Völkermord an den Jesiden

Das getötete kleine Mädchen gehörte ebenso wie seine Mutter zur religiösen Minderheit der Jesiden an. Bei des Jesiden handelt es sich um eine ethnisch-religiöse Gruppe mit etwa einer Million Angehörigen, deren ursprüngliche Hauptsiedlungsgebiete im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei liegen. 2017 lebten bereits ca. 200.000 Jesiden in Deutschland, das damit die größte jesidische Diaspora darstellte.

Das Jesidentum ist eine monotheistische, nicht auf einer heiligen Schrift beruhende, synkretistische (verschiedene Traditionen vermischende) Religion, die Endogamie praktiziert. Eine Heirat von Jesiden (beiderlei Geschlechts) mit Nicht-Jesiden hat angesichts jesidischer Heiratsregeln den Ausschluss aus der Gemeinschaft zur Folge.

Bereits seit August 2014 sind Jesiden Opfer eines andauernden Genozids, die von radikalen Muslimen als sogenannte „Ungläubige“ (Kāfir) verfolgt werden. Am 3. August 2014 überfielen IS-Anhänger die nordirakische Stadt Sindschar und legten dabei eine schier unermessliche Brutalität an den Tag. Jesidische Männer wurden massenweise exekutiert und in Massengräbern verscharrt. Tausende Frauen wurde versklavt.

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Wie die IS-Anhänger gewütet haben

Ar-Raqqa galt bis zur Zurückeroberung am 17. Oktober 2017 als Kommandozentrale und wichtigster militärischer Stützpunkt des Islamischen Staates. Menschen wurden von den religiösen Fanatikern bestialisch hingerichtet. Eine Frau erzählte, vom „Platz der Hölle“, wie er damals hieß. „Dies sollte ein Platz der Blumen sein“, sagte Rama Abdalla. „Stattdessen haben sie hier Köpfe ausgestellt, um die Leute einzuschüchtern. Das erschüttert mich noch immer.“

In einem Fußballstadion unter der Tribüne, wo einst die Umkleidekabinen waren, richtete die radikalen Muslime mehr als 100 Isolationszellen ein. Noch immer riecht es dort nach verwestem Fleisch. Menschen wurden an Eisenringen brutal gefoltert. Die Gefangenen wurden in Toilettenkabinen und kleinen Kästen eingesperrt, in denen sie sich nicht mehr bewegen konnten. Von einer Decke hängt noch der Strick, an dem Menschen erhängt wurden.

Frauen wurden massenweise versklavt und immer wieder vergewaltigt

Die Jesidin Dalal K., die seit einigen Jahren in Deutschland lebt und die hier exemplarisch für tausende und abertausende Schicksale stehen soll, berichtet, wie sie als 17-Jährige entführt und dann von neun verschiedenen IS-Anhängern immer wieder vergewaltigt wurde, bis ihr endlich die Flucht gelang.

Dalal K.

ZDF-Screenshot

Im Norden des Iraks flohen viele Jesiden vor der Verfolgung, Versklavung und Ermordung durch die terroristisch agierende fundamentalistische Miliz Islamischer Staat, welche danach trachtete, die Jesiden völlig auszurotten.

Al-Js Anwalt: „Der Tod des Kindes war ein schrecklicher Unfall“

In die Hand der Dschihadisten geriet auch die Mutter des fünfjährigen Mädchens, das kurze Zeit später auf grausame Weise den Tod finden sollte. Die Frau überlebte. Sie nahm sowohl an dem Prozess gegen Jennifer W. wie auch am Prozess gegen Taha Al-J. als Nebenklägerin teil. Dieser stand seit April 2020 vor Gericht. Im Mai 2019 war er in Griechenland festgenommen und einige Monate darauf nach Deutschland ausgeliefert worden.

Im März 2013 soll sich der heute ca. 30-Jährige dem IS angeschlossen haben. 2015 habe er dann auf dem Sklavenmarkt im syrischen ar-Raqqa eine Jesidin und deren fünfjährige Tochter gekauft. Al.-J.s Verteidiger hatten in der Verhandlung den Sachverhalt so dargestellt, dass die Mutter des Mädchens für ihren Mandanten eine Haushaltshilfe gewesen sei. Mit dem organisierten Vernichtungsfeldzug des IS gegen die Jesiden habe er gar nichts zu tun gehabt. Und der Tod des Mädchens könne auch auf eine Vorerkrankung zurückgehen. An hohe Temperaturen seien die Kinder im Irak gewöhnt. „Der Tod des Kindes war ein schrecklicher Unfall“ den Al.-J. bestimmt nicht gewollt habe, sagte sein Anwalt. Unmittelbar danach habe man sich um medizinische Versorgung bemüht. Damit versuchte er den Vorsatz der Tat auszuhebeln.

Absicht – bewusster Vorsatz – bedingter Vorsatz

Juristen unterscheiden drei Formen von vorsätzlichen Straftaten, die mit Wissen und Willen durchgeführt werden: 1. Absicht (dolus directus 1. Grades), 2. bewusster Vorsatz (dolus directus 2. Grades), 3. bedingter Vorsatz (dolus eventualis). Beim „dolus directus 1. Grades“ überwiegt das Element des Wollens, beim „dolus directus 2. Grades“ das Element des Wissens; beim „dolus eventualis“ (bedingter Vorsatz oder Eventualvorsatz) hält der Schadenverursacher den Eintritt des Schadens für möglich und nimmt das Risiko hierfür billigend in Kauf.

Es genügt also für ein vorsätzliches Tötungsdelikt, dass der Schadenverursacher den Schaden für möglich hält und ihn billigend in Kauf nimmt, auch wenn er diesen nicht unbedingt gezielt herbeiführen will, wenn er also nicht mit Absicht handelt (1), auch nicht bewusst vorsätzlich (2), wenn ihm die möglichen Konsequenzen seines Handelns aber bewusst sind (3) und er nach dem Motto handelt: „dann ist das Mädchen halt tot“ (sogenannte Billigungstheorie).

Durch den Hinweis auf mögliche Vorerkrankungen des Kindes wollte der Verteidiger also auch den bedingter Vorsatz untergraben, dergestalt er suggerierte, dass sein Mandant gar nicht damit rechnen konnte, dass das Mädchen sterben könnte, er den Tod also gar nicht für möglich hielt und ihn auf keinen Fall billigend in Kauf genommen hätte. Damit läge kein vorsätzliches Tötungsdelikt vor, sondern eine Körperverletzung mit Todesfolge.

Die Gegenargumentation sieht in der Regel wie folgt aus: Wer ein Kind stundenlang in der Hitze bei 45 bis 50 Grad in der Sonne ankettet und auf sein Wimmern nicht reagiert, der nimmt offensichtlich auch das Schlimmste zumindest billigend in Kauf.

Verteidiger: Mit dem Vernichtungsfeldzug des IS habe der Angeklagte gar nichts zu tun

Ferner versuchten Taha Al.-J.s Verteidiger von dem Vorwurf der Beteiligung am Völkermord rein zu waschen. Mit dem organisierten Vernichtungsfeldzug des IS gegen die Jesiden habe Taha Al-J. gar nichts zu tun. Gleich mehrfach bemühten sich die beiden Verteidiger, ihren Mandanten von jeglicher islamistischer Ideologie fernzuhalten. Ihr Mandant sei im Grunde ein „Schürzenjäger, der weit mehr Interesse an Frauen als am politischen Geschehen“ gehabt habe.

Mit Jennifer W. habe er sich vor allem deshalb zusammengetan, „weil sie für ihn eine Exotin war und nicht ins Bild einer irakischen Frau gepasst“ habe, erklärten die Verteidiger. Im gemeinsamen Haushalt habe er mit harter Hand gegen die Sklavinnen durchgegriffen, um seine stark ideologisierte Frau bei Stimmung zu halten. Außerdem habe er niemals an kriegerischen Auseinandersetzungen teilgenommen.

Bundesanwaltschaft plädierte für „lebenslange Haft“ bei Feststellung der „besonderen Schwere der Schuld“

Die Bundesanwaltschaft hatte eine lebenslange Haftstrafe und eine Schmerzensgeldzahlung an die überlebende Mutter gefordert. Zusätzlich solle die besondere schwere der Schuld festgestellt werden. Eine Haftentlassung nach nur 15 Jahren wäre damit deutlich erschwert. Die Anklage sah es als erwiesen an, dass Taha Al-J. die Fünfjährige bei Gluthitze im Hof seines Hauses ankettete. Die Mutter musste den Angaben des Gerichts zufolge 30 Minuten im Hof barfuß bei 50 Grad im Schatten draußen verbringen, so dass sie ihre Füße verbrannte.

Die Mutter, die mit einem ihrer Söhne in Deutschland lebt, tritt in dem Verfahren als Nebenklägerin auf. Ihre Rechtsvertreter hatten gefordert, die Tat als Mord einzustufen. Der IS habe mutmaßlich auch den Vater der Fünfjährigen ermordet. Dieser sei verschollen, ebenso wie ein Sohn der Familie.

Für die Richter ging es insbesondere um die Frage, ob es sich bei der Tötung des Mädchens um einen Völkermord im juristischen Sinne handelt. Dies wäre dann der Fall, wenn das Kind nur deswegen sterben musste, weil es den Jesiden angehörte, die Taha Al-J. stellvertretend für den IS auslöschen wollte.

Oberstaatsanwältin Anna Zabeck

AFP-Screenshot

Das Urteil: „lebenslange Freiheitsstrafe“ = mindestens 15 Jahre

Gestern fiel nun das Urteil. Der Mutter wurde ein Schmerzensgeld von 50.000 Euro zugesprochen. Taha Al-J. wurde wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge für schuldig befunden. Er wurde zu einer „lebenslangen Freiheitsstrafe“ verurteilt.

Dabei bedeutet „lebenslang“ in Deutschland fast nie wirklich lebenslang, aber bei einer „lebenslangen Freiheitsstrafe“ kann frühestens nach 15 Haftjahren die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Bewährungszeit dauert dann 5 Jahre.

Im Durchschnitt bedeutet „lebenslang“ 18,9 Jahre Haft, die Hälfte der zu „lebenslanger Freiheitsstrafe“ Verurteilten (Median) sitzt nicht länger als 17,0 Jahre.

Prinzip der universellen Jurisdiktion

Obwohl die Tat nicht in Deutschland begangen wurde, weder Täter noch Opfer Deutsche waren, haben deutsche Ermittler und ein deutsches Gericht sich für zuständig erklärt, um ein Signal in die ganze Welt zu setzen, das solche Verbrecher nirgends auf der Welt sicher sind vor Verfolgung. Dies ist nach dem Weltrechtsprinzip (Prinzip der universellen Jurisdiktion) bei der strafrechtlichen Verfolgung von Völkerstraftaten möglich.

Erforderlich ist hierfür, dass sich die Straftat gegen international geschützte Rechtsgüter richtet. Dies gilt insbesondere für solche Delikte, die unmittelbar nach dem Völkerrecht strafbar sind, wie zum Beispiel Menschenhandel. Bezüglich völkerstrafrechtlicher Taten, wie Genozid/Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, erlaubt § 1 des Völkerstrafgesetzbuches die Begründung nationaler Strafgewalt nach dem Weltrechtsprinzip.

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