Von Jürgen Fritz, Di. 14. Dez 2021, Titelbild: YouTube-Screenshot aus Antigone (1965)
Zu den Mutigsten unserer Zeit gehören ohne Frage erstens die Chinesen in Hongkong und China, die es wagen, sich mit den chinesischen Kommunisten anzulegen, zweitens die jungen Frauen in islamischen Ländern, die es wagen, sich mit den muslimischen Mullahs und ihren Handlangern anzulegen, und drittens die alten weißen Männer, die …
Die stets wenigen Mutigen
… es in westlichen Gesellschaften wagen, sich mit jungen neomarxistischen Frauen und dem von ihnen heraufbeschworenen „Geist“ anzulegen – und freilich auch Frauen, die jenes wagen, wobei dies für alte weiße Männer am gefährlichsten ist.
Letzteren Mutigen droht freilich keine physische Vernichtung, auch kein langes Verschwinden in Gefängnissen. Ihnen droht auch keine brutale, selbstbestimmungsfeindliche, ihre Menschenwürde missachtende Folter, sondern „nur“ die soziale „Vernichtung“, die Ächtung, die völlige Ausgrenzung, bisweilen die Zerstörung der beruflichen Karriere und der wirtschaftlichen Existenz, weswegen das wohl meist nur Ältere wagen, bei denen die neosozialistische Indoktrination zu spät kam, die noch eigenständig kritisch denken und urteilen können. Die Herrschenden sind hier, indem sie auf die archaische, mittelalterliche und frühneuzeitliche brutale physische Gewalt verzichten, „zivilisierter“ freiheits- und menschenrechtsfeindlich, „zivilisierter“ autoritär und totalitär. Immerhin das ist von Aufklärung und Humanismus geblieben.
… und die immergleichen Vielen
Die breite Masse tut freilich das, was sie stets tut: Sie passt sich jeweils opportunistisch an. Selbst wenn keine physische Vernichtung und keine brutale Folter droht, will man ja doch keinen Ärger haben und einfach sein Leben leben. Und es bringt ja auch nichts, weil die Mehrheit zugleich weiß, wie die Mehrheit nun mal ist. Wer sich also nach vorne wagt, der weiß, wenn er einigermaßen klug ist, dass er weitgehend alleine bleiben und unterliegen wird. Er bringt also ein persönliches Opfer, welches noch nicht einmal gewürdigt, sondern sogar noch verhöhnt wird. In diesem Punkt ist er quasi noch schlechter dran als die freilich noch sehr viel mutigeren Chinesen und die noch sehr viel mutigeren jungen Frauen in islamischen Ländern, die einen noch viel höheren Preis zahlen.
Jean Anouilhs Antigone
Prolog
»Also gut. Diese Gestalten werden Ihnen jetzt die Geschichte von Antigone vorspielen. Antigone, das ist die kleine, dünne Frau, die da drüben sitzt und kein Wort sagt. Sie schaut starr vor sich hin. Sie überlegt. Sie überlegt, dass sie gleich Antigone sein wird, dass sie plötzlich aus dem mageren, nackten, verschlossenen Mädchen, das niemand in der Familie ernst genommen hat, auftauchen und sich allein gegen die Welt stellen wird, allein gegen Kreon, ihren Onkel, der König ist. Sie überlegt, dass sie sterben wird, dass sie noch jung ist und dass auch sie gerne gelebt hätte. Aber es gibt nichts, was sie tun kann. Ihr Name ist nun mal Antigone und sie muss ihre Rolle durchalten bis zum Ende … Und seit sich der Vorhang gehoben hat, spürt sie, wie beängstigend schnell sie sich von ihrer Schwester Ismene entfernt, die mit einem jungen Mann plaudert und lacht. Sie entfernt sich von uns allen, die wir heute Abend nicht zu sterben brauchen und ihr gelassen zusehen können.
Der junge Mann, mit dem sich die blonde, schöne, glückliche Ismene unterhält, ist Kreons Sohn Hämon. Er ist der Verlobte von Antigone. Eigentlich zog ihn alles zu Ismene: seine Vorliebe für Tanz und Spiel, sein Hang zu Glück und leichtem Erfolg, auch seine Sinnlichkeit, denn Ismene ist viel hübscher als Antigone. Aber dann ging er eines Abends auf einem Ball, bei dem er nur mit Ismene getanzt hatte – sie hatte bezaubernd ausgesehen in ihrem neuen Kleid -, zu Antigone, die in einer Ecke saß, wie in diesem Moment, ihre Arme um die Knie geschlungen, und bat sie, seine Frau zu werden. Niemand konnte je begreifen, warum er dies getan hatte. Antigone hob ohne Verwunderung ihre ernsten Augen zu ihm auf und sie sagte mit einem kleinen, traurigen Lächeln ‚Ja’… Die Musik spielte zu einem neuen Tanz auf, und Ismene, umgeben von anderen jungen Herren, lachte laut. Und jetzt soll er Antigones Ehemann werden. Er weißt ja nicht, dass es auf dieser Erde niemals einen Ehemann von Antigone geben kann und dass sein fürstlicher Stand ihm nur das Sterben erlaubt.
Der kräftige, weißhaarige Mann, der nachdenklich dort neben seinem Pagen sitzt, ist Kreon. Er ist der König. Er hat Falten und ist müde. Er versucht in dem schwierigen Spiel, die Menschen zu führen. Früher, zu Zeiten von Ödipus, als er nur der Erste am Hofe war, liebte er die Musik, schöne Bucheinbände, lange Spaziergänge zu den kleinen Antiquitätenläden in Theben. Doch Ödipus und seine Söhne starben. Er ließ seine Bücher und Gegenstände zurück, krempelte die Ärmel hoch und nahm ihren Platz ein. Manchmal, am Abend, wenn er müde ist, fragt er sich, ob es nicht sinnlos sei, die Menschen führen zu wollen. Ob es nicht ein schmutziges Geschäft sei, das man weniger empfindsamen Naturen überlassen sollte. Doch dann am nächsten Morgen erwarten ihn neue Aufgaben, die gelöst werden müssen, und er steht auf, ruhig, wie ein Arbeiter, der an seine Tagewerk geht.
Die alte Frau, die strickt, neben der Amme, die die beiden Mädchen großgezogen hat, ist Eurydike, die Frau von Kreon. Sie wird während der gesamten Tragödie stricken, bis sie an der Reihe ist, aufzustehen und zu sterben. Sie ist gut, würdevoll und liebevoll. Helfen aber kann sie ihm nicht. Kreon ist allein. Allein mit seinem kleinen Pagen, der zu klein ist und auch nichts für ihn tun kann.
Der blasse Junge dort drüben, der an die Wand gelehnt träumt, ist der Bote. Er ist es, der später kommen wird, den Tod von Hämon zu verkünden. Deshalb hat er keine Lust zu plaudern oder sich unter die Leute zu mischen. Er weiß bereits …
Schließlich sind dort die drei Männer mit ihren roten Gesichtern, ihre Mützen im Genick, die Karten spielen, das sind die Wachen. Sie sind keine schlechten Menschen, sie haben Frauen, Kinder und kleine Sorgen wie wir alle. Aber mit der größten Gelassenheit werden sie die Angeklagten gleich an die Kehle packen und festnehmen. Sie riechen nach Knoblauch, Rotwein und Leder und haben keinerlei Phantasie. Sie sind die stets unschuldigen und selbstzufriedenen Handlanger der Gerichtsbarkeit. Für den Moment dienen sie Kreon, bis ein neuer, ordnungsgemäß bevollmächtigter Herrscher von Theben ihnen befiehlt, ihn seinerseits zu verhaften …«
aus: Jean Anouilh (1910-1987), Antigone, geschrieben 1941/42, uraufgeführt 1944. Anouilh griff den antiken Stoff von Sophokles‘ Antigone aus dem Jahre 442 v.u.Z. auf und übertrug das Werk in die Moderne.
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