Worin die methodologische Autonomie der Geisteswissenschaften gründet

Von Jürgen Fritz, Mi. 17. Jun 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

Die Naturwissenschaften erforschen, wie der Name schon sagt, die Natur, also das Reich der Naturgesetze. Sie erklären einzelne Ereignisse anhand der entdeckten Gesetze und diese wiederum aus anderen, noch grundlegenderen Gesetzmäßigkeiten, aus denen sie die spezielleren logisch deduzieren. Was aber machen die Geisteswissenschaften, zum Beispiel die Sprach- und Literaturwissenschaften, die Geschichts- und Religionswissenschaften, die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft? Worin gründet ihre methodologische Autonomie?

Naturwissenschaften erklären Ereignisse, interpretative Wissenschaften erfassen Gedanken

Die in den letzten Jahrhunderten so überaus erfolgreichen Naturwissenschaften erforschen die Natur, insofern diese Naturgesetzen unterliegt, welche sie zu eruieren versuchen. So erklären sie das Geschehen in der Welt, indem sie einzelne Ereignisse aus den induktiv gewonnenen Naturgesetzen sodann deduktiv ableiten. Sodann betten sie einzelne Gesetze in ganze Theorien ein, zum Beispiel das Standardmodell der Kosmologie, die spezielle Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die dann wiederum zum Standardmodell der Quantenfeldtheorie zusammengefasst werden, usw. Ihr Ziel ist seit langem, eine einheitliche Theorie zu entwickeln, die alle Teiltheorien und alle Naturgesetze enthält, so dass jedes einzelne Naturgesetz aus allgemeineren Gesetzen logisch deduziert (abgeleitet), mithin deduktiv erklärt werden kann. 

Die Methode der interpretativen Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften ist die des Verstehens propositionaler Gehalte von Gedanken, Überlegungen, Sätzen und Texten, was eine Form der Rationalisierung darstellt. Das Verstehen (Interpretieren) unterscheidet sich von der Methode der Naturwissenschaften, welche die des Erklärens ist, zum Beispiel deduktiv-nomologische Erklärungen von Naturgesetzen aus anderen, allgemeineren Naturgesetzen, kausal (deterministische) Erklärungen von singulären Ereignissen, deduktiv-statistische Erklärungen von Naturgesetzen aus allgemeineren Naturgesetzen oder induktiv-statistische Erklärungen singulärer Tatsachen.

Diese andere Methode des Verstehens von Gedanken und Gefühlen anderer, also deren Innenleben,  im Gegensatz zum Erklären von Ereignissen, die auf Naturgesetze zurückgeführt werden können, begründet die methodologische Autonomie der Geisteswissenschaften als Untergruppe der Kulturwissenschaften, die ihrerseits zu den  Real- oder empirischen Wissenschaften gehören im Gegensatz zu den Formalwissenschaften (Logik, Mathematik, theoretische Informatik …). In den Geisteswissenschaften geht es  darum zu verstehen, nachzuvollziehen, was in einem anderen Geist vor sich ging. Dies geschieht durch Interpretation, also dem Erzeugen von Metarepräsentationen im eigenen Geist, die sich eben nicht auf die Natur beziehen, sondern auf Repräsentationen im Geist eines anderen.

Verstehen heißt erfassen des Inhalts des Gedankens und des psychischen Modus (Sprechakt) des Satzes

Einen Gedanken oder einen Satz verstehen, heißt im Kern nichts anders als a) den propositionalen Gehalt und b) den psychischen Modus (Sprechakt) des Gedankens oder Satzes zu erfassen. Geht es dem Sprecher beispielsweise vor allem darum, eine Feststellung zu treffen (deskriptiver Sprechakt) oder möchte er eher seine eigene Einstellung kundtun (expressiver Sprechakt) oder will er primär mich oder andere zu einem bestimmten Handeln veranlassen (appellativer Sprechakt). Dies sind offensichtlich unterschiedliche psychische Modi, die erfasst werden müssen, wenn der andere in seiner Äußerung verstanden werden soll.

Aber natürlich muss auch der Inhalt der Gedankens oder Satzes erfasst werden. Eine sprachliche Äußerung referiert auf etwas in der Welt, sie bezieht sich auf Dinge, deren Eigenschaften oder auf Sachverhalte, sie hat einen Weltbezug und sie repräsentiert etwas, das heißt sie hat einen semantischen Gehalt, einen Inhalt, im Falle von Sätzen ist das die Proposition des Satzes, seine Bedeutung.

Die Bedeutung, die Proposition der folgenden drei Sätze ist zum Beispiel offensichtlich die gleiche: a) „Jeder hat eine Mutter“, b) „Eine Mutter hat jeder“, c) „Everyone has a mother“. Drei verschiedene Sätze, aber immer die gleiche Proposition, die gleiche Bedeutung, immer der gleiche objektive Gedanke, der sich verschieden ausdrücken lässt und der sich in verschiedenen Individuen wiederfinden kann, in denen er jeweils repräsentiert wird. Das heißt, diese drei Sätze, allgemein: Sätze, die den gleichen propositionalen Gehalt haben, haben den gleichen Wahrheitswert. Entweder sie sind alle wahr oder alle zugleich falsch, weil sie ja die gleiche Bedeutung haben.

Verstehen ist eine Metarepräsentation

Das Verstehen eines Gedankens oder eines Satzes ist selbst natürlich auch eine mentale oder sprachliche Repräsentation, die sich nicht auf ein Naturereignis richtet, sondern auf eine andere Repräsentation eines anderen Wesens, das über einen Geist und Sprache verfügt. Verstehen ist damit eine Metarepräsentation, bei der es darum geht, nicht die Außenwelt zu erfassen, sondern die Gedanken eines anderen über die Außenwelt oder die Gedanken eines anderen über die Gedanken eines Dritten über die Außenwelt, zum Beispiel was Marcel Reich-Ranicki über ein Buch von Günther Grass denkt, der sich über die Wiedervereinigung auslässt. Dann hätten wir es natürlich auch mit einer Metarepräsentation zu tun oder meinetwegen mit einer Metametarepräsentation.

Das Verstehen der propositionalen Gehalte, der Bedeutungen der Gedanken und Sätze eines anderen gelingt dabei umso besser, je umfassender diese auf konsistente Weise über normative Relationen (gute Begründungen) auf andere propositionale Gehalte von Gedanken oder Sätzen dieser Person bezogen werden können. Beim Verstehen geht es also darum, sich ganz in die Sicht des anderen hineinzuversetzen und die Welt mit seinen Augen zu sehen, was umso leichter gelingt, je rationaler dessen Gedanken und Gefühle sind. Gefühle unterliegen dabei durchaus ebenfalls der Rationalität. Nur deshalb können wir auch die Gefühlswelt eines anderen verstehen, wenn wir uns in sein inneres System, in seinen Geist, in seine Innenwelt hineindenken.

So könnten wir zum Beispiel Greta Thunberg fragen, warum sie sich so sehr für die Umwelt und speziell den Klimaschutz einsetzt. Sie könnte versuchen, uns das verständlich zu machen, indem sie uns ihre Gründe nennt. Dabei würde irgendwann das Gefühl, genauer: die Emotion der Angst auftauchen. Wir könnten dann versuchen zu verstehen, a) wovor genau sie Angst hat und b) woher diese Angst kommt. All das lässt sich rational erklären, was nicht heißt, dass jede Angst rational adäquat dimensioniert ist. Ängste können übertrieben, adäquat und auch unterdimensioniert sein (wobei Lebewesen, bei denen Letzteres permanent der Fall ist, eine eher geringer Lebenserwartung haben dürften). Aber auch das hat dann seine rationalen Gründe, die in der Person, zum Beispiel ihren früheren Erlebnissen begründet liegen.

Die Schlüsselrolle der Theorie der Gefühle in der Verbindung der drei großen Reiche der Natur, des Geistes und des Sozialen

Bei einer genaueren Untersuchung des Zusammenhangs zwischen den drei großen Reichen a) der Natur (erforscht durch die Naturwissenschaften), b) des Geistes (untersucht durch die Geisteswissenschaften) und c) der Gesellschaft, des Sozialen (Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften) nimmt übrigens die Theorie der Gefühle, speziell der Emotionen eine Schlüsselstellung ein. Gefühle als phänomenal bewusste Zustände von Wesen mit einem Geist – seien es Körpergefühle, wie Hunger, Durst, Juckreiz, Schmerz oder das angenehme Gefühl, wenn man zart gestreichelt oder umarmt wird, oder seien es Emotionen, die auf externe Objekte gerichtet sind, wie Freude, Angst, Hoffnung, Hass oder Liebe – sind die elementarste Form echter (genuiner) Normativität, die unserem Leben eine Ausrichtung und Orientierung geben.

Gefühle sind ferner echte natürliche Funktionen des Gehirns auf die Umwelt zielgerichtet zu reagieren und zwar so, dass auf die Ursache des Gefühls, auf den objektiven Teleogehalt eine vorteilhafte Interaktion ausgelöst wird, welche auf ein sich aus der Ursache des Gefühls ergebendes Ziel gerichtet ist: bei wohltuenden Gefühlen ist das Ziel, diese Ursache weiter zu suchen, bei unangenehmen Gefühlen die Ursache zu meiden. Gefühle sind damit nicht-sprachliche Repräsentationen. Sie repräsentieren das, was dieses Gefühl hervor ruft, zum Beispiel wenn wir uns am offenen Feuer verbrennen, repräsentiert der Schmerz, der dadurch verursacht wird, das Feuer. Wenn uns unsere Liebste oder unser Liebster küsst, so repräsentiert das dabei entstehende Gefühl ihre respektive seine Lippen. Gefühle stellen damit einen Bezug zur Welt her.

Außerdem haben Gefühle eine Expressivität, das heißt, sie manifestieren sich in körperlichen Mustern (Körpersprache), in Gesichtszügen (Mimik) und Gesten (Gestik). Diese intentionalen, emotionale Zeichen, das heißt ihre nicht-sprachlichen Teleogehalte können von anderen Wesen, die mit einem Geist ausgestattet sind, wiederum registriert und interpretiert, sie können verstanden werden. Damit kommt Gefühlen auch eine kommunikative Rolle zu. All dies geschieht nach rationalen Mustern.

Die Literatur hilft uns, unser eigenes Ich zu transzedieren, und gerade dadurch uns selbst besser zu erkennen

In der Literatur zum Beispiel wird das Innenleben, insbesondere auch Gefühle von Personen in der Epik beschrieben, in der Lyrik (Poesie) wird oftmals ein bestimmtes Gefühl zum Ausdruck gebracht unter starker Verwendung rhetorischer und formaler Ausdrucksmittel. In der Dramatik versuchen die Schauspieler auf der Bühne (oder im Film) ihr Innenleben durch ihre Körpersprache, Mimik und Gestik zum Ausdruck zu bringen, und diejenigen, die das besonders gut können, so dass wir die Gefühle der gespielten Figur gleichsam sehen, sprich verstehen (interpretieren) können, erhalten hierfür bisweilen Millionengagen.

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Pixabay, CC0 Creative Commons

Insbesondere durch die Literatur, sei es Epik, Lyrik oder Dramatik, inklusive Film und Fernsehen, gelingt es uns, zeitweise unser eigenes Ich zu transzendieren und uns ganz in eine andere Person hineinzuversetzen, ganz in ihren Gedanken und Gefühlen aufzugehen, was unseren Horizont ungemein weitet und uns quasi für eine Zeit von uns selbst einerseits befreit, andererseits hilft, uns selbst im anderen zu erkennen, was oft leichter ist, als sich direkt zu reflektieren. Doch zurück zu Gedanken und Sätzen.

Das Reich der Natur und der logische Raum der Gründe

Propositional gehaltvolle Gedanken und Sätze, also sprachlich geprägte Repräsentationen der Welt weisen eine (natürlich mehr oder weniger gute) logische und rationale Organisation auf, die zugleich eine Grundlage für gute Begründungen darstellt. Die Konsistenz und Rationalität von propositional gehaltvollen Gedanken und Sätzen stiften auf Grund ihrer semantischen Netzwerke einen logischen Raum der Gründe, in dem wir uns als Denker und sprachfähige Wesen bewegen, wenn wir argumentieren und begründen.

Der logische Raum der Gründe lässt sich unterscheiden vom Reich der Natur. Das Reich der Natur besteht aus jenen Zuständen, die lediglich durch kausale (deterministische oder statistische) Beziehungen organisiert sind. Im Reich der Natur herrschen die Naturgesetze, im logischen Raum der Gründe dagegen die Logik und die Rationalität, inklusive der Rationalität und Logik der Gefühle. Genau darauf greifen die Geisteswissenschaften zurück respektive genau in diesem Raum oder Reich bewegen sie sich. Das macht ihre methodologische Autonomie aus.

Literaturempfehlungen

Grundkurs Philosophie. Bd.2     Grundkurs Philosophie / Philosophie des Geistes und der Sprache    Grundkurs Philosophie. Bd.4

Analytische Einführung in die Philosophie des Geistes als Buch     

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