Es riecht nach Wachablösung: Eine einmalige Ära neigt sich ihrem Ende zu

Von Jürgen Fritz, Di. 24. Nov 2020, Titelbild: ATP Tennis TV-Screenshot

Seit Mitte 2003 hat zunächst Federer, dann ab 2005 zusammen mit Nadal und ab 2007 zusammen mit Djokovic die Weltszene beherrscht, wie niemals Tennisspieler dies zuvor taten. Die Drei holten 57 der letzten 69 Grand Slam-Titel: Federer 20, Nadal 20, Djokovic 17. Von 2003 bis 2015 gewannen sie zusätzlich elf von 13 ATP Finals: Federer 6, Djokovic 5. Doch diese einzigartige Ära der absoluten Dominanz der Big Three geht zu Ende, das wird immer deutlicher.

Thiem und Medvedev schlagen bei den ATP Finals beide sowohl  Djokovic als auch Nadal

Den folgenden Satz müssen Sie zweimal lesen, so unglaublich klingt er und so unglaublich ist das Faktum, das in ihm zum Ausdruck kommt: Seit 2010 gab es keinen Spieler, der bei den ATP Finals der acht Saisonbesten sowohl Nadal als auch Djokovic besiegte. Der Letzte, dem dies gelang, war 2010 Roger Federer.

So wie Federer und Nadal die 2000er ab Mitte der Dekade dominierten, so dominierten Djokovic und Nadal die 2010er Jahre und zwar die gesamte Dekade, vom ersten bis zum letzten Jahr. Nun aber, im Jahr 2020, zehn Jahre später, hat sowohl Dominic Thiem als auch Daniil Medvedev Djokovic und Nadal beim wichtigsten Hallenturnier der Welt nacheinander geschlagen. Und die Art und Weise, wie sie das getan haben, zeigt, Thiem und Medvedev sind inzwischen mindestens auf Augenhöhe mit den zwei größten Spielern der letzten Dekade und mit den drei größten Spielern aller Zeiten. Folgende Zahlen verdeutlichen das.

Thiems Bilanz gegen die Big Three seit 2019 lautet 9 zu 3

Medvedev hat seit Sommer 2019 eine Matchbilanz von 2:1 gegen Djokovic und gewann im Halbfinale der ATP Finals 2020 im vierten Anlauf nun auch erstmals gegen Nadal. Noch krasser sieht es bei Thiem aus. Dessen Bilanz gegen die Big Three sieht in den letzten zwei Jahren (2019 und 2020) wie folgt aus:

  • Gegen Federer: 3 zu 0
  • gegen Nadal 3 zu 1 und
  • gegen Djokovic 3 zu 2

insgesamt also 9 zu 3. Das heißt, Thiem gewinnt inzwischen 75 Prozent seiner Matches gegen die drei größten Tennisspieler aller Zeiten, deren Ära in ihre letzte Phase geht. Und hier nun meine Prognose für 2021 und die folgenden Jahre.

Wir werden ab jetzt keine drei oder vier Grand Slam-Siege der Big-Three pro Jahr mehr sehen, sondern höchstens noch ein bis zwei

Von 2017 bis 2019 haben Nadal (5), Djokovic (4) und Federer (3) nochmals alle zwölf Grand Slam-Turniere für sich entscheiden können. 2020 waren es immerhin noch zwei von drei (Djokovic und Nadal je einmal). Mit Dominic Thiem gewann erstmals in der Geschichte ein Spieler, der nach 1988 geboren ist, ein A-Turnier, nämlich die US Open im September. Ich lege mich hiermit fest, wir werden 2021 und auch in den Jahren darauf keine vier und auch keine drei Grand Slam-Siege der Big Three mehr sehen, sondern maximal einen bis zwei. Weshalb?

Weil Thiem (27) und Medvedev (24) inzwischen mindestens auf Augenhöhe sind mit Djokovic (33) und Nadal (34). Wie stark Federer, der nächstes Jahr 40 wird, im Januar zurückkommt nach seiner elfmonatigen Verletzungspause, wird man sehen müssen. Gegen diese wuchtigen Auf- und Grundschläge dieser beiden, Thiem und Medvedev, kommen die Oldies aber kaum noch an. Mit ihrer Erfahrung, taktischen Klugheit und ihrer Klasse können sie zwar noch einiges ausgleichen, aber wir haben bei den ATP Finals gesehen, dass diese enorme Power irgendwann einfach über sie hinwegrollt. Diese machtvolle Super-Lok können sie nicht mehr dauerhaft und regelmäßig stoppen. Thiem und Medvedev sind beide reif für ihren ersten bzw. weitere Grand Slam-Titel und sie werden sich nicht mehr lange aufhalten lassen.

Für Djokovic, Nadal und vor allem Federer wird es immer schwerer werden

Hinzu kommen Spieler wie Alexander Zverev (23), Andrey Rublev (23) und Stefanos Tsitsipas (22), die noch nicht ganz auf Augenhöhe sind mit den Großen Drei, aber ganz nah dran. Entwickeln sie ihr Spiel weiter, könnte auch einer dieser drei noch jüngeren Spieler schon in 2021 seinen ersten Grand Slam-Sieg erringen. Das größte Jungtalent von allen nicht zu vergessen: der 19-jährige Jannik Sinner hat sich dieses Jahr bereits in die Top-20 der wahren Weltrangliste gespielt. Seine Entwicklung gilt es zu beobachten. Aber dass wir hier einen zukünftigen Grand Slam-Champion haben, da bin ich mir fast sicher. Die Frage ist hier wohl nur wann, nicht ob. Entwickelt er sich so weiter wie zuletzt, könnte er schon in zwei, drei Jahren ganz oben mitspielen.

Das heißt, es wird für Djokovic und Nadal, noch mehr für Federer immer schwerer, die Majors (A) zu gewinnen. Nicht unmöglich, aber deutlich schwerer, denn sie werden allmählich nachlassen, während Thiem (27) und die YoungGuns, die U25er, immer stärker werden.

Vielleicht sehen wir bereits 2021 eine neue Nr. 1

Bei den ATP Finals (B+), dem fünftwichtigsten Turnier der Welt, zeigte sich das bereits sehr deutlich, wie stark die Jüngeren und Jungen inzwischen sind. Djokovics letzter ATP Finals-Titel liegt nun fünf Jahre zurück, Federers letzter neun Jahre und Nadal schaffte letztmals vor sieben Jahren den Finaleinzug. Hier haben die mittlere und junge Generation das Zepter bereits übernommen. Die Grand Slam-Turniere (A) werden nun folgen. Daher: Die Big Three werden ab nun keine drei oder gar alle vier A-Titel pro Jahr mehr holen, sondern maximal noch ein bis zwei.

Außerdem wird interessant sein, ob wir schon im nächsten Jahr eine neue Nr. 1 sehen werden. Von 2004 bis 2020 waren 17 mal in Folge Federer (5), Nadal (5), Djokovic (6) und Murray (1), der wie Djokovic Jahrgang 1987 ist, am Jahresende ganz oben. Auch das könnte sich bereits 2021 ändern. Im Moment führt die ATP Djokovic noch auf 1 und Nadal auf 2. Nimmt man nur die Ergebnisse von 2020 (die wahre Weltrangliste), so ist Thiem bereits auf 2.

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Dominic Thiem im Endspiel der ATP Finals 2020, ATP Tennis TV-Screenshot

Nach Thiem ist nun ein zweiter Spieler auf dem Level der Big Three angekommen

Dass Dominic Thiem in der absoluten Weltspitze angekommen ist, war nach all seinen Siegen gegen die Big Three und dann seinem ersten A-Titel bei den US Open im September klar. Bei den ATP Finals hat sich nun aber gezeigt, dass es noch einen zweiten Spieler gibt, der endgültig auf dem Level von Djokovic und Nadal und damit in der absoluten Weltspitze angekommen ist. Daniil Medvedev legte in den elf Wochen von Ende Juli bis Mitte Oktober 2019 eine sagenhafte Serie hin, kam bei sechs Turnieren in Folge sechsmal ins Endspiel, insbesondere bei den US Open 2019. Er gewann drei dieser sechs Endspiele, unter anderem die zwei B-Turniere von Cincinnati und Shang Hai (Masters 1000-Events).

Doch dann kam eine Flaute von mehr als 52 Wochen. Medvedev erreichte bei keinem einzigen Turnier mehr das Finale, nicht mal bei einem D-Turnier (250er Serie). Erst Anfang November gelang ihm nach dieser langen Durststrecke endlich der nächste Turniersieg und das gleich beim B-Turnier in Paris-Bercy, wo er im Finale Alexander Zverev schlug. Damit meldete er sich zurück in den Top-Acht. Doch diesem Titel ließ er nun letzte Woche gleich den zweiten folgen und zwar den bisher wichtigsten seiner Karriere: die ATP Finals (B+).

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Daniil Medvedev im Endspiel der ATP Finals 2020, ATP Tennis TV-Screenshot

Medvedev schlägt in London nacheinander die Nr. 1, die Nr. 2 und die Nr. 3 der Welt

In London gewann der Russe von seinen fünf Matches alle fünf! Und jede Partie war gegen einen der acht besten Spieler der Welt. Ja mehr noch, Medvedev gelang etwas, was keinem Spieler bei den ATP Finals, die seit 50 Jahren, seit 1970 ausgetragen werden, jemals gelungen war: Er schlug nacheinander die Nr. 1 der Welt, die Nr. 2 und die Nr. 3.

Djokovic (1), der ohne jede Chance war, hat er im Gruppenspiel mit 6:3, 6:3 regelrecht deklassiert. Dann schlug der 24-Jährige im Halbfinale Nadal (2) und drehte dabei das Match nach Satzrückstand. Das war Rafa seit über 70 Begegnungen nicht mehr passiert, dass er nach gewonnenem ersten Satz das Match doch noch abgab. Und Nadal schlug bei 6:3, 5:4 aus seiner Sicht sogar zum Matchgewinn und Einzug ins Endspiel auf. In dieses zog aber Medvedev ein und schlug dort dann Dominic Thiem (3), drehte hierbei wiederum das Match nach Satzrückstand. Daniil Medvedev blieb beim Kräftemessen der acht besten Spieler der Welt als einziger im Turnier unbesiegt. Alle anderen verloren mindestens zwei Begegnungen. Welch beeindruckende Leistung!

Medvedev Rückhand im Flug (6)

Medvedev spielt seine beidhändige Rückhand im Sprung mit unfassbarer Wucht, ATP Finals-Screenshot

Nach dem Turnier sagte er übrigens, dass das Match gegen Thiem – nicht gegen Djokovic oder Nadal, sondern das gegen den Österreicher! – sein vielleicht schwierigster Sieg seiner gesamten Karriere war, weil Dominic so unglaublich gut spielt derzeit.

Thiem und Medvedev können nächstes Jahr auch Grand Slam-Turniere gewinnen

Dominic Thiem und Daniiel Medvedev, meines Erachtens die im Moment besten Hartplatzspieler der Welt, sind damit auch ganz heiße Titelaspiranten bei den Australian Open 2021, dem ersten Grand Slam-Turnier des Jahres, das hoffentlich im Januar reibungslos ausgetragen werden kann, aber auch bei den US Open im Spätsommer. Thiem ist zudem seit Jahren der zweibeste Sandplatzspieler der Welt, direkt nach Nadal. Er hat also auch in Roland Garros sehr gute Chancen, seinen ersten Grand Slam-Titel auf Sand zu holen. In seiner derzeitigen Form ist er auch auf Asche mit Nadal auf Augenhöhe.

Für Thiem wird es vor allem wichtig sein, das nächste Endspiel, das er bei einem Major erreicht, zu gewinnen. Denn Thiem stand nun viermal in einem Grand Slam-Finale und hat drei davon verloren, außerdem hat er beide Endspiele bei den ATP Finals verloren, die er erreichte, 2019 und jetzt 2020. Das heißt, von seinen sechs wichtigsten Endspielen hat er fünf verloren. Das ist heftig und darf sich im Kopf nicht festsetzen, dass es bei den ganz großen Begegnungen meist nicht ganz reicht. Die Spielstärke, die großen Turniere auch wirklich zu gewinnen, hat der Österreicher inzwischen allemal, wie seine sagenhafte 9:3-Bilanz in 2019, 2020 gegen die Big Three zeigt. Der Rest dürfte eher Kopfsache sein.

Die große Ära der absoluten Dominanz der Big-Three wird die nächsten ein, zwei, drei Jahre zu Ende gehen

Aber Medvedev und Thiem sind nicht die einzigen, die nun reif sind für die Major-Titel. Vor allem Alexander Zverevs Zeit könnte nun auch kommen, der ja wie Medvedev bereits die ATP Finals (B+) plus drei Masters 1000-Turniere (B) für sich entscheiden konnte. Der nächste Schritt ist jetzt ein Grand Slam-Titel (A) und im September stand er ja im Endspiel der US Open, war dort schon nah dran. Aber auch Andrey Rublev, der fünffache Turniersieger 2020, und Stefanos Tsitsipas, der ATP Finals-Sieger von 2019, könnte nächstes Jahr der ganz große Durchbruch gelingen, je nachdem wie sie ihr Spiel weiterzuentwickeln vermögen.

Daher also meine Prognose: Die Big Three, Federer, Nadal und Djokovic, können noch weitere Grand Slam-Turniere gewinnen, vor allem Nadal und ganz besonders Djokovic, aber diese Drei werden die Tennisszene ab 2021 nicht mehr so beherrschen, wie sie das eineinhalb bis zwei Dekaden getan haben. Die Ära ihrer völligen Dominanz neigt sich langsam, aber sicher dem Ende entgegen. Eine neue, sehr starke Generation ist nun endlich herangewachsen. Damit bleibt der Tennissport weiterhin spannend und hochklassig.

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