Warum Doppelmoral etwas Verwerfliches ist, Claudia Roth

Von Jürgen Fritz, Mo. 21. Okt 2019, Titelbild: YouTube-Screenshot

Eine Handlung ist dann moralisch vertretbar, wenn ich als Handelnder wollen kann, dass meine Maxime verallgemeinerbar ist, wenn ich wollen kann, dass alle handlungsfähigen Subjekte genau diese Maxime haben und sich an sie halten (z.B. „Ich versuche nicht, andere Menschen zu ächten, weil sie bestimmte Worte benutzen, die ich selbst auch gebrauche“ oder: „Ich sage nicht wissentlich die Unwahrheit, um anderen zu schaden“). So lautet das Schlüsselkriterium deontologischer Ethikansätze (griechisch: δέον = deon = das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht) und dies entspricht recht genau unserer ethischen Intuition. Wer dagegen eine Doppelmoral pflegt, an manche Menschen andere Kriterien anlegt als an andere, insbesondere sich selbst, der, Frau Roth, verliert seine Integrität.

Moralische Pflichten und Verallgemeinerbarkeit als Schlüsselkriterium

Wenn ich beispielsweise einem anderen Wesen ein Versprechen gebe, dann ist es meine moralische Pflicht, dass ich mich zumindest bemühe, es einzuhalten. Wenn es nicht geht, weil ich krank werde, die Umstände sich völlig ändern, ich etwas übersehen habe etc., dann geht es nicht und man kann mir nicht unbedingt einen Vorwurf machen. Als moralisch sensibles Wesen werde ich das dann aber bedauern, dass ich mein Versprechen nicht einhalten konnte. Dies ist mir dann nicht gleichgültig, sondern es tut mir leid und belastet auch ein wenig, manchmal sogar sehr mein Gewissen. Vielleicht überlege ich auch, fortan vorsichtiger mit Versprechungen zu sein, weil ich andere nicht ständig enttäuschen möchte.

Wenn ich dagegen schon bei der Abgabe des Versprechens vorhabe, es nicht einzuhalten, dann ist das schändlich. Weshalb? Weil ich nicht wollen kann, dass alle ständig so agieren. Ich selbst könnte mich dann nämlich ebenfalls auf nichts mehr verlassen und alle anderen ebenso. In so einer Welt will kein Mensch, will kein vernunftbegabtes Wesen leben. Warum nicht? Weil dann keiner einem anderen noch vertrauen könnte. Keinem einzigen, niemandem! So kann niemand leben wollen, ergo ist die Maxime „Ich gebe Versprechen auch dann, wenn ich sie gar nicht einhalten will, wenn ich selbst oder jemand anders, den ich bevorzugen will, dadurch einen Vorteil hat“, nicht verallgemeinerbar, damit aus deontologischer Sicht nicht vertretbar.

Die moralische Verwerflichkeit der Doppelmoral

Handlungen, genauer: die ihnen zu Grunde liegenden Maximen, also allgemeine Handlungsregeln (z.B.: „Ich versuche, anderen gegenüber so ehrlich zu sein, wie nur möglich“ oder aber „Ich lüge, wo ich nur kann, wenn es mir oder meiner Gruppe, meiner Partei, meiner Weltanschauung Vorteile einbringt“) müssen mithin universalisierbar sein, damit wir von einer guten, einer moralisch legitimen Handlung sprechen können.

Das Kriterium der Universalisierbarkeit verbietet also eine Doppelmoral. Und auch das entspricht genau unserer ethischen Intuition. Wenn jemand für sich oder für eine bestimmte Gruppe, zum Beispiel seine Partei, seine Religions-, genauer: seine Weltanschauungsgruppe oder die Mafia, zu der er gehört, andere Maximen zu Grunde legt als für andere Personen oder Gruppen – alle, die nicht zu seiner Partei, seiner Weltanschauungsgruppe, seinem Mafia-Clan gehören -, oder aber an eine ganz bestimmte Gruppe, die ihm besonders unsympathisch ist, zum Beispiel Juden, Weiße, Männer oder die AfD, strengere Regeln anlegt oder bei ihnen gar alles verurteilt (Rassismus), dann spürt jeder ethisch sensible Mensch sofort, dass dies nicht in Ordnung, dass dies ungerecht, dass dies nicht fair, dass dies moralisch verwerflich ist.

Moralischer Universalismus und ethische Subjekte

Der moralische Universalist geht noch einen Schritt weiter und sagt: Dieses Kriterium der Universalisierbarkeit der Handlungsmaxime gilt wiederum für alle vernunftbegabten Wesen, für alle moralischen Subjekte gleichermaßen, unabhängig davon, ob man in einer bestimmten Weltanschauungsgruppe, in einem bestimmten Mafia-Clan mit egoistischer Gruppenmoral aufgewachsen ist oder woanders. Man kann auch den Mafiosi fragen: „Möchtest du wirklich in einer Welt leben, in der alle deine Maximen haben und danach leben? Oder sind deine Maximen letztlich nicht parasitär und erlauben dir dein ganzes Dasein, so wie du es jetzt führst, nur deshalb, weil andere deine Maximen nicht teilen?“

Ab einem bestimmten Alter und ab einem gewissen geistigen Horizont, ab einem gewissen Reifegrad versteht auch der im Mafia-Clan Aufgewachsene, der Christ, der Muslim oder die Sozialistin den Sinn dieser Frage und kann über sie nachdenken. Ab diesem Moment, wo er/sie über die vorgegebene oder selbst entwickelte, verinnerlichte Moral beginnt nachzudenken, beginnt, sie zu hinterfragen, ab diesem Moment, in dem seine/ihre reflektierende praktische Vernunft einsetzt und aktiv wird, wird er/sie zu einem nicht nur moralischen, sondern ethischen Subjekt.

Auf manche Fragen kann es nur eine richtige Antwort geben, wenn man ehrlich zu sich selbst ist

Und wenn er respektive sie ehrlich zu sich selbst ist, dann – so die Behauptung des moralischen Universalisten – kann es auf diese Frage – „Möchtest du wirklich in einer Welt leben, in der alle deine Maximen haben und danach leben?“ – nur eine ehrliche und richtige Antwort geben, Frau Roth.

Wer heute jemanden Nazi nennt, ist a) ein Lump, b) ein Verharmloser, c) eine intellektuelle Null

Nun wird immer wieder behauptet, „Altparteien“ sei ein Lieblingsbegriff von Joseph Goebbels gewesen. Insbesondere seit dem Aufstieg der AfD, die die sogenannten ‚etablierten Parteien‘ gerne so bezeichnet, steht der Ausdruck „Altpartei“ unter verschärftem Naziverdacht. Bisweilen muss sogar, wer einfach nur dieses Wort benutzt, damit rechnen, dass sein Gegenüber die Diskussion sofort abbricht und mit der ganz großen Nazikeule zu schwingen beginnt. Dabei trifft sicherlich in sehr vielen Fällen zu, was Michael Klonovsky einmal wie folgt formulierte:

„Wer heutzutage in einer politischen Debatte den Begriff ‚Nazi‘ gegen wen auch immer ins Feld führt, ist aus ethischer Sicht ein Lump, aus historischer Sicht ein Verharmloser, aus intellektueller Sicht eine Null.“

Aber betrachten wir die Verwendung des Ausdrucks „Altpartei“ etwas genauer. Siehe dazu auch den WELT-Artikel Die Legende vom Nazi-Begriff „Altpartei“

Der Ausdruck „Altparteien“ wurde von den Nationalsozialisten weder erfunden noch besonders häufig benutzt

Ein Beleg für das Wort findet sich laut WELT-Recherche bereits 1928. Dort wurde er aber nicht von den bösen Nazis verwendet, sondern ausgerechnet in einem geradezu legendär antifaschistischen Blatt, nämlich der Zeitschrift Die Weltbühne. Deren Herausgeber Carl von Ossietzky landete später im KZ. Dort findet sich der Ausdruck in einem Text von Kurt Hiller. Hiller war ein jüdischer Schriftsteller, der dem Expressionismus und Dadaismus nahe stand. „Er war Pazifist und Sozialist, entwarf eine Philosophie des Aktivismus, freundete sich mit Magnus Hirschfeld an und kämpfte für die Rechte sexueller Minderheiten.“ Ein größerer Gegensatz zur NSDAP war also kaum möglich!

Im Nationalsozialismus war das Wort dagegen eher weniger, wenn nicht gar nicht gebräuchlich. „Es wäre auch wenig sinnvoll gewesen, denn die meisten Parteien der seit 1919 existierenden Weimarer Republik (mit Ausnahme des Zentrums und der SPD) waren ja nicht oder nur unwesentlich älter als die 1920 gegründete NSDAP. In der Presse von 1933 bis 1945 lässt sich ‚Altparteien‘ im Plural nicht ein einziges Mal nachweisen.“ Und „der Propagandaminister Joseph Goebbels hat das Wort Altparteien in keiner seiner vom Historiker Helmut Heiber komplett editierten Reden benutzt.“

Erst mit dem Aufstieg der Grünen wird der Ausdruck populär

In den 1980er bezeichneten dann aber ausgerechnet Die Grünen alle anderen Parteien als „Altparteien“. In den 2010er Jahren nannten auch die Piraten die anderen so. Inzwischen verwenden AfD-Politiker und ihre Anhänger öfters diesen Ausdruck. Wirklich populär wurde das Wort also tatsächlich erst durch den Aufstieg der Grünen

Insbesondere die grüne Politikerin Petra Kelly benutzte es häufiger. Bei ihr ist zu lesen: „Wir wollen auch keine Einbindungsstrategien in das System, mit dem Ziel, zu Bündnissen und Koalitionen zu kommen. Das ist Wunschdenken der Altparteien…“

Seit 1982/1983 ist dann auch vermehrt in den Massenmedien wie dem Spiegel oder der Zeit die Rede von den „Altparteien“, immer um die Grünen von den damals etablierten Parteien CDU, CSU, SPD und FDP abzugrenzen.

Wer eine Doppelmoral pflegt, der verliert seine Integrität, Frau Roth

Halten wir also fest: Eine heute führende Grünen-Politikerin, einige behaupten sogar, sie sei Bundestagsvizepräsidentin, bezichtigt andere Politiker einer Partei, die gerade erst vor sechs Jahren gegründet wurde, also nachweislich eine junge solche ist, sie würden die anderen „Altparteien“ nennen und das wäre irgendwie „undemokratisch“, dieses Wort sei aus der „dunkelsten Geschichte“. Dabei wurde just dieser angeprangerte Ausdruck ausgerechnet von ihrer eigenen Partei besonders häufig verwendet, ja erst populär gemacht, als diese 1982/83 erstmals in den Bundestag einzog.

Auf ihrer Homepage schrieben Die Grünen über sich selbst: „Für die Altparteien sind Petra Kelly & Co. eine Zumutung und gleichzeitig eine Frischzellenkur“. Und die gleiche Dame, wie gesagt, angeblich eine Bundestagsvizepräsidentin, benutzte diesen Ausdruck noch vor sechs Jahren selbst, den sie jetzt – welch plötzlicher Sinneswandel! – bei anderen aufs Schärfste verurteilt.

Eine Handlung ist dann moralisch vertretbar, Frau Roth, wenn ich als Handelnder wollen kann, dass meine Maxime verallgemeinerbar ist, wenn ich wollen kann, dass alle handlungsfähigen Subjekte genau diese Maxime haben und sich an sie halten. Wer dagegen eine Doppelmoral pflegt, an manche Menschen andere Kriterien anlegt als an andere, insbesondere an sich selbst, der verliert seine Integrität.

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