Von Jürgen Fritz, Di. 03. Mär 2020, Titelbild: WELT-Screenshot
Nicht nur Merkels Deal mit Erdogan, nein, ihre gesamte Migrationspolitik ist gescheitert. Wieder machen sich Tausende und Abertausende auf den Weg ins gelobte Land, auf den Weg nach Westeuropa. Erdogan benutzt die Flüchtlinge als Waffe gegen die EU, er schießt Menschen wie Munition auf Europa, um so Unterstützung für seinen Krieg in Syrien zu erzwingen. Und es war die von Grün-Rot-Dunkelrot getriebene Kanzlerin, die Erdogan diese Macht verlieh, weil sie niemals ein schlüssiges Konzept der Migrations- und Einwanderungspolitik entwickelte. Was wir jetzt tun sollten und was wir nicht tun sollten.
Die doppelte Radikalisierung unserer Gesellschaft
Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir zunächst verstehen, was in den letzten Jahren passierte und in welcher Lage wir uns eigentlich innenpolitisch befinden.
Bei den Neuen Linken sehen wir seit langem das Phänomen, dass sie von zumindest im Ansatz edlen moralischen Motiven getrieben sind: Menschen, denen es sehr viel schlechter geht, zu helfen, sich um die Schwachen, Unterdrückten und von der Natur oder von der Gesellschaft Benachteiligten in der Welt besonders kümmern zu wollen. Dabei, in diesem extremen Eifer, verlieren sie jedoch mehr und mehr jeglichen Realitätssinn, koppeln sich quasi ab von der Wirklichkeit und ihren Gesetzmäßigkeiten und gehen seit langem schon dazu über, alle Kritiker an diesem irrsinnig zu werden drohenden Kurs mit Gewalt zu unterdrücken, so dass die Moralität, die sie für sich in Anspruch nehmen, genau dadurch verloren geht. Sie werden selbst antiliberal, werden zu Feinden der Freiheit, insbesondere der Redefreiheit, und untergraben zunehmend die liberale Demokratie, die Gewaltenteilung, die Grundlagen der freiheitlichen Demokratie, die auf einem offenen, fairen Diskurs beruht.
Auf der anderen Seite haben wir eine zweite Radikalisierung von solchen, die diesen neulinken Kurs ablehnen, zum Teil aus reinem Realitätssinn und Horizont, Thilo Sarrazin, Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski …, zum Teil aus dumpfen, niederen Motiven: völkisches, rein gruppenegoistisches Denken, nicht nur: „Deutschland zuerst“, sondern: „Deutschland und sonst nichts“.
Insbesondere Letztere aber auch die Realisten fühlen sich permanent von den hegemonialen Neuen Linken unterdrückt und den von diesen weitgehend beherrschten M-Medien permanent manipuliert – das sicher nicht zu Unrecht. Die Neuen Linken haben längst ihre moralische Unschuld und ihre Integrität verloren. Die Art aber, wie die Völkischen (die „Patrioten“) dagegen opponieren und was dabei zum Vorschein kommt – bisweilen das Dumpfste, was man im Menschen finden kann – stößt dann wiederum andere so sehr ab, dass sie denken „Mit denen möchte ich überhaupt nichts gemein haben“, und sie dann aus der Mitte ins linksradikale Lager hin bewegen.
Die Absenz jeder höheren Moralität führt bei anderen zur Verachtung und diese wiederum auf Seite der Verachteten zu Hass
Nach meiner Beobachtung hat genau dieser Effekt auch bei Angela Merkel, die früher ganz anders redete, verstärkt ab September 2015 stattgefunden. Die Rechtsradikalen haben sie in ihrer Widerlichkeit quasi nach links getrieben, weil sie deren Gebaren so schrecklich abstoßend fand. Hinzu kam, dass sie nun zum ersten Mal nicht nur geachtet, sondern geliebt wurde – und zwar von den Neuen Linken, deren Herzen ihr nun regelrecht zuflogen – ihr der nüchternen, trockenen Technokratin der Macht. Das übte natürlich eine zusätzliche enorme Verführung aus. Wer will nicht von so vielen geliebt werden? Wer will nicht, dass ihm die Herzen zufliegen und er überall auf der Welt gelobt und als „Führerin der freien Welt“ gefeiert wird? Merkel tappte hier quasi in die Beliebtheits- und Geliebt-werden-wollen Falle, aus der sich nicht mehr raus kam. Rein getrieben aber haben sie die Rechtsradikalen, da sie so abschreckend waren.
Seelisch – oder wem der Ausdruck nicht gefällt: in der Psyche – spielt sich dabei folgendes ab. Es entsteht Verachtung und Verachtung wirkt anders als Hass nicht hinziehend, sondern wegstoßend. Denn Hass ist das Gefühl des Unterlegenen, Verachtung dagegen zumeist dasjenige des Überlegenen. Auch sie, die Verachtung, ist eine negative Emotion, die sich anders als die Empörung und der Zorn weniger auf bestimmte Verhaltensweisen als vielmehr auf die ganze Person, Gruppe oder Institution bezieht und dieser eine grundsätzliche Abwertung zukommen lässt. Verachten kann man also nicht nur Menschen, sondern auch Denkweisen, Weltanschauungen, Organisationen etc. Im Gegensatz zum heißen Hass ist die Verachtung eine kalte Emotion. Während der Hassende dem Verhassten am liebsten ins Gesicht schlagen möchte, weigert sich derjenige, der den anderen verachtet, diesem auch nur die Hand zu geben. Er will mit ihm nichts, rein gar nichts zu tun haben. Er will von ihm möglichst weit weg.
Also wandern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft ins linke Lager ab, weil sie so weit wie möglich von den Rechtsradikalen entfernt sein wollen, weil sie einen möglichst großen Raum zwischen diesen und sich selbst herstellen wollen. Die starke Geringschätzung basiert auf der Überzeugung des Unwertes des Verachteten. Dem Objekt der Verachtung wird dabei im Unterschied zum Hass meist nicht so eine große Wichtigkeit beigemessen, während der Hassende von seinem Hassobjekt regelrecht besessen sein kann und sein ganzes Denken sich um jenes dreht. Der oder das Verachtete nimmt dagegen weniger Raum im Innern dessen ein, der dieses Gefühl in sich trägt. Es beherrscht ihn nicht und füllt ihn nicht aus. Wenn er das Objekt seiner Verachtung nicht sieht und nicht hört, denkt er gar nicht mehr an dieses. Während das Ziel des Hasses im Extremfall der physische Tod des Gehassten ist, kann das letzte Ziel der Verachtung die soziale Ausgrenzung sein.
Der Verachtete auf der Gegenseite kann auf die ihm entgegengebrachte Verachtung mit Scham reagieren, mit Verlust der Selbstachtung, aber auch mit Empörung, Zorn oder eben mit Hass, weil der Entzug der Achtung wiederum eine Kränkung darstellt und er sein Gesicht nicht verlieren möchte. Eher selten reagiert er mit Selbstreflexion und Veränderung seines Seins, so dass dies keinen Anlass mehr bietet zu der ihm entgegengebrachten negativen Emotion.
Wie die politische Mitte verloren geht und die Stimme der Vernunft kaum noch durchringt
Was dem Ganzen also zu Grunde liegt, ist eine zu große ethisch-moralische Ungleichheit unter den Menschen. Die Rechtsradikalen verursachen in anderen das Gefühl, genauer: die Emotion der Verachtung, was dazu führt, dass man sich von ihnen wegbewegen will. Durch diese permanente Abschreckung („So wie die will ich nicht sein“) wird das linke bis linksradikale Lager somit immer stärker, was die Gegenseite in ihrer Verzweiflung noch radikaler und rabiater macht, die ohnehin ständig schon im Panikmodus sind („Das Abendland steht unmittelbar vor dem Untergang“, „Es ist schon fünf nach zwölf“ etc) und nun auch immer öfter zu brutaler Gewalt greifen.
Auch geht auf seiten der Rechtsradikalen damit bisweilen ein völliger Realitätsverlust einher. Man überschätzt sich und die eigenen Kräfte vollkommen („Wenn die AfD erstmal bei 51 Prozent ist, drehen wir das Ganze“), um die tatsächliche Machtlosigkeit, die Ohnmacht aushalten zu können. Man glaubt wie Hitler 1944, 1945 in seinem Bunker an den Endsieg, obwohl die Zeichen auf ganz anderes hindeuten (die AfD hat ihren Höhepunkt längst überschritten).
Dieses Immer-rabiater-Werden führt wiederum dazu, dass die hegemonialen Neuen Linken noch mehr alle Kritik unterdrücken, auch die sachliche, wohlbegründete aus der politischen Mitte der Gesellschaft, ja sogar die bloße Nennung von Fakten, die sie nicht hören wollen, weil sie nicht in ihr Weltbild passen, und treiben so ihrerseits Menschen aus der Mitte heraus, jetzt aber nach weit rechts. Auf diese Weise geht die politische Mitte immer mehr verloren und die Stimme der Vernunft und des Realitätssinns dringt kaum noch durch.
Was wir tun sollten und was nicht
Die Stimme der Vernunft – zu der Moralität als Stimme der praktischen Vernunft immer dazu gehört – und des Realitätssinnes würde zum Beispiel sagen: Ja, wir helfen anderen, die in großer Not sind, gerne, so gut wir können. Aber wir sind nur ein kleines Land mit nicht einmal mehr 1,1 Prozent der Weltbevölkerung. Und in diesen 1,1 Prozent sind bereits über ein Viertel Menschen, die selbst oder ihre Eltern/Großeltern nach Deutschland immigrierten, die wir also in den letzten Jahren und Jahrzehnten schon aufgenommen haben und die sich teilweise gar nicht gut integriert, geschweige denn assimiliert hätten. Viele schon, viele, zu viele aber auch nicht.
Vor allem können wir deswegen kaum noch jemanden aufnehmen, weil dies eine ungeheure Sogwirkung in die halbe Welt entfalten würde und auf jeden, den wir einreisen lassen, sofort zehn andere kommen, die davon hörten und dann auch kommen wollen. Wir können meinetwegen ein paar Tausend Menschen pro Jahr aufnehmen, aber nicht Hunderttausende. Und diese Personen wollen dann wir aussuchen, wobei Aspekte wie Bildung und Qualifikation, auch ideologisches Denken versus geistige Offenheit eine Rolle spielen, so dass die Chancen gut stehen, dass sie sich bei uns auch wirklich gut assimilieren werden und keine Parallelgesellschaft in der unseren bilden mit völlig anderen Moral- und Wertvorstellungen. Und dies aber auch nur, wenn gewährleistet ist, dass keine weltweite Sogwirkung nach Europa entsteht, die unseren Kontinent und unser Land an den Rande des Ruins bringen könnten.
Vor allem aber müssen wir überlegen, wie wir gemeinsam die Fluchtursachen vor Ort abstellen oder zumindert erstmal reduzieren können, so dass nicht nur der Sog aus Europa, sondern auch der Druck wegzugehen vor Ort gedrosselt wird. Alles andere wäre wahnsinnig, weil selbstzerstörerisch, nicht konstruktiv, sondern destruktiv, also nicht vernünftig, sondern in höchstem Grade unvernünftig. Denn es gibt zwar eine moralische Pflicht, anderen Menschen, die in Not sind zu helfen, soweit dies in den eigenen Kräften steht, auch Menschen in anderen Ländern, anderen Erdteilen, anderen Kulturen, anderen Völkern. Eines gibt es aber nicht: eine moralische Pflicht, sich selbst zu zerstören.
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Literaturempfehlung
Christoph Demmerling und Hilge Landweer: Philosophie der Gefühle – Von Achtung bis Zorn, J.B. Metzler-Verlag 2007, EUR 29,95
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