Von Herwig Schafberg, So. 31. Mai 2020, Titelbild: YouTube-Screenshot
Auch an Pfingsten wird deutlich: Vielen ist ihre persönliche Freiheit wichtiger als soziale Verantwortung. Und noch ein zweites: Manche Menschen wollen nicht Ursachen für Geschehenes herausfinden, sondern Täter, denen sie die Schuld an diesem geben können. Ein uraltes, primitives Deutungsmuster. Dabei haben die Verschwörungsgläubigen längst einen neuen Sündenbock, ein neues Feindbild gefunden, dem sie die Schuld an der Corona-Pandemie zuweisen können. Verschwörungsgläubigen mangelt es vor allem an einem, wie Herwig Schafberg deutlich macht: an der Bereitschaft zum Verstehen von Zusammenhängen.
Vielen ist ihre persönliche Freiheit wichtiger als soziale Verantwortung
Wir haben Pfingsten und insofern den Tag, an dem – mit Bezug auf die Apostelgeschichte (2, 1-13) – der Heilige Geist in seiner Auswirkung auf den missionarischen Eifer der Jünger Jesu gefeiert werden sollte. An diesem Tag findet nicht bloß eines der höchsten Kirchenfeste statt, sondern es hat zu Pfingsten im Laufe der Jahrhunderte auch prächtige Volksfeste gegeben, die sich großer Beliebtheit erfreuten.
So nahmen etwa an dem Fest, das Kaiser Friedrich Barbarossa Pfingsten 1184 feiern ließ, 70.000 Menschen teil. Auf solchen Festen gab es nach alter Tradition „Pfingstgelage“ mit Ausschank von „Pfingstbier“, „Pfingsttänze“ sowie „Pfingstspiele“, zu denen im Mittelalter Ritterturniere und andere Wettkämpfe gehörten. An Pfingsten Schützenfeste zu veranstalten, ist ein Brauch, der an sich bis heute erhalten geblieben ist.
Mit Rücksicht auf die Gefahr einer weiteren Verbreitung des Corona-Virus dürfte es in diesem Jahr eigentlich keine Massenveranstaltungen geben. Die Gefahr wird freilich viele Menschen nicht vom Feiern in der Masse abhalten, weil sie kaum darüber nachdenken, welches Risiko sie dabei für sich selbst, aber auch für andere eingehen. Vielen ist anscheinend ihre persönliche Freiheit wichtiger als soziale Verantwortung – einerlei, ob es sie zum Feiern oder zum Demonstrieren in größeren Gruppen verleitet.
Menschen wollen nicht Ursachen für Geschehenes herausfinden, sondern Täter, denen sie die Schuld am Geschehenen geben können
Nicht bloß unter den Protestierern gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gibt es in wachsender Zahl Menschen, die an der Gefährlichkeit des Virus zweifeln oder das Virus gar für eine Erfindung „höherer Mächte“ halten, wie beispielsweise ein Mann aus dem muslimisch sozialisierten Milieu Berlins vor laufender Fernsehkamera hinter den Kulissen vermutete. Ich hatte den Eindruck, dass er dabei nicht an Allah dachte, sondern an Geheimorganisationen, die sich zur Manipulation der Menschen verschworen hätten und insofern Böses im Schilde führten.
Einerlei, ob es sich um Islamisten, Christianisten oder Atheisten handelt und ob sie an „höhere Mächte“ im Himmel oder auf Erden glauben, scheinen sich Anhänger von Verschwörungstheorien, genauer: Verschwörungsmythen einig zu sein in der Einschätzung, dass es im Weltgeschehen nicht mit rechten Dingen zuginge und man sich mit oder ohne göttlichen Beistand „dem Bösen“ entgegen stellen müsse.
Menschen wollen nicht Ursachen für Geschehenes herausfinden, sondern – frei nach Nietzsche – Täter, denen sie die Schuld am Geschehenen geben können.
In grauer Vorzeit vermuteten die Menschen noch völlig arglos das Wirken von Göttern, wenn die Erde bebte, wenn es blitzte und donnerte, wenn es stürmte oder wenn der Regen ausblieb und das Gras verdorrte. Doch mit der Arglosigkeit war es vorbei, als Priester manch einer Religion auf die verhängnisvolle Idee kamen, darin göttliches Wirken – mit oder ohne teuflische Verwicklung – als Strafe für menschliche Sünden auszugeben. Und mit den Sünden verbunden war die Schuld, mit der Deuter des „göttlichen“ Willens seit Urzeiten Gläubigen sowie Ungläubigen das Leben schwer machen.
Besonders beliebte Sündenböcke: Juden, Homosexuelle und Hexen
Nachdem es im 14. Jahrhundert über lange Zeit Ernterückgänge gegeben hatte und Mitte des Jahrhunderts auch noch eine Pestpandemie ausgebrochen war, gab man den Juden die Schuld am Ausbruch der Seuche; denn unter denen schien die Pest nicht so verheerend zu wirken. Dass die Juden besser geschützt waren als andere, weil sie auf Grund ihrer strengen Hygienevorschriften ihr Trinkwasser rein hielten, wusste man nicht und machte sich auch nicht die Mühe, es herauszufinden; denn man hatte ja die Juden, die angeblich im Bunde mit dem Teufel das Wasser in den Brunnen der Christen vergiftet hätten, und konnte „die Schuldigen“ tot schlagen.
Die Pandemie hatte zur Folge, dass die von Hungersnöten geschwächte Bevölkerung Europas um 30 bis 40 Prozent dezimiert wurde. Daraufhin wurde besonders im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation der Kampf gegen Schwangerschaftsverhütung im weitesten Sinne verstärkt – insofern auch gegen Homosexuelle, die man als „Sodomiter“ bezeichnete. Diese Bezeichnung war abgeleitet von der Stadt Sodom, die Gott – nach einer biblischen Legende – als Strafe für das „unzüchtige Treiben“ der Bewohner mit Feuer und Schwefel zerstört und damit ein Vorbild geschaffen hatte, nach dem Homosexuellen bis in die Neuzeit auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.
Dass die Anstrengungen zur sakralen Ausrichtung des Geschlechtsverkehrs auf Nachwuchs-Zeugung im späten Mittelalter intensiviert wurden, bekamen aber nicht bloß gleichgeschlechtlich liebende Männer zu spüren, sondern auch Frauen, die in Verdacht gerieten, Schwangerschaften zu verhüten oder sogar abzubrechen, und deswegen der Hexerei im Bunde mit dem Teufel bezichtigt wurden. Als ob das nicht schon übel genug wäre, gab man Ende des 16. sowie Anfang des 17. Jahrhunderts den so genannten „Hexen“ auch noch die Schuld an hoher Kindersterblichkeit und Hungersnöten . Dass diese ihre Ursache in klimatisch bedingten Missernten hätte und es auch einen Zusammenhang zwischen Hungersnot und Kindersterblichkeit geben könnte, wusste man nicht und brauchte es auch nicht herauszufinden; denn man hatte ja schon „Hexen“ als vermeintlich Schuldige und richtete sie hin.
Den Verschwörungsgläubigen mangelt es an der der Bereitschaft zum Verstehen von Zusammenhängen
Inzwischen ist das Wissen um die Ursachen von Missernten, Seuchen und ähnlichen Übeln größer geworden und relativ weit verbreitet, an vielen religiös Gläubigen jedoch spurlos vorbei gegangen.
„Hexen“ haben zwar für die Befriedigung der Schuldsucht von Glaubenseiferern nicht mehr so große Bedeutung wie früher, homosexuelle Männer müssen aber weiterhin als Sünder herhalten, wenn es um den Ausbruch von Kriegen, Erdbeben oder Seuchen geht. So war beispielsweise zu lesen, dass der türkische Präsident Erdogan eine Verbindung zwischen homosexueller Praxis und Verbreitung des Corona-Virus herbeiphantasierte. Und wenn es um Schuldige an dieser Pandemie geht, dürfen auch die Juden nicht fehlen: Nicht bloß aus der Sicht iranischer Mullahs, die immer schnell dabei sind, sondern auch anderer Verschwörungstheoretiker, genauer: Verschwörungsgläubiger, die noch nicht den Weg vom Glauben zum Wissen gefunden haben.
Um auf dem Weg gut voran zu kommen, braucht man die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Verstehen von Zusammenhängen. Daran mangelt es auch und besonders den Verschwörungsgläubigen.
Das neue Feindbild: Bill Gates
So wird beispielsweise Bill Gates von den neuen Verschwörungsgläubigen vorgewerfen, dass er die Entwicklung des Corona-Virus finanziert habe. Wahr ist, dass ein von der Gates-Stiftung finanziell unterstütztes Institut ein Patent mit dem Titel „Corona-Virus“ besitzt, bei dem es sich aber um einen Virus handelt, der nur Vögel, aber nicht Menschen befällt, und der genetisch erforscht werden soll. Aber wenn man erst einmal irrtümlich glaubt, dass Gates das Virus, das uns heute plagt, entwickeln ließ, dann ist es nicht mehr weit zu dem Irrglauben, dass er die Entwicklung eines Impfstoffs fördere, um die Menschheit durch Impfung zu „chippen“ und sie dadurch besser kontrollieren zu können.
Es würde mich nicht wundern, wenn Bill Gates auch noch für ein Jude gehalten würde; denn das würde gut zum Feindbild mancher Verschwörungsgläubiger passen. Dass er der zweitreichste Mann der Welt ist, macht ihn in der Hinsicht schon verdächtig. Man kann durchaus kritisieren, dass die Vermögensverhältnisse auf der Welt unangemessen und ungerecht sind. Aber solange die Verhältnisse so sind, bin ich froh, dass Gates einen großen Teil seines Vermögens in eine Stiftung eingebracht hat, zu deren Zielen Erforschung und Entwicklung von Medikamenten insbesondere für die Ärmsten dieser Welt gehört.
Es wurde schon vor Jahren geschätzt, dass er mit 200 Angestellten mehr bewirkt hätte als die WHO mit ihren rund 10.000 Mitarbeitern. Wenn er insofern zu den „höheren Mächten“ zählt, dann hoffe ich, dass er – mit oder ohne Einwirkung des heiligen Geistes – weiter mächtig auf das gesundheitliche Wohlergehen von Menschen hinwirkt und dazu beiträgt, einen Impfstoff zu entwickeln, der allen Bedürftigen zugute kommen kann. Daran ist der Wert seiner Stiftungsarbeit zu messen.
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Zum Autor: Herwig Schafberg ist Historiker, war im Laufe seines beruflichen Werdegangs sowohl in der Balkanforschung als auch im Archiv- und Museumswesen des Landes Berlin tätig. Seit dem Eintritt in den Ruhestand arbeitet er als freier Autor und ist besonders an historischen sowie politischen Themen interessiert. Zuletzt erschien von ihm sein Buch Weltreise auf den Spuren von Entdeckern, Einwanderern und Eroberern.
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