Weisheit und Charakter (ethische Kompetenz) bedeuten: dreifache Unterwerfung

Von Jürgen Fritz, Mi. 29. Apr 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons

Worin besteht Weisheit und das, was man gemeinhin Charakter nennt oder wie Aristoteles es bezeichnete: ethische Tugenden neben den Verstandestugenden? Weisheit und Charakter (Moralität, Sittlichkeit) bestehen letztlich in nichts Geringerem als in einer dreifachen Unterwerfung. Unterwerfung nicht gegenüber der Gewalt, nicht gegenüber der Macht, nicht gegenüber der Unterdrückung, nein, Unterwerfung gegenüber drei anderen Instanzen.

Unterwerfung gegenüber Gewalt ist noch keine Weisheit und keine sittliche Tugend, höchstens ein Gebot der Klugheit

„Ein Weiser versteht es, die Menschen nach ihrer Menschlichkeit zu schätzen, ein Mittlerer schätzt sie nach ihren Taten und ein Untüchtiger schätzt sie nach ihren Geschenken.“ (Lü Buwei, auch Lü Bu We, ca. 300 v. Chr. – ca. 235 v. Chr., chinesischer Kaufmann, Politiker und Philosoph)

Was für eine Unterwerfung ist gemeint, von der oben die Rede ist? Wem oder was unterwirft sich der Weise und Edle? Kann Unterwerfung wirklich etwas Edles sein, von Weisheit und Charakter zeugen? Gemeint ist keine Unterwerfung gegenüber der Gewalt durch andere Personen, seien sie irdischer Natur ober aber behaupteter und imaginierter, selbst nicht tatsächlicher überirdischer Natur, so es eine solche gäbe. Nein, Unterwerfung unter Gewalt kann bestenfalls ein Gebot der Klugheit im engeren Sinne sein, um sich selbst zu schützen. Wenn man von mehreren Bewaffneten überfallen wird und sie sagen „Hände hoch“, wäre es unter Umständen töricht, sich dem nicht zu beugen, aber das ist noch keine Weisheit.

Gewalt ist niemals ein sachliches Argument, gleichwohl ist sie sicherlich manchmal notwendig gegen diejenigen, die für Argumente wenig zugänglich sind und nur auf Gewalt reagieren, die also wenig Weisheit besitzen und andere gefährden oder verletzen würden, so man ihnen keinen Einhalt gebietet, siehe dazu: Das Verhältnis von Vernunft und Gewalt.

Weisheit und Charakter bedeutet dreifache Unterwerfung

Weisheit und Charakter (ethische Tugend) aber beginnen erst dort, wo eine dreifache Unterwerfung geschieht und zwar aus einer tiefen inneren Einsicht heraus, indem also der vernünftige Seelenteil (der Logos) in uns die Herrschaft übernimmt über die beiden niedrigeren Seelenteile (Thymos und Eros):

  1. Unterwerfung gegenüber der Realität, die nicht geleugnet oder ausgeblendet wird,
  2. Unterwerfung gegenüber der objektiven Vernunft, die mit dem Logos in uns, unserem höchsten Seelenteil erfasst wird, und
  3. Unterwerfung gegenüber dem Gemeinwohl, mithin Transzendierung des Egoismus, der Ich-Zentriertheit, der Ich-Bezogenheit, der Ich-Sucht.

Wenn dies alles zusammenkommt, so kann man mit Platon von einer gerechten, einer harmonischen Seele sprechen oder um einen anderen Ausdruck zu benutzen: von innerer Schönheit. Je mehr Menschen solches in sich entwickeln, desto eher werden sie fähig sein, eine gerechte, eine menschliche Gesellschaft zu erschaffen im besten Sinne des Wortes, sprich eine humane Gesellschaft.

Unterwerfung unter das Gemeinwohl meint dabei nicht generelle, aber partielle Zurückstellung rein egoistischer Strebungen, so diese mit dem Wohl anderer massiv kollidieren und in einer objektiven Güterabwägung (Ich-Transzendierung) nicht haltbar sind, daher zurückzustellen sind, also keine Aufgabe des Ichs, sondern eine Einbettung desselben in ein größeres Ganzes, von dem es sehr wohl ein Teil ist, wie jeder andere auch. Gemeint ist also kein grenzenloser, sich selbst aufgebender, sich selbst verlierender oder gar sich verleugnender Altruismus, sondern Gemeinsinn, also die Einsicht, dass man selbst nur ein Teil des Ganzen ist, nicht weniger wichtig als andere Teile, aber auch nicht wichtiger.

Was heißt das praktisch?

Wie soll man zum Beispiel mit Problemen (Aufgaben oder Hindernissen, die nicht leicht zu lösen sind), umgehen, die sich einem in der Realität stellen, kleinen und größeren solchen? Weise ist es, immer zuerst die Wirklichkeit zu betrachten, so wie sie ist, ohne sie zu beschönigen und ohne alles schwarz zu mahlen, Probleme, so welche auftauchen, was diese eigentlich fast immer tun – Probleme lieben es geradezu, sich bemerkbar zu machen und wollen beachtet werden – mit möglichst viel Realitätssinn beurteilen und dann versuchen, sie zu lösen.

Und wenn dies mal nicht möglich ist, weil das Problem zu groß oder gar schlicht unlösbar ist, dann dies hinzunehmen, sich damit abfinden und sich darauf einstellen, so gut es geht – nicht fatalistisch, sondern realistisch und mit einem Schuss Gelassenheit. Sprich seinen Frieden mit der Wirklichkeit machen. Ansonsten aber sich bemühen, in der Wirklichkeit zu leben und diese zu gestalten, so gut es geht, und nicht vor ihr zu flüchten in Ideologien und Traumwelten – beziehungsweise wenn Letzteres zeitweise doch, was ja quasi wie ein Urlaub aus der Realität sein kann (Eintauchen in einen Roman, in die Poesie, die Musik, die Kunst, einen Film etc.), dann bei der Rückkehr in diese die Traumwelt nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.

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