Von Jürgen Fritz, So. 27. Sep 2020, Titelbild: Roland Garros-Screenshot
Heute beginnt das 119. Tournoi de Roland Garros, die French Open, das größte und wichtigste Sandplatzturnier der Welt. Im Herren- und Dameneinzel sind je 128 Spieler am Start. Wer sind die Favoriten auf den Turniersieg? Wer kann wann auf wen treffen? Und wie kann Dominic Thiem die unglaubliche Serie der Big-Four brechen und als fünfter Spieler seit Juli 2005 auf Platz zwei der Weltrangliste klettern?
Nur tausend Zuschauer pro Tag statt wie sonst um die 30.000
Roland Garros ist nicht nur das größte Sandturnier der Welt, es ist eines der vier Grand Slam-Tournaments (A). Die erste Austragung fand im Jahre 1891 statt, damals noch nur für Herren. Damit ist es nach Wimbledon (seit 1877) und den US Open (seit 1881) das drittälteste Grand Slam-Turnier. Mit Ausnahme von zwei Unterbrechungen von fünf beziehungsweise sechs Jahren während der zwei Weltkriege wurde es seit 1891 jedes Jahr ausgetragen. Und auch die Corona-Pandemie soll die French Open 2020 nicht stoppen. Sowohl bei den Herren als auch den Damen sind im Einzel traditionsgemäß 128 Spieler im Hauptfeld am Start. Das Herrenfeld ist mit 38 Top 40-Spielern ausgesprochen stark besetzt. Nur Roger Federer (4), der sich dieses Jahr zwei Knie-OPs unterziehen musste, und der Kanadier Milos Raonic (20) fehlen.
Das 119. Roland Garros-Turnier wird jedoch anders als die Jahre zuvor vor nur sehr wenigen Zuschauern ausgetragen. Während die US Open unter völligem Ausschluss von Besuchern im Stadion stattfand, hatte man in Paris eigentlich 11.500 Zuschauer auf der gesamten Anlage geplant, die in drei getrennte Bereiche unterteilt werden sollte. Doch dies wurde dann auf Grund der hohen Zahlen an SARS-CoV-2 Infektionen in Frankreich und speziell in Paris zunächst auf 5.000 pro Tag reduziert, dann am Donnerstag auf nur noch tausend Zuschauer auf der gesamten Anlage. In den fünfzehn Spieltagen werden also nicht mehr als 15.000 Besucher zusammen kommen können. 2018 zählte man insgesamt über 480.000 Besucher auf der Anlage.
Nadal ist auch dieses Jahr der Top-Favorit Nr. 1, aber …
Doch wer sind dieses Jahr unter diesen besonderen Bedingungen (Austragung im Herbst statt im Mai/Juni vor ganz wenigen Zuschauern bei viel niedrigeren Temperaturen, schwererem Boden und Bällen, so dass diese weniger hoch springen und den Spin weniger gut aufnehmen) die Favoriten auf den Turniersieg?
Als Top-Favorit gilt bei den Herren erneut der zwölffache Roland Garros-Champion Rafael Nadal (Nr. 2 der Weltrangliste). Die Bedingungen und auch die viel kürzere Vorbereitungszeit – Rafa spielte dieses Jahr nur ein Sandturnier im Vorfeld statt wie sonst vier – sprechen alle gegen den spanischen Rekordsieger. Für ihn dürfte es daher deutlich schwerer werden, als in dem meisten Jahren seit 2005, als er im Stade Roland Garros zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag erstmals triumphierte. Normalerweise spielt er im Vorfeld der French Open im Frühjahr die vier Sandturniere in Monte Carlo (B), Barcelona (C), Madrid (B) und Rom (B) und reist dann mit 15 bis 20 Siegen nach Paris an. Dieses Jahr gewann Rafa aber nur ganze zwei Matches auf Sand. In Rom schied er letzte Woche sehr überraschend bereits im Viertelfinale gegen Schwartzman aus. Gleichwohl sehen ihn die Buchmacher, ob seiner vielen Erfolge in Paris ganz vorne – noch vor Djokovic und Thiem. Nadal hat bei den French Open eine sagenhafte Matchbilanz von 93:2 vorzuweisen.
Allerdings hat Rafa eine Horrorauslosung erwischt. Schwerer hätte es für ihm kaum kommen können. Im Viertelfinale könnte er auf den starken Deutschen Alexander Zverev (7), den Halbfinalisten der diesjährigen Australian Open und Finalisten der US Open treffen, im Halbfinale auf den Österreicher Dominic Thiem (3), den Finalisten der Australian Open und frischgebackenen US Open-Sieger. Und wenn er beides überstehen sollte, könnte er im Endspiel auf die Nr. 1 der Welt, den amtierenden Australian Open-Champion Novak Djokovic treffen. Er müsste also zum Turniersieg gleich drei absolute Top-Spieler nacheinander aus dem Weg räumen. Und das bei Bedingungen, die ihm gar nicht liegen: kühles Wetter, Regen, schwerer Boden, schwere Bälle, die seinen enormen Vorhand-Topspin schlecht aufnehmen, damit seine stärkste Waffe ein Stück weit entschärfen.
Djokovic und Thiem sind dieses Jahr nah dran an Nadal und es gibt noch einige sehr starke Spieler
Wesentlich leichter ist die Auslosung des Favoriten Nr. 2 Novak Djokovic. Er ist in ganz oben gesetzt, Nadal ganz unten im Tableau. Der Serbe kann damit bis zum Finale seinen beiden stärksten Konkurrenten, Nadal und Thiem, aus dem Weg gehen. Außerdem hat der Djoker dieses Jahr nur ein einziges Match verloren, nämlich seine Disqualifikation bei den US Open. Seine Matchbilanz in 2020 lautet 31:1. Zudem hat er letzte Woche das Masters 1000-Turnier in Rom auf Sand gewonnen. Für mich persönlich dieses Jahr sogar der Top-Favorit noch vor Nadal und Thiem.
Roland Garros-ScreenshotDamit sind wir schon bei Turnierfavorit Nr. 3: dem Österreicher Dominic Thiem. Diese drei gelten als die absoluten Top-Favoriten auf den Turniersieg. Alle drei haben schon bewiesen, dass sie fähig sind, auch die ganz großen Turniere über sieben Runden à best of five zu gewinnen, Nadal bereits 19 mal, Djokovic 17 mal und Thiem vor zwei Wochen in New York zum ersten Mal.
Hinter diesen drei Top-Favoriten gibt es drei weitere Spieler, die sehr stark eingeschätzt werden: der Grieche Stefanos Tsitsipas (6), der heute Nachmittag beim C-Turnier in Hamburg im Endspiel steht, wo er auf den starken Russen Rublev trifft. Außerdem der Russe Daniil Medvedev (5), der US Open-Finalist von 2019, der auf Sand bisher aber wenig gerissen hat.
Sehr stark einzuschätzen ist auch Alexander Zverev (7), der dieses Jahr bei den Australian Open erstmals ein Grand Slam-Halbfinale erreichte und bei den US Open sogar das Endspiel. Er ist eigentlich ein sehr guter Sandspieler, gewann zwei seiner drei B-Titel auf der roten Asche: 2017 in Rom, 2018 in Madrid. Außerdem stand er die beiden letzten Jahre jeweils im Viertelfinale, gehört also ohne Zweifel zu den sechs bis acht besten Sandspieler der Welt. Zverev hat aber zum einen eine sehr schwere Auslosung und zum anderen weiß man nicht, wie schnell er nach dem physisch und mental unglaublich aufreibenden Finale bei den US Open vor zwei Wochen regenerieren und sich neu motivieren kann.
Vier weitere starke Spieler, die man in Paris dieses Jahr auf dem Zettel haben muss, sind der Argentinier Diego Schwartzman (13), der letzte Woche beim B-Turnier in Rom sensationell Rafael Nadal schlug und dann bis ins Finale einzog, wo er Djokovic unterlag. Dann natürlich der Sieger von 2015 und Finalist von 2017 Stan Wawrinka (17). Außerdem der Italiener Matteo Berrittini (8) und der 22-jährige Russe Andrey Rublev (14), der heute Nachmittag im Endspiel des C-Turniers in Hamburg steht gegen Tsitsipas und dann sofort nach Paris reisen muss, wo er wahrscheinlich am Dienstag sein Erstrundenmatch wird bestreiten müssen.
Die jeweils besten Wettquoten
Und wen sehen die Buchmacher ganz vorne? Im Falle seines Turniersieges erhalten Sie, so Sie 100 € setzen, diese Gewinnsummen (jeweils die beste Quote):
- Rafael Nadal: 215 €
- Novak Djokovic: 310 €
- Dominic Thiem: 550 €
- Stefanos Tsitsipas: 3.400 €
- Daniil Medvedev: 4.300 €
- Alexander Zverev: 5.100 €
- Diego Schwartzman: 6.700 €
- Stan Wawrinka: 6.700 €
- Matteo Berritini: 7.500 €
- Andrey Rublev: 8.100 €
Bei Alexander Zverev, der auf Sand durchaus stärker einzuschätzen ist als Medvedev, vielleicht auch als Tsitsipas, dürfte hier auch seine enorm schwere Auslosung eine Rolle spielen, denn er ist im gleichen Viertel wie Nadal, ganz unten. Das heißt, auch für ihn gilt, dass er im Extremfall drei absolute Spitzenspieler, ja mehr noch: die drei großen Turnierfavoriten nacheinander in best of five-Matches schlagen müsste: im Viertelfinale Nadal, im Halbfinale Thiem und im Endspiel Djokovic. Eine schier unlösbare Aufgabe.
So könnten die Achtelfinals (4. Runde) aussehen
Wenn es die Favoriten alle schaffen würden, sich in den ersten drei Runden durchsetzen, was erfahrungsgemäß nie bei allen der Fall ist, dann könnte es in den Achtelfinals zu folgenden Paarungen kommen (in Klammern angegeben nicht die Weltranglistenposition, sondern hier die Platzierung in der Setzliste in Paris):
- Djokovic (1) gegen Khachanov (15), Garin (20) oder Humbert
- Bautista-Agut (10) gegen Berritini (7)
- Medvedev (4) gegen Rublev (13)
- Shapovalov (9) gegen Tsitsipas (5)
- Monfils (8) gegen Schwartzman (12)
- Wawrinka (16) oder Auger-Aliassime gegen Thiem (3)
- Zverev (6) gegen Goffin (11) oder Sinner
- Fognini (14) gegen Nadal (2)
Im Viertelfinale spielt dann der Sieger aus 1 gegen den Sieger aus 2, der Sieger aus 3 gegen den Sieger aus 4 usw. Die obere Hälfte wirkt insgesamt etwas schwächer als die mit Nadal, Thiem und Zverev ungemein stark besetzte untere Hälfte.
Kracherduell in der ersten Runde: Wawrinka – Murray
Gleich in der ersten Runde kommt es im Herreneinzel zu einem absoluten Kracherduell: die beiden dreimaligen Grand Slam-Chamipions treffen heute in der vierten Partie auf dem Court Philippe-Chatrier, dem Hauptplatz von Roland Garros aufeinander. Stan Wawrinka gewann das Turnier 2015 im Endspiel gegen Djokovic und stand 2017 im Finale, wo er gegen Nadal verlor. Murray stand 2016 im Endspiel, das er gegen Djokovic bei dessen bisher einzigem French Open-Sieg verlor. Der 35-jährige Schweizer ist seit seiner zweiten Knie-OP 2017 aber nicht mehr auf der gleichen Spielhöhe wie in den Jahren 2014 bis 2016, als er gleich drei Grand Slam-Siege feiern konnte.
Noch mehr gilt dies für den 33-jährigen Schotten, den dreimaligen Grand Slam- und zweimaligen Goldmedaillen-Gewinner, der 2016 die Nr. 1 der Welt wurde, seit 2017 aber an schweren Hüftproblemen leidet und sich zwei Operationen unterziehen musste. Im Januar 2019 ließ Andy Murray sich eine sogenannte „Birmingham Hip“ einsetzen. Bei dieser OP-Methode wird ein Metallstab in die rechte Hüfte eingeführt und eine Metall-Kappe auf den Oberschenkelhalskopf gesetzt. Dabei wird der Knochen abgeschliffen und im Anschluss vollständig von einer Kobalt-Chrom-Metallverbindung umhüllt. Dass Andy überhaupt nochmals Tennis auf dem Niveau spielen kann, haben viele gar nicht erwartet. Und dass die beiden nach den Big Three besten Spieler der 2010er gleich in Runde eins aufeinandertreffen, ist sehr schade, aber natürlich ein absoluter Leckerbissen.
Thiem könnte erstmals die Nr. 2 der Welt werden und damit die Serie der Big-Four brechen
Für Dominic Thiem, aktuell die Nr. 3 der Welt, eröffnet sich bei den diesjährigen French Open übrigens eine ganz besondere Chance. Nach seinem Sieg bei den US Open vor zwei Wochen, seinem ersten Grand Slam-Titel, ist er in der Weltrangliste so nah an Rafael Nadal auf Position 2 herangerückt, dass er die Gelegenheit hat, erstmals in seiner Karriere die Nr. 2 der Welt zu werden. Dies schafften seit dem 25. Juli 2005, als Rafa erstmals auf Position 2 vorrückte, dort Lleyton Hewitt ablöste, sage und schreibe nur vier Spieler, die sogenannten Big-Four, die die Weltrangliste seit 15,2 Jahren ununterbrochen auf 1 und 2 anführen:
- Roger Federer: erstmals am 11.08.2003 die Nr. 2, aktuell die Nr. 4 der Welt, elfmal am Jahresende auf 1 (fünfmal) oder 2 (sechsmal).
- Rafael Nadal: erstmals am 25.07.2005 die Nr. 2, aktuell die Nr. 2 der Welt, ebenfalls elfmal am Jahresende auf 1 (fünfmal) oder 2 (sechsmal).
- Novak Djokovic: erstmals am 01.02.2010 die Nr. 2, aktuell die Nr. 1 der Welt, achtmal am Jahresende auf 1 (fünfmal) oder 2 (dreimal).
- Andy Murray: erstmals am 17.08.2009 die Nr. 2, aktuell die Nr. 111 der Welt, zweimal am Jahresende auf 1 (2016) oder 2 (2015).
Kein anderer Spieler, nicht einmal der dreifache Grand Slam-Sieger Stan Wawrinka, schaffte es in den letzten 15,2 Jahren, in Weltrangliste unter die Top-Zwei vorzustoßen. Dominic Thiem, der die letzten vier Jahre in Paris immer mindestens im Halbfinale stand, die letzten zwei Jahre sogar jeweils im Endspiel, hat in den nächsten zwei Wochen die Gelegenheit, in diese neue Sphäre vorzudringen und erstmals die Nr. 2 der Welt zu werden. Dazu muss er aber das Turnier gewinnen. Selbst eine erneute Finalteilnahme würde nicht reichen. Mal sehen, ob dem Österreicher direkt nach seinem Triumph bei den US Open auch der Coup in Paris gelingen wird.
Nadal und Thiem trainieren zusammen in Paris
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