Von Jürgen Fritz, Do. 13. Jan 2022, Titelbild: BILD TD-Screenshot
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach meinte in seiner Bundestagsrede heute, sich nicht gegen COVID-19 impfen zu lassen, verstoße gegen Immanuel Kants kategorischen Imperativ (KI). Damit versuchte Lauterbach die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht moralisch zu rechtfertigen. Dies ist aber eine eindeutige Fehlinterpretation des KI und das gleich in mehrfacher Hinsicht.
Vorbemerkung
Eine Bemerkung vorab: Ich schätze die medizinische und epidemiologische Expertise von Herrn Prof. Dr. Karl Lauterbach sowie sein großes Talent, nicht ganz einfache Zusammenhänge aus seinem Fachgebiet auch für medizinische Laien sehr gut verständlich erklären zu können außerordentlich und bin auch gar nicht unglücklich damit, dass er nun das Bundesministerium für Gesundheit anführt. Außerdem bin ich sehr dankbar, dass er Kants Moralphilosophie mit in die Diskussion eingebracht und damit doch auf ein anderes Niveau gehoben hat, auch wenn er diese meines Erachtens nicht richtig interpretierte. Aber gerade an seinen Fehlinterpretationen, die durchaus klassisch sind, kann einiges verdeutlich und auch ein tiefer Konflikt in unserer Gesellschaft herausgearbeitet werden.
Was Lauterbach sagte
Ende der Vorbemerkung nun zu Karl Lauterbachs erster Bundestagsrede als neuer Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. In dieser sagte er wörtlich:
„Daher ist für mich der sicherste und schnellste Weg aus der Pandemie heraus die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht in Deutschland. Die Impfpflicht ist medizinisch geeignet. Die Frage ist: Ist sie moralisch zu vertreten? Aus meiner Sicht kann man es wie folgt bewerten:
Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs von Immanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein. Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst und andere vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.“
Ein formales ethisches Prinzip (eine Metaregel) ist etwas anderes als ein moralisches Gebot
Dies scheint mir eine eindeutige Fehlinterpretation der kantischen Moralphilosophie zu sein, die aber sehr aufschlussreich ist und an der gleich mehrere wichtige Dinge verdeutlicht werden können. Lauterbach unterlaufen hier nämlich gleich mehrere Interpretationsfehler auf einmal. So pauschal kann man das natürlich nicht konstatieren und eine Gruppe von Millionen Menschen, die ja sehr unterschiedliche Gründe haben, so undifferenziert moralisch zu bewerten.
Schon die Formulierung „das moralische Gebot des kategorischen Imperativs“ deutet darauf hin, dass Lauterbach der Unterschied zwischen einem moralischen Gebot, wie „Du sollst nicht morden“ oder „Du sollst nicht lügen“ und einem formalen ethischen Prinzip, der Unterschied zwischen einer moralischen Regel und einer ethischen Metaregel nicht so ganz klar ist.
Der moralische Wert einer Handlung liegt in der Maxime begründet, aus der heraus sie erfolgt
Dazu muss man verstehen, was genau der kategorische Imperativ besagt und was er darstellt. Dieser bezieht sich nämlich nicht auf eine bestimmte Handlung, z.B. „Lass dich gegen COVID-19 impfen“ oder „Werde Politiker“ oder „Du sollst nicht auf andere Menschen schießen“ oder „Du sollst nicht morden“, sondern er bezieht sich auf Handlungsmaximen. Die Moralität einer Handlung, ihr sittlicher Wert liegt in der Befolgung einer Maxime. Kant schreibt in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785:
„(…) eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht (dem Ziel, jf), welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens geschehen ist.“
Das angestrebte Ziel (telos) ist in Kants deontologischer Ethik gerade nicht das Ausschlaggebende, sondern die Handlungsmaxime
Kant schließt hier bei der moralischen Beurteilung einer Handlung explizit alle teleologischen Ethikansätze aus, die die Sittlichkeit einer Handlung ausschließlich am angestrebten Ziel (griech. telos) der Handlung, an der Absicht festmachen wollen. Lauterbach argumentiert aber gerade über das Ziel, die Pandemie beenden respektive überwinden zu wollen. Das ist vollkommen teleologisch und nicht kantianisch, nicht deontologisch gedacht.
Das Ziel, das mit den Impfungen gegen COVID-19 erreicht werden soll, ist die Reduktion der Infektionen, um dadurch insbesondere die Krankenhäuser und die Infrastruktur der Gesellschaft zu entlasten, auch um unnötige Gefährdungen der Gesundheit von Mitmenschen zu reduzieren. Das aber ist wie gesagt vollkommen teleologisch gedacht. Und genau so funktioniert der kategorische Imperativ, der sehr anspruchsvoll ist, nicht. Sein Bezugspunkt ist eben nicht die Absicht, nicht das Ziel der Handlung, sondern der Bezugspunkt ist die Maxime, die dieser Handlung zu Grunde liegt.
Die Maxime ist das, was den Charakter einer Handlung ausmacht
Nun ist dieser Begriff, der Lauterbach offenbar nicht klar ist, freilich erläuterungsbedürftig. Was ist eine Handlungsmaxime? Eine Maxime ist ein Grundsatz, nach dem sich der Wille bei der Wahl einer Handlung bestimmt. Eine Maxime ist ein ein „Prinzip des Wollens“, ein „Prinzip des Willens“, eine allgemeine Richtschnur oder Regel, welcher der Wille bei einer konkreten Entscheidung befolgt (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).
Um eine Handlung in ihrem wahren Charakter zu begreifen, darf man sich nicht auf ihren rein äußerlichen Vollzug, zum Beispiel sich gegen COVID-19 impfen oder eben nicht impfen lassen, beschränken, sondern man muss ihren tieferen Sinn erfassen. Es geht also darum, den Charakter der Handlung zu erfassen, und das geht nur über die ihr zu Grunde liegende Maxime, nach der die Handlung erfolgte.
Auf einen anderen Menschen schießen ist keine Maxime, sondern eine Handlung, entscheidend ist, warum auf ihn geschossen wird
Zu sagen, auf einen anderen Menschen zu schießen (konkrete Handlung), wäre unmoralisch, wäre demnach so nicht richtig. Der Charakter der Handlung liegt nicht in dem Schießen auf eine andere Person, sondern in der zugrundeliegenden Maxime. Wenn der Schuss deswegen erfolgt, weil ein Attentäter von einem Anschlag abgehalten werden soll, dann könnte die Maxime zum Beispiel sein:
„Wenn jemand einen terroristischen Anschlag oder sonst ein Verbrechen begeht, bei dem viele Menschen zu großem Schaden kommen und du keine andere Möglichkeit hast, diesen Anschlag zu vermeiden, als dem Attentäter einen großen Schaden zuzufügen, im Extremfall ihn zu töten, so er anders nicht gestoppt werden kann, so tue dies, stoppe den Attentäter, füge ihm den Schaden zu, der notwendig ist, um seinen Anschlag zu verhindern und damit Unschuldige zu retten.“
Auf einen andere Menschen schießen, oder mit dem Messer einstechen etc. ist also keine Maxime, das ist nicht der Charakter einer Handlung. Dieser bemisst sich an der Maxime, an dem Prinzip des Wollens, das der Handlung zu Grunde liegt. Dieses Prinzip kann bei der äußerlich gesehen gleichen Handlung – auf jemanden schießen – völlig unterschiedlich sein, einmal z.B. „alle aus der Welt schaffen, die eine andere Weltanschauung haben als ich“, ein anderes Mal „einen gefährlichen Attentäter mit Gewalt stoppen, damit dieser seine Weltanschauung nicht mit Gewalt durchsetzt und dabei unschuldige Menschen tötet“.
Eine Maxime wäre auch nicht, einen bestimmten Beruf erlernen zu wollen, sondern die freie Berufswahl
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel. „Ich will Politiker werden“ wäre keine Maxime. Daher wäre es absurd zu sagen, Politiker werden wollen, sei unmoralisch, da nicht gewollt werden kann, dass alle Menschen Politiker werden, weil dann ja niemand mehr da wäre, der Produkte erzeugt und Dienstleitungen erbringt sowie Steuern bezahlt, aus denen dann Beamte, Richter und Politiker bezahlt werden können.
Die Maxime wäre hier natürlich die freie Berufswahl. Und einen nicht illegalen Beruf zu wählen, ist natürlich nicht unmoralisch, auch wenn nicht gewollt werden kann, dass jeder genau diesen Beruf wählt, denn es muss ja verschieden Berufe geben. Es kann aber gewollt werden, dass alle Menschen freie Berufswahl haben und sich zumindest bemühen dürfen, je nach Eignung einen Beruf ihrer Präferenz auszuüben.
Der Charakter einer Handlung bemisst sich an der Handlungsregel, welche der Akteur befolgt
Der Charakter eine Handlung bemisst sich also nicht am Äußeren der Handlung, lässt sich nicht an den physischen Ereignissen ablesen (auf jemanden schießen, sich impfen oder nicht impfen lassen, einen bestimmten Beruf wählen), sondern der Charakter der Handlung ergibt sich aus der intentionalen Struktur die der Handlung zugrunde liegt, die durch sie verwirklicht wird.
Konkreter: der Charakter der Handlung bemisst sich an der Maxime, bemisst sich an der Handlungsregel, der man bei einem konkreten Akt folgt.
Der gute Wille macht eine Handlung zu einer guten solchen, und der gute Wille bemisst sich an der Maxime, die verallgemeinerbar sein muss
Entscheidend ist nach Kant allein der gute Wille, der sich aber nicht an einem Ziel (telos), nicht an einem intendierten Zustand der Welt in der Zukunft festmacht, sondern am allgemeinen Sittengesetz. So heißt es gleich im ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nach der Vorrede:
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“
Und dieses gute Wille bemisst sich, wie gesagt, nicht an einem bestimmten Ziel, in das die Welt überführt werden soll (sie zum Beispiel aus dem Griff der Pandemie befreien), sondern er ist wie folgt bestimmt:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Universalisierungsformel)
Der gute Wille ist es, der eine Handlung zu einer moralisch guten Handlung macht. Und der gute Wille ist derjenigen, der eine Handlung deswegen auswählt, weil die Maxime, aus der sie sich ergibt, verallgemeinerbar ist, weil gewollt werden kann, dass jeder sich immer diese Maxime zu eigen machen würde (Was, wenn das jeder täte?).
Wir fragen uns also, wenn wir moralisch handeln, automatisch: Was, wenn das jeder täte? Und dieses „das“ in dieser Frage bezieht sich nicht auf eine konkrete Handlung, zum Beispiel sich gegen COVID-19 impfen lassen oder einen bestimmten Beruf wählen oder auf jemanden schießen, sondern dieses „das“ bezieht sich auf eine Maxime des Handelns, auf einen Handlungsgrundsatz.
Eine Handlung, die sich aus der Anwendung einer nicht verallgemeinerbaren Maxime ergibt, ist moralisch nicht vertretbar
Wenn diese Maxime beispielsweise lauten würde: „Ich mache grundsätzlich nicht, was die Regierenden mir sagen, sondern mache dann aus Prinzip immer das Gegenteil“, dann wäre das sicherlich nicht verallgemeinerbar, nicht universalisierbar, damit unmoralisch. Ebenso wäre eine Maxime wie „Mir ist egal, ob das anderen und der Gesellschaft nutzt oder schadet, ich lasse mich grundsätzlich niemals impfen, wenn nicht hundertprozentig sichergestellt ist, dass es mir selbst nicht schaden kann“, kaum verallgemeinerbar, damit moralisch fragwürdig.
Die Maxime, warum sich jemand nicht gegen COVID-19 impfen lassen möchte, könnte aber auch lauten „Ich lasse mich ganz allgemein immer dann impfen, wenn die Faktenlage recht eindeutig ergibt, dass die Impfung a) mir selbst mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schadet, sondern nutzt, und b) anderen und der Gesellschaft als Ganzes mit hoher Wahrscheinlichkeit hilft, mit einer Epidemie oder Pandemie besser zurecht zu kommen“. Wenn das die Maxime einer Person ist, er bei der Einschätzung der Faktenlage aber zu dem Ergebnis kommt, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, dann wäre das sicherlich kein Verstoß gegen den kategorischen Imperativ und damit nicht unmoralisch im Sinne der kantianischen, deontologischen Ethik (von griechisch δέον = déon = „das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht“, daher auch Pflichtethik).
Entscheidungen, sich nicht impfen zu lassen, beruhen oftmals auf anderen Einschätzungen der Faktenlage und das hat nichts mit Moral zu tun
So wie Lauterbach kann man hier also nicht argumentieren. Die Entscheidung, sich nicht gegen COVID-19 impfen lassen zu wollen, kann nicht pauschal als Verstoß gegen den kategorischen Imperativ rubriziert werden und damit nicht pauschal als unmoralisch, denn sich gegen COVID-19 impfen lassen ist kein Handlungsgrundsatz, sondern eine Handlung.
Und diese Handlung kann bei einer durchaus moralischen Maxime auch deshalb anders als von Lauterbach erwünscht ausfallen, weil jemand zu einer anderen Einschätzung der Faktenlage kommt. Das mag ein Irrtum sein. Aber sich in Bezug auf die Faktenlage irren, ist nichts moralisch Verwerfliches. Man kann nicht sagen, jemand, der immer wieder zu völlig falschen Einschätzungen der Wirklichkeit gelangt, sei ein schlechter, ein böser Mensch. Vielleicht ist es ein Trottel, ein ideologisch völlig Verblendeter oder was auch immer, aber das ist etwas anderes als ein schlechter Mensch.
Eine unterschiedliche Beurteilung der Faktenlage hat ihren Bezugspunkt im Sein der Welt, in ihrer Faktizität, nicht im Sein-sollen. Das Sein der Welt kann unterschiedlich eingeschätzt werden, dann hat einer womöglich eine objektiv wahre Vorstellung über das Sein, hier die Wirksamkeit der Impfung und ihrer geringen unerwünschten Wirkungen, der andere hat eine falsche Vorstellung davon. Das hat aber nichts mit Moral und Ethik zu tun, sondern mit der Einschätzung der Faktenlage. Auch hier hält Lauterbach die Ebenen also nicht sauber auseinander.
Der Dissens zwischen Impfbefürwortern und -gegnern befindet sich oft schon auf der Ebene des Seins, nicht auf der Ebene des Sein-sollens
Wenn jemand, die Person P, meint, A wolle einen Anschlag durchführen und hunderte Menschen in die Luft sprengen, und er erschießt ihn, weil er dies verhindern will, dann stellt sich aber heraus, dass A gar keinen Anschlag durchführen wollte, so liegt der Fehler von P nicht im moralischen Bereich, sondern sein Fehler lag in der Einschätzung der Situation, in der Fehleinschätzung der Faktenlage, in der Fehleinschätzung des Seins der Welt, nicht des Sein-sollens.
Der Dissens zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern/-skeptikern befindet sich sehr oft schon auf dieser Ebene des Seins, nicht unbedingt immer auf der Ebene des Sein-sollens. Die Einschätzung des Seins, der Faktenlage hat mit Moralität und Ethik aber nichts zu tun. Insofern kann man niemand ein unmoralisches Handeln vorwerfen, wenn seine andere Einschätzung primär auf einer anderen Beurteilung der Fakten beruht.
Das mag im Einzelfall vollkommen töricht sein, manchmal sogar abstrus. Aber um die Moralität einer Handlung zu beurteilen, muss die Handlungsmaxime beleuchtet werden, nicht das Äußere der Handlung und nicht die Wahrheit oder Richtigkeit der Einschätzung des Seins. Denn entscheidend ist bei der moralischen Beurteilung einer Handlung niemals das äußere physische Geschehen, sondern es kommt immer auf die intentionale Struktur an, genauer: auf die zugrundeliegende Maxime, also den Handlungsgrundsatz, auf Grund dessen die Handlung erfolgte, wenn wir kantianisch-deontologisch an die Sache herangehen.
Das ist wahrscheinlich das Anspruchsvollste, was es gibt, aber wahrscheinlich auch das Beste. Unser Grundgesetz baut im Kern, insbesondere den Grund- und Menschenrechten, genau darauf auf und nicht auf teleologischen Ethikansätzen.
Lauterbach verwechselt auch den Bezugspunkt bei den Akteuren: Wenn B den A zu etwas zwingen will, so geht es um moralische Rechtfertigung von B
Lauterbachs Argumentation ist aber noch aus einem anderen Grund nicht überzeugend. Denn was will er denn begründen? Was will er moralisch rechtfertigen? Ja nicht nur, dass sich impfen lassen, etwas Gutes ist und sich nicht impfen lassen etwas moralisch Verwerfliches, sondern er will eine allgemeine Impfpflicht begründen.
Das heißt, sein Bezugspunkt ist wieder ein anderer und wir sehen zum dritten Mal, dass Lauterbach die Bezugspunkte durcheinander bringt. Wenn wir beleuchten wollen, ob die Person A moralisch legitim oder nicht legitim eine Impfung ablehnt, so müssen wir Maxime von A eruieren und untersuchen.
Wenn wir aber eine allgemeine Impfpflicht moralisch untersuchen wollen, so geht es ja um etwas völlig anderes, nämlich darum, ob andere, nämlich die Personen B, C, D usw., A dazu zwingen dürfen, dass er sich impfen lässt oder ihn zumindest bestrafen, wenn er es nicht tut. Es geht jetzt also gar nicht mehr um die Handlung von A, sondern um die von B, C und D. Das ist jetzt der Bezugspunkt bei der moralischen Rechtfertigung der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.
Selbst wenn gezeigt werden kann, dass im Einzelfall die Entscheidung gegen eine Impfung gegen COVID-19 unmoralisch ist – dies allgemein zu zeigen, dürfte, wie erläutert unmöglich sein, weil ja die Maximen, warum die Impfung abgelehnt wird, sehr unterschiedlich sein können und oftmals auch auf einer anderen Einschätzung der Faktenlage, des Seins der Welt, beruht – , aber selbst wenn gezeigt werden kann, dass im Einzelfall die Entscheidung gegen eine Impfung gegen COVID-19 unmoralisch ist, so kann ja daraus noch nicht geschlossen werden, dass B, C und D berechtigt sind, A zur Impfung zu zwingen oder ihn zu bestrafen, wenn er sich nicht impfen lässt.
Selbst wenn eine Entscheidung von A tatsächlich moralisch verwerflich wäre, berechtigt das B nicht, A mit Gewalt zu einer anderen Entscheidung zu zwingen
Menschen belügen einander oftmals und das oft auch in moralisch verwerflicher Weise, aber wir bestrafen sie dafür nicht jedes Mal. Auch das Vertrauen von Menschen wird oft furchtbar missbraucht, beispielsweise in Liebesbeziehungen oder Freundschaften, auch in der Familie oder unter Arbeitskollegen. Das ist aber noch kein ausreichender Grund, um jemanden gesetzlich zu bestrafen. Das ist noch keine moralische Rechtfertigung für eine Strafe.
Jemand, der von einem geplanten Anschlag weiß, oder der weiß, wo ein entführtes Kind sich befindet und nicht die Wahrheit sagt, handelt moralisch verwerflich. Gleichwohl ist das noch keine moralische Rechtfertigung, ihn mit Gewalt dazu zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Kurzum, wenn A etwas Unmoralisches tut, berechtigt das B, C und D nicht automatisch, ihm Gewalt anzutun oder ihn zu bestrafen. Da muss mehr an Rechtfertigung hinzu kommen.
Die Schlüsselfrage lautet: Bleibt das Gute das Gute, wenn es mit irgendeiner Form der Gewalt durchgesetzt wird?
Also selbst wenn man, wie Lauterbach fälschlich meint, pauschal sagen könnte, dass sich die Entscheidung gegen die COVID-19-Impfung moralisch verwerflich wäre – was man so pauschal unmöglich sagen kann, weil es auf die Maxime ankommt und die Entscheidung auf einer anderen Einschätzung der Faktizität der Welt beruhen kann und oft auch genau darauf beruht -, aber selbst wenn man das sagen könnte, ist das ja noch keine moralische Begründung, warum eine gesetzliche Pflicht zur Impfung gerechtfertigt wäre. Es gibt ja auch keine gesetzliche Pflicht zur Wahrhaftigkeit, obschon lügen – zumindest in den meisten Fällen – moralisch verwerflich ist.
Das Ganze läuft auf die moralische Schlüsselfrage hinaus: Bleibt das Gute das Gute, wenn es mit Gewalt, Zwang oder Strafen erzwungen wird, oder hört das Gute auf, das Gute zu sein, wenn es mit irgendeiner Form der Gewalt durchgesetzt wird respektive wenn man das versucht.
Wenn der Charakter einer Handlung darin besteht, einen anderen zu etwas zu zwingen, was dieser nicht will, so ist diese Maxime meist nicht verallgemeinerbar
Anhänger einer teleologischen Ethik, die meist leichter zu verstehen ist, neigen hier viel öfter dazu, diese Frage zu bejahen, weil sie ja ihr Ziel, ihr telos vor Augen haben, welches sie als absolut gut ausgezeichnet haben und welches sie unbedingt erreichen wollen, notfalls mit irgendeiner Form der Gewalt (körperliche Gewalt, Strafen, gesellschaftliche Ächtung etc.). Das ist aber vollkommen anti-kantianisch, anti-deontologisch gedacht.
Denn der Charakter einer Handlung bemisst sich hier nach der Maxime, die der Handlung zu Grunde liegt. Und der Charakter der Handlung ist hier, einen anderen durch irgendeine Form der Gewaltausübung zu etwas zwingen, was dieser nicht will. Das ist der Bezugspunkt bei der allgemeinen Impfpflicht. Der Bezugspunkt sind B, C und D, die A zwingen wollen, sich impfen zu lassen, obschon der das ablehnt und nicht will.
Wann sind wir moralisch gerechtfertigt, anderen irgendeine Form der Gewalt anzutun?
Bei der Begründung und moralischen Rechtfertigung der allgemeinen Impfpflicht geht es um B, C und D, nicht um A. Es geht um die Frage, wann sind wir moralisch gerechtfertigt, anderen irgendeine Form der Gewalt anzutun? Es gibt diese Fälle, natürlich. So bei der Notwehr, wenn die Person A die Person B rechtswidrig angreift und ihr schweren Schaden zufügen will, und A sich wehr. Auch bei der Nothilfe, wenn B die Person C rechtswidrig angreift und A ihr hilft.
Auch bei der Steuereintreibung wird staatliche Gewalt angewendet, da ein Staat sich kaum anders finanzieren kann als über Zwangsabgaben der Bürger. Wenn diese Abgaben in einem Rahmen bleiben, der moralisch zu rechtfertigen ist, dann ist dies in Ordnung. Auch wenn wir überführte Straftäter einsperren und ihrer Bewegungsfreiheit berauben. All das kann moralisch gerechtfertigt werden. Aber alleine der Verweis, dass A etwas moralisch Verwerfliches tut, berechtigt nicht automatisch zur Gewaltanwendung ihm gegenüber. Dazu bedarf es einer zusätzlichen Begründung und Rechtfertigung für den Einsatz der Gewalt.
Fehleinschätzungen der Faktenlage sind nichts moralisch Verwerfliches
Und die pauschale Rubrizierung der Entscheidung gegen eine Impfung als moralisch verwerflich, ist mit Sicherheit nicht haltbar. Denn diese Entscheidungen beruhen, wie erläutert, oftmals auf anderen Einschätzungen der Wirklichkeit und der Wirkzusammenhänge in dieser. Sie beruhen oft auf anderen Einschätzungen des Seins der Welt, höchstwahrscheinlich meist Fehleinschätzungen. Aber etwas falsch einzuschätzen, ist nicht per se etwas moralisch Verwerfliches. Das sind zwei völlig verschiedene Sphären (Sein und Sein-sollen).
Deontologisch-kantianisch argumentieren heißt, nicht primär über das angestrebte Ziel argumentieren, sondern über die Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime
Und wer über Kants kategorischen Imperativ – wahrscheinlich das Beste, aber auch Anspruchsvollste, was es im Bereich der Moralphilosophie, im Bereich der Ethik gibt – begründen will, warum etwas moralisch gut oder moralisch verwerflich ist, der darf dabei nicht teleologisch über Ziele argumentieren, die er anstrebt – hier die Überwindung der Pandemie -, sondern er muss die Maxime der Handlung, den Handlungsgrundsatz der Entscheidung beleuchten, ob diese aus Pflicht vor dem allgemeinen Sittengesetz resultiert:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
Jede Handlung, die dieser ethischen Metaregel entspricht, die aus dem guten Willen in dieser Hinsicht, nicht bezogen auf irgendeine ausgemaltes Ziel in der Zukunft (ein bestimmter Zustand der Welt, zum Beispiel die Überwindung der Pandemie), sondern bezogen auf diese Verallgemeinerbarkeit der Handlungsmaxime, entspringt, ist moralisch gerechtfertigt.
Kants kategorischer Imperativ besagt zugleich: Kein vernunftbegabtes Wesen darf jemals als bloßes Mittel zum Zweck benutzt werden
Und die Maxime, „Setzte immer dann Gewalt ein, um einen gewünschten Zustand der Welt herbeizuführen, wenn du sicher bist, dass dieser Zustand der Welt ein guter wäre und wenn du denkst, dass du dieses Ziel anders nicht erreichen kannst“, ist gerade nicht verallgemeinerbar, ist nicht universalisierbar, denn dann würde man andere Menschen, andere vernunftbegabte Wesen, andere Personen verdinglichen und damit ihre Würde verletzen, was ein Verstoß gegen Kants kategorischen Imperativ in seiner Selbstzweckformel darstellt:
„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ (Verdinglichungsverbot)
Und das gilt wiederum universal. Also dürfen andere auch nicht als Mittel zum eigenen Zweck, als bloßes Mittel zum eigenen Ziel, hier: der Überwindung der Pandemie, benutzt werden. Genau das ist mit Artikel 1, Absatz 1 Grundgesetz gemeint:
„Die Würde (Selbstbestimmung, jf) des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Schlusswort
Auch wenn der von mir als Mediziner und Epidemiologe sehr geschätzte Karl Lauterbach hier nach meiner Einschätzung mehrfach die Ebenen durcheinander brachte und den kategorischen Imperativ nicht richtig anwandte, bin ich sehr dankbar dafür, dass er diesen überhaupt ins Feld führte und damit die Diskussion auf ein anderes Niveau hebt, als es in der Politik und im Journalismus allgemein gepflegt wird. Denn das ist das Niveau, auf dem die Debatte eigentlich stattfinden sollte.
Literaturempfehlungen
Kants Moralphilosphie ist in Dietmar Hübners Einführung in die philosophische Ethik besonders gut herausgearbeitet. Aber auch die anderen Werke können alle empfohlen werden:
Abitur-Wissen Philosophische Ethik von Gebauer, Kres, Moisel, Stark Verlag 2017, 212 Seiten, EUR 14,95 ==> sehr gut für den ersten Einstieg geeignet
Annemarie Pieper: Einführung in die Ethik, 7. Aufl. 2017, UTB, 302 Seiten, EUR 19,99 ==> umfangreiche, klassische Einführung, erschien erstmals 1985 und wurde immer wieder aktualisiert
Dietmar Hübner, Einführung in die philosophische Ethik, Vandenhoeck & Ruprecht, 3. Aufl. 2021, 283 Seiten, EUR 21,00 ==> die beste Einführung auf Hochschulniveau, die ich kenne; Hübner ist ein brillant scharfsinniger Analytiker und Didaktiker, der auch exzellente Vorlesungen hält, die auf YouTube verfolgt werden können.
Michael Quante: Einführung in die Allgemeine Ethik, 6. Aufl. 2017, WBG, 191 Seiten, EUR 22,00 ==> sehr gute, aber anspruchsvolle Einführung mit einem Schwerpunkt auf der Metaethik
Dieter Birnbacher: Analytische Einführung in die Ethik, De Gruyter, 3. Aufl. 2013, 480 Seiten, EUR 24,95 ==> sehr umfangreiche und sehr gute, anspruchsvolle analytische Einführung
William K. Frankena: Ethik – Eine analytische Einführung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 6. Aufl. 2016, 124 Seiten, EUR 27,99 ==> ein absoluter moderner Klassiker der analytischen Philosophie zum Thema Ethik, inzwischen leider viel zu teuer für das kleine Büchlein (124 Seiten, ich kaufte das im Studium Mitte der 1990er noch für EUR 7,60)
Texte zur Ethik, Herausgegeben von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, dtv wissenschaft, 352 Seiten, leider nur noch gebraucht erhältlich ==> exzellente Textsammlung wichtiger Originaltexte, die von den beiden sehr bekannten Philosophen Birnbacher und Hoerster in jedem der 10 Kapitel jeweils sehr gut eingeleitet werden
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