Warum Sozialisten mit der Zeit stets ihre Moralität einbüßen

Von Jürgen Fritz, So. 19. Jul 2020, Titelbild: Screenshot aus Dorian Gray

Sozialisten (mittlere und Neue Linke) sind getrieben von einem nicht verwerflichen, sondern einem durchaus edlen Motiv: Sie wünschen sich eine Welt, in der es allen Menschen möglichst gleich gut geht. Ja mehr noch: eine Welt, in der alle möglichst gleich oder ähnlich glücklich sind. Sie sind insofern keine Egoisten, sondern was sie trägt, ist gerade das Mitgefühl, die Empathie, die Sorge um andere. Daher lehnen sie auch den Kapitalismus so sehr ab, weil dieser im Grunde auf einem egoistischen Antrieb aufbaut: persönliche Gewinne erzeugen. Das Verrückte und Paradoxe ist nun aber das folgende.

Das psychische Grundproblem der Sozialisten

Das Verrückte bei der Sache ist, dass just dies persönliche Gewinnstreben bei einem recht großen Freiraum und einer eher geringeren gesellschaftlichen respektive staatlichen Einhegung dazu führt, dass es den meisten, wenn nicht sogar allen insgesamt besser geht. Der auf individuell eher weniger moralische Antrieb führt also auf der gesellschaftlichen Ebene zu besseren Ergebnissen, was moralisch wiederum positiv zu bewerten ist. Denn wer wollte ernsthafte behaupten, es sei moralisch verwerflich, wenn es in der Gesellschaft K selbst den Ärmsten in dieser immer noch deutlich besser geht als in den Ärmeren, ja sogar dem Durchschnitt in Gesellschaft S? Wir haben hier also eine klassisches Paradoxon, mit welchem die Sozialisten (mittlere und Neue Linke, Marxisten und Neomarxisten) nicht klar kommen, welches sie psychisch überfordert. Weshalb überfordert es sie?

Weil es ihrem Menschenbild so sehr widerspricht. Sie möchten nicht in einer Welt leben, in der alles auf Egoismus aufgebaut ist. In einer solchen Welt können sie sich einfach nicht wohl fühlen. Und sie möchten ihre Mitmenschen, ja überhaupt den Menschen nicht so sehen: als primär egoistisch gesteuertes Wesen. Da würde für sie etwas innerlich zerbrechen, kaputt gehen. Sie könnten dann ihren Nächsten nicht mehr mit den gleichen Augen ansehen. Das möchten sie nicht. Also fangen sie an, sich den Menschen zurecht zu phantasieren, damit aber den anderen und sich selbst zu belügen, zu täuschen. Sie stellen den und die Menschen anders dar als er tatsächlich ist respektive als sie sind und zwar besser. Das ist bis zu einem gewissen Grade sogar sinnvoll und konstruktiv.

Es ist gut, den anderen besser zu sehen als er tatsächlich ist, aber nicht zu viel

Wenn man andere in seiner Vorstellung ein klein wenig besser macht, als sie tatsächlich sind, so führt das dazu, dass der andere eher gewillt ist, sich von seiner positiven Seite zu zeigen, weil er die Erwartungshaltung des anderen nicht enttäuschen möchte. Das ist quasi eine psychologische Gesetzmäßigkeit: Sieht mich der andere ein wenig besser als ich bin, so merke ich das in der Regel – so meine Selbstwahrnehmung einigermaßen gesund, sprich nicht gestört ist – und es schmeichelt mir zugleich. Also strenge ich mich an, um diesem minimal zu positiven Bild gerecht zu werden. Wenn das Bild, welches der andere sich von mir macht, nicht deutlich, sondern nur ein wenig zu positiv ist, so erscheint es mir auch sinnvoll, mich anzustrengen, weil es eben nicht weit von mir weg ist und damit erreichbar. So ist das bei fast jedem.

Das Ganze funktioniert aber nicht mehr, wenn das Bild (die innere Repräsentation) zu sehr von der Realität abweicht. Deswegen scheitern zum Beispiel auch Liebesbeziehungen, wenn der eine den anderen zu sehr glorifiziert, zu sehr anhimmelt, zu sehr auf ein Podest hebt, wenn sein Bild von dem Geliebten zu sehr von der Realität abweicht. Das Bild darf auf keinen Fall schlechter sein als die reale Person, weil es sonst den anderen runterzieht und er mit der Zeit nicht besser, sondern schlechter wird. Aber es darf auch nicht zu viel nach oben abweichen, denn sonst erkennt sich der andere in dem Bild gar nicht wieder. Man denkt dann irgendwann automatisch: „Der/die liebt ja gar nicht mich, sondern seine Wunschprojektion, die er sich von mir macht, aber das bin ja gar nicht ich. Ergo liebt er gar nicht mich, sondern sein Bild von mir, das mit mir nur bedingt zu tun hat“.

Und wir sind in der Regel so schlau zu wissen: Das kann nicht lange gut gehen. Denn sobald der andere merkt, dass ich so gar nicht bin, wie er es sich ausmalt, bricht das ganze Kartenhaus in sich zusammen und dann bleibt Enttäuschung, Verbitterung und es kann sehr unschön werden.

Sozialisten negieren die Natur selbst

Der Trick ist also, man muss es irgendwie hinkriegen, andere ein bisschen besser zu sehen als sie wirklich sind, aber nicht zu viel. Es darf nicht völlig unrealistisch werden. Genau in die Falle tappen nun die Sozialisten. Sie sind keine grenzenlose Egoisten und keine eiskalten Zyniker, sondern sie malen sich die Welt so, wie sie sie gerne hätten und lösen sich dabei viel zu weit von der Realität, der Wirklichkeit, dem, wie der Mensch von Natur aus ist. Das aber heißt, sie negieren die Natur, die Welt und den Menschen in seinem Sein selbst. Zu diesem gehört nämlich ein gewisses Maß an Egoismus, nicht unbedingt grenzenloser, aber eben ein gewisses Maß.

Und die Sozialisten negieren damit auch das Grundprinzip der Evolution, mithin des Lebens selbst, welches quasi eine Entwicklung vom Niederen zum Höheren, von ungeordneter zu geordneter Materie, von unbelebter zu belebter Natur, zu Lebewesen, welcher ihrer Umwelt permanent Energie entziehen, um einen Stoffwechsel in Gang zu halten, wovon sie leben, von den einfachen Lebenwesen zu denen mit einem Nervensystem und einem Gehirn, von der rein vitalen Seele zur fühlenden und denkenden. Die Evolution hat gleichsam eine Richtung, sie bringt mit der Zeit immer höhere Entitäten hervor. Das ist genau das Gegenteil des Gleichheitsideals. Sozialisten möchten also das Grundprinzip der Natur, der Evolution und des Lebens beim Menschen, dessen Gehirn die bislang höchste bekannte Komplexität aller bekannten Entitäten aufweist, gleichsam stoppen und irgendwie umdrehen. Sie lehnen sich mithin gegen die Natur auf, das durchaus aus edlen Motiven. Doch durch diese Auflehnung gegen die Natur passiert folgendes.

Der Einzug der Heuchelei und des Selbstbetrugs und die Entstehung der verlogenen Gesellschaft

Die Sozialisten sind nun gleichsam gezwungen, sich und anderen etwas vorzumachen. Damit aber nimmt etwas in sie Einzug, was ihrem ursprünglich moralischen Ansatz, den eigenen Egoismus zu überwinden, gänzlich konträr ist: die Heuchelei, die Selbsttäuschung, der Selbstbetrug, ja die Selbstlüge. Es gibt aber kaum etwas Unmoralischeres als Verlogenheit und Heuchelei.

Und noch ein weiterer Faktor kommt hinzu. Da sich das Menschen- und Gesellschaftsbild zu sehr von der Realität unterscheidet, kommt es unweigerlich zu Diskrepanzen, die kaum einem verborgen bleiben. Man denke hier an George Orwells grandiose Schilderung von Engsoz, wo im Radio ständig verkündet wird, dass die Rasierklingenproduktion schon das X. Jahr in Folge gesteigert werden konnte, aber so gut wie keiner Rasierklingen auftreiben kann.

Das Sich-Lösen-von-der-Realität führt also zunächst in die Heuchelei und Selbstlüge beziehungsweise Selbsttäuschung, dann im zweiten Schritt zur Heuchelei auch nach außen, anderen gegenüber. So aber entsteht mit der Zeit eine immer mehr verlogene Gesellschaft.

Sobald die Selbst- und Fremdtäuschungen auffliegen, geraten Sozialisten in einen tiefen Konflikt

Schließlich kommt es in der dritten Stufe dazu, dass Einzelne anfangen, die Diskrepanzen aus Wirklichkeit und dem, wie sie geschildert wird, offen anzusprechen und aufzudecken. Nun fühlen sich die Sozialisten in ihrem ganzen Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbild bedroht. Was sollen sie jetzt tun? Zugeben, dass die Wirklichkeit ganz anders ist, als sie es sich selbst und allen anderen die ganze Zeit erzählten? Dann würden sie ja ihr Gesicht vor allen anderen verlieren und auch vor sich selbst. Sie müssten sich eingestehen, dass alles eine einziger Selbstbetrug war, ein riesiger Irrtum, ein Illusion. Dass sie jahre- oder jahrzehntelang selbst einem Schwindel aufgesessen sind, ja mehr noch: dass sie selbst diese Schwindel forciert haben.

Dazu aber ist kaum ein Mensch fähig. Einige ganz wenige schaffen das hin und wieder, sich von solch essentiellen Selbstlügen und Selbsttäuschungen zu befreien. Das aber sind stets die großen Ausnahmen. Die breite Masse ist dazu niemals fähig. Was müssen die Sozialisten also tun, so sie selbst an der Macht sind und die Menschen anfangen, die Diskrepanzen aus Schein und Sein offen anzusprechen?

Der unvermeidliche Weg zum Gewaltmenschen und neuen Unterdrücker

Nun beginnt das letzte und traurigste Kapitel. Die hegemonialen Sozialisten müssen nun anfangen, nicht nur Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubige, nicht nur diejenigen, die völlig unberechtigte und abstruse, völlig unfundierte, unsachliche Kritik üben, also eigentlich gar keine, sondern nur mosern, sie müssen nun auch diejenigen, die berechtige, rein sachliche Kritik üben, die einfach nur darauf hinweisen, was nicht stimmt, mit Gewalt zu unterdrücken. Sie müssen anfangen, ihnen das Wort zu verbieten, damit sie selbst und andere nicht hören müssen beziehungsweise sollen, was jene zu sagen haben, nicht weil es immer falsch ist, was diese sagen, sondern gerade weil einiges von dem, was gesagt wird, stimmt.

Sie müssen anfangen, Menschen unter Druck zu setzen, die einfach nur auf Missstände hinweisen. Sie müssen versuchen, ihre Kritiker zu diskreditieren, zu stigmatisieren, auszugrenzen und zu diffamieren. Kurzum sie müssen zu Gewaltmenschen und zu Unterdrückern werden. So sie sich einen Hauch von Humanimus bewahrt haben, tun sie das „nur“ mit psychologischer Kriegsführung, ansonsten auch mit brachialer physischer Gewalt bis hin zu Gulags und Massenmord, siehe Stalin, siehe Mao, siehe Nordkorea, siehe die Kommunistische Partei in China, siehe Vietcong (die Nationale Front für die Befreiung Südvietnams), siehe Pol Pot und die die Roten Khmer usw. usf..

Warum Sozialismus wie eine Liebesbeziehung, die auf extremen Illusionen aufgebaut ist, stets im Desaster endet

Somit kommen wir zu dem paradoxen Ergebnis, dass diejenigen, die mit einem hohen moralischen Anspruch starteten, unweigerlich in der Unmoralität, in der Heuchelei, der Selbst- und Fremdtäuschung, der Unterdrückung anderer und letztlich in der Gewalt gegen Menschen landen, während diejenigen, die nicht mit einem moralischen Anspruch starten, sondern den menschlichen Egoismus zumindest bis zu einem gewissen Grade akzeptieren und genau darauf aufbauen, was eigentlich kein edler Ansatz ist, gerade dadurch nicht nur freiere, sondern auch insgesamt bessere Gesellschaften hervorbringen, sofern es gelingt, das egoistische Streben nicht grenzenlos werden zu lassen, sonder es einigermaßen einzuzäumen verstehen.

Die Kunst dürfte also darin bestehen, die menschliche Natur ein Stück weit anzunehmen, auch das, was man eigentlich nicht so schön findet, quasi mit dem zu arbeiten, was de facto vorhanden ist. Den Menschen möglichst viel Freiheit und Freiraum zur Entfaltung und das heißt eben auch zur wirtschaftlichen Entfaltung zu lassen, sie also nach persönlichem Gewinn und Glück streben lassen, und das Ganze nur moralisch zu umranden und einzuhegen, so dass das Bild des Menschen zwar ein wenig von der Realität abweicht zum Besseren hin, aber eben nicht zu viel, sich nicht von der Wirklichkeit völlig löst. Denn ansonsten wird es nicht nur gänzlich unrealistisch, sondern das ganze Konstrukt zerbricht früher oder später und endet im Desaster, ähnlich wie eine Liebesbeziehung, die auf Illusionen aufgebaut ist.

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