Von Jürgen Fritz, Fr. 11. Feb 2022, Titelbild: ARD-Mediathek-Screenshot
Scholz habe es fertig gebracht, im amerikanischen Kongress eine einheitliche Einschätzung des unklaren Bildes und der Unzuverlässigkeit der Bundesrepublik Deutschland entstehen zu lassen, attackierte Friedrich Merz Olaf Scholz im Deutschen Bundestag. „Und das ist Ihre Verantwortung, Herr Bundeskanzler. Das ist Ihre Politik. Sie führen nicht – weder in Deutschland noch in Europa“.
Zwischen Lächerlichkeit und Affront
Um Waffenlieferungen im großen Stil hatte die Ukraine gebeten für die Verteidigung gegen einen möglichen russischen Angriff. Der ukrainische Botschafter in Berlin Andrij Melnyk hatte von Kriegsschiffen und Luftabwehrsystemen gesprochen. Zudem bat man, sei es direkt oder indirekt, aber der Wunsch war klar, um 100.000 Schutzhelme und -westen für Freiwillige. Und was machte Deutschland? Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) verkündete stolz, man wolle mit einer Lieferung von 5.000 Schutzhelmen an die Ukraine ein „ganz deutliches Signal“ setzen.
Das war an der Grenze zwischen Lächerlichkeit und einem Affront. Botschafter Melnyk begrüßte zwar die von der Bundesregierung zugesagte Lieferung, kritisierte sie aber gleichzeitig als „reine Symbolgeste“. Das sei „nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, noch nicht einmal „Trostpflaster“, sagte der Botschafter. „Die Ukraine erwartet eine 180-Grad-Kehrtwende der Bundesregierung, einen wahren Paradigmenwechsel.“
Noch deutlichere Worte fand der Bürgermeister von Kiew Dr. Vitali Klitschko, ehemaliger Boxweltmeister: 5.000 Helme seien „ein absoluter Witz. Was will Deutschland als Nächstes zur Unterstützung schicken? Kopfkissen?“, kritisierte Klitschko die Bundesregierung. Ihn mache das Verhalten der deutschen Regierung „nur noch sprachlos“.
Deutschland vermittelt den Bündnispartnern ein Bild der Unzuverlässigkeit
„Wir brauchen kein Taktieren und Lavieren, sondern mutiges Handeln der Bundesrepublik, die endlich die Ukraine mit deutschen Defensivwaffen versorgt, die wir gerade heute am meisten benötigen“, so der ukrainische Botschafter Melnyk.
Scharfe Kritik kam auch vom neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der Olaf Scholz Führungsschwäche attestierte. Merz warf Scholz im Ukraine-Konflikt regelrecht Versagen vor. Im Deutschen Bundestag attackierte der designierte CDU-Vorsitzende Scholz scharf:
„Sie haben es immerhin fertig gebracht, in dem ansonsten heillos zerstrittenen amerikanischen Kongress, eine vollkommen einheitliche Einschätzung des unklaren Bildes und der Unzuverlässigkeit der Bundesrepublik Deutschland entstehen zu lassen. Und das ist Ihre Verantwortung, Herr Bundeskanzler. Das ist Ihre Politik. Sie führen nicht – weder in Deutschland noch in Europa“,
so Merz wörtlich.
Die Idee der Unabhängigkeit und Freiheit in der Ukraine
Und auch aus vielen anderen Ländern wird die Kritik an der deutschen Außenpolitik, insbesondere dem SPD-Kurs immer lauter. Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, 1964 in Washington, D.C., geboren, gilt als eine der profiliertesten Kennerinnen Osteuropas. Ihr Gatte Radek Sikorski war polnischer Außenminister, ist heute Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Die beiden leben in Polen. Applebaum kennt auch die Ukraine gut. 2019 erschien ihr Buch Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine über den Holodomor, den Hungermord und größten Genozid der Menschheitsgeschichte an der Ukraine. 2021 erschien ihr Buch Die Verlockung des Autoritären.
Im Interview mit der WELT sagt die Historikerin und weltweit bekannte Journalistin:
„Die Sehnsucht der Ukrainer, von Russland unabhängig zu werden, war von Anfang an mit anderen Ideen verknüpft. Etwa der Idee, dass man sich an den Westen annähern müsse – sei es an Polen, sei es an Westeuropa. Auch der Idee der Demokratie.“
Im 19. Jahrhundert sei die ukrainische Unabhängigkeitsidee ganz klar mit der Idee der Freiheit verbunden gewesen:
„Leibeigene kämpften gegen ihre Herren. Die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung hatte immer eine antikoloniale, antiautokratische, antiautoritäre, sogar anarchische Unterströmung.“
Für Putins Russland stelle das eine Herausforderung dar.
„Die Art von Staat, die Putin vertritt, kann die Idee eines Nachbarn, der solche Bestrebungen hat, nicht tolerieren. Vor allem deshalb nicht, weil dieser Nachbar ihnen kulturell und politisch so nahesteht.“
Abschreckung ist das Einzige, was wirkt
Und auf die Frage, ob Abschreckung das Richtige sei in diesem Konflikt, erläutert Applebaum:
„Abschreckung ist das Einzige, was wirkt. (…) Der einzige Mensch, der die Ukraine als existenzielle Bedrohung betrachtet, ist Putin.“
Es gebe viele Leute in Russland, die gut mit einer unabhängigen Ukraine leben könnten, sogar einer Ukraine, die in den Westen integriert sei.
„Wenn wir unsere Werte verteidigen wollen – Souveränität, Demokratie, Gewaltlosigkeit –, dann müssen wir den Ukrainern helfen, sich so zu verteidigen, dass die Invasion und Besetzung der Ukraine für Putin zu teuer wird. Wäre es einfach, die Ukraine zu besetzen – so einfach wie damals die Besetzung der Krim –, dann hätten die Russen es schon getan“,
so Applebaum weiter. Es müsse für Putin klar sein, dass eine Invasion der Ukraine für ihr zu einem kompletten Desaster würde, weil zu viele russische Soldaten fallen würden … Hier sei die Sache, die Deutsche verstehen müssen – sie klinge paradox, sei es aber nicht:
„Wenn Sie Frieden in Europa wollen, kein Blutvergießen, Wohlstand und Handel – dann müssen Sie die Ukraine bewaffnen. Denn wenn Sie die Ukraine bewaffnen, treiben Sie den Preis einer Invasion so hoch, dass Putin nicht mehr einmarschieren kann.“
Wer die Ukraine bewaffnet, ist für den Frieden, wer sich weigert, die Ukraine zu bewaffnen, ist für den Krieg
Auf die Frage, wie sie die neue deutsche Bundesregierung bewerte, sagt Applebaum: Es sei eine so neue Regierung, und die Dinge würden sich so schnell verändern, dass sie sich mit einer Bewertung zurückhalten wolle. Aber einige Äußerungen von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) und Leuten in der militärischen Führung
„scheinen mir darauf hinzudeuten, dass diese Leute den fundamentalen Punkt nicht begriffen haben: Wer die Ukraine bewaffnet, ist für den Frieden. Wer sich weigert, die Ukraine zu bewaffnen, ist für den Krieg.“
Wer ein wenig Ahnung hat von Spieltheorie, dem leuchtet das schnell ein. (Die Spieltheorie ist eine mathematische Theorie, in der Entscheidungssituationen modelliert werden, in denen mehrere Beteiligte miteinander interagieren. Sie versucht dabei unter anderem, das rationale Entscheidungsverhalten in sozialen Konfliktsituationen davon abzuleiten.)
Putin wittert die gegenwärtige Schwäche des Gegners und will diese ausnutzen
Und in Bezug auf die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen), die eine Bewaffnung der Ukraine „aus historischen Gründen“ ablehnt, sagt die Historikerin:
„Ich verstehe nicht, von welcher Geschichte sie spricht. Wenn sie sich auf die Geschichte des Münchner Abkommens von 1938 und den Einmarsch in die Tschechoslowakei bezieht, dann verpflichtet die Geschichte sie doch, die Ukraine mit Waffen zu versorgen.“
Abschließend erklärt Applebaum, wie Wladimir Putin tickt und warum er diese Krise gerade jetzt gezielt zuspitze: Das Wichtigste sei aber vielleicht, dass Putin die aktuelle Lage in der Ukraine studiert habe:
„Die Ukraine wird wirtschaftlich wohlhabend, sie wird demokratischer, sie wird ukrainischer – pro Jahr geben immer mehr Leute dort Ukrainisch und nicht Russisch als Muttersprache an. Die ukrainische Armee wird immer besser, es gibt jetzt schon eine Generation von Veteranen, die im Kriegsfall als Reservisten zur Verfügung stünden.“
Putin (der sicherlich sehr strategisch und spieltheoretisch denkt, JFB) habe wohl die Kosten kalkuliert und sei zu dem Schluss gekommen, dass der Preis für ihn in Zukunft steigen werde.
„In dem Maße, in dem die Ukraine sich einigt, reicher wird, eine bessere Armee bekommt, wird eine Invasion für ihn teurer. In zehn Jahren wird die Ukraine stabil und souverän sein“,
so Applebaum. Dann sei ein Einmarsch nicht mehr möglich. Deswegen müsse es aus Putins Sicht jetzt passieren. Das dürfte also der Grund sein, warum Putin ausgerechnet jetzt auf Eskalation aus ist. Er wittert die gegenwärtige Schwäche des Gegners und will diese ausnutzen.
Zur Person
Anne Applebaum studierte Geschichte und Literatur in Yale (Abschluss mit summa cum laude), macht später noch ihren Master in Internationale Beziehungen. Schon 2008 wurde sie vom US-amerikanischen Magazin Foreign Policy zu den hundert einflussreichsten Intellektuellen gezählt. Sie schreibt seit 1988 als Korrespondentin für etliche Zeitungen, wie die Washington Post, The New York Review of Books, The Wall Street Journal, The New York Times, Financial Times, International Herald Tribune, Foreign Affairs, The Independent, The Guardian und in Deutschland für die WELT und Cicero.
Darüber hinaus lehrte sie an verschiedenen Hochschulen in den USA (Yale, Harvard, Columbia und Texas A&M, Houston), in Großbritannien (Oxford, Cambridge, London und Belfast), in Deutschland (Heidelberg und Humboldt, Berlin), in Maastricht und Zürich. Für ihre Arbeiten über die jüngere Geschichte Osteuropas wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
Das Agieren der Scholz-Regierung sorgte international für Unverständnis, Spott und Entsetzen
„Das Verhalten der Bundesregierung im Ukraine-Konflikt sorgt in den USA für Unverständnis, Spott und Entsetzen“, schrieb der Merkur. Deutschlands Rolle als verlässlicher Verbündeter werde in Frage gestellt. Zahlreiche Nato-Mitgliedsstaaten wie die USA, Großbritannien und Frankreich hätten die Ukraine militärisch unterstützt und seien geschlossen gegen Russland aufgetreten.
Die USA würden neben der Entsendung zahlreicher Soldaten nach Osteuropa oder Waffenlieferungen auch nie dagewesene Sanktionen planen. Nach Informationen der New York Times sollen Sanktionen geplant sei, welche die russische Banken härter als je zuvor treffen sollen. Einige der größten Finanzinstitute Russlands könnten mit Sanktionen belegt werden, was bisherige westliche Sanktionen weit übertreffen und die russische Wirtschaft stark schädigen könnte.
Die Bundesregierung Deutschlands hingegen habe Waffenlieferungen an Kiew eine ausdrückliche Absage erklärt und übe sich in Zurückhaltung. Deutschland schere damit aus dem sonst geschlossenen Vorgehen westlicher Staaten aus. Daher werde in den USA sogar die Zuverlässigkeit Deutschlands als Bündnispartner bezweifelt. „Sowohl rechts- als auch linksgerichtete US-Medien haben verheerende Urteile über die Außenpolitik Deutschlands getroffen“, so der Merkur weiter.
Deutschland wird als „schwächstes Glied in der Ukraine-Krise“ wahrgenommen, vor allem wegen der traditionell pro-russischen Haltung der SPD
Das Wall Street Journal habe die Frage nach der Verlässlichkeit Deutschlands mit einem vernichtendem „Nein“ beantwortet. Die New York Times prangere das Nichtstun der Bundesregierung an und liste alle Unterstützungsaktionen von Staaten (u.a. Dänemark, Frankreich, Spanien, Großbritannien, USA) auf. „Und dann wäre da Deutschland“, heißt es in dem Artikel weiter. Dieses mache nur durch Passivität von sich reden.
Bloomberg News stufte Bundeskanzler Scholz sogar als „schwächstes Glied in der Ukraine-Krise“ ein. Erklärt wird dieses Verhalten von der Nachrichtenagentur durch eine traditionelle Pro-Russland-Haltung der SPD. Zu einem ähnlichen Schluss komme Fox News. Dabei werde insbesondere auf Ex-Kanzler Gerhard Schöner (SPD) verwiesen, der für Putin fürstlich entlohnte Lobbyarbeit betreibt.
Im Wall Street Journal hieß es weiter, Berlin würde Russlands Interessen vor die des Westens stellen. Welch hartes Urteil! Deutschland sei „billiges Erdgas und die Besänftigung Putins wichtiger“ als die Solidarität mit verbündeten Demokratien. Dass Deutschland von US-Präsident Biden nach wie vor als der wichtigste Verbündete angesehen werde, sei kaum noch nachvollziehbar. Denn Deutschland habe seine Glaubwürdigkeit als Partner verloren.
Zur Vertiefung
WELT: Osteuropa-Expertin Applebaum: „Wer sich weigert, die Ukraine zu bewaffnen, ist für den Krieg“
t-online: Klitschko: „5.000 Helme sind ein absoluter Witz“
Bundestagsrede von Friedrich Merz vom 27.01.2022
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