Von Jürgen Fritz, So. 05. Jul 2020, Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-S38324 / CC-BY-SA 3.0 / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)
1919 wurde die Weimarer Republik stolz als „demokratischste Demokratie der Welt“ bezeichnet, die Deutschen als das „freieste Volk der Erde“. Doch die Weimarer Verfassung war eine solche, ohne eine klare, feste Bindung an Wertvorstellungen und ohne Wehrhaftigkeit gegenüber den Gegnern der liberalen Demokratie, ohne Intoleranz zweiten Grades. Und so hatte sie kaum mehr als 13 Jahre Bestand. Aus diesem schweren Fehler hat die Bundesrepublik gelernt und hat bereits im Grundgesetz Schutzmechanismen eingebaut gegen die Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
I. Das Lernen aus der historischen Erfahrung
In der Weimarer Republik waren alle Entscheidungen dem Willen der Mehrheit unterworfen und die Grundrechte wurden auch dann nicht eingeschränkt, wenn jemand gegen diese selbst agitierte. Auch Adolf Hitler berief sich auf die in der Weimarer Verfassung festgehaltene Meinungsäußerungsfreiheit. Doch nachdem er am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, dauerte es keine 30 Tage, bis das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar beseitigt wurde. Obschon die NSDAP nur drei Mitglieder in der Regierung stellte (Hitler als Reichskanzler, Wilhelm Frick als Reichsinnenminister und Hermann Göring als Reichsminister ohne Geschäftsbereich) begannen die Nazis sofort mit dem Umbau der liberalen, parlamentarischen Weimarer Demokratie zum NS-Regime.
Bereits am 1. Februar, nur zwei Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, wurde der Reichstag aufgelöst. In den folgenden von nationalsozialistischem Terror gekennzeichneten Wochen schränkten die Machthaber sofort die politischen und demokratischen Rechte durch Notverordnungen des Präsidenten ein. Mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 verlor der Reichstag praktisch jegliche Entscheidungskompetenz. Unliebsame Parlamentarier wurden neben vielen anderen ohne Gerichtsverfahren in Konzentrationslagern eingesperrt und gefoltert.
Hitler und die zwei NSDAP-Minister waren zwar legal ins Amt gekommen, aber sowohl die Reichstagsbrandverordnung wie auch das Ermächtigungsgesetz widersprachen der Weimarer Verfassung, waren also nicht legal. Die Reichstagsbrandverordnung brach das Rückwirkungsverbot und das Ermächtigungsgesetz übertrug die legislative Gewalt auf die Exekutive, was Art. 76 der Weimarer Reichsverfassung widersprach. Doch wenn antiliberale Verfassungsfeinde erst einmal an den Schalthebeln der Macht sind, wird es meist schwer, sie nochmals zu stoppen, selbst wenn sie das bestehende Recht brechen, welches sie dann ja sukzessive nach Belieben ändern können.
II. Fehlende Fundierung im Naturrecht (Rechtspositivismus) als tiefere Ursache
Der tiefere Grund, dass die Weimarer Verfassung keine adäquaten Schutzmechanismen gegen die Feinde der liberalen Demokratie besaß, wird vielfach darin gesehen, dass es nur veränderbares, sogenanntes positives Recht gab (Rechtspositivismus). Eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Gerechtigkeit wird im Rechtspositivismus abgestritten. Positives Recht ist das „vom Menschen gesetzte Recht“. Anschaulich erklärt ist positives Recht das Recht, das vom Menschen erschaffen wird, während Naturrecht vom Menschen bloß entdeckt wird. Der Rechtspositivismus kennt ein solches Naturrecht nicht, also ist alles rechtens, was vom jeweiligen Gesetzgeber, sei es in der Demokratie die Mehrheit oder sei es in der Monarchie der König oder in der Diktatur der Diktator, im Kommunismus die kommunistische Partei etc., als Recht gesetzt wird.
Im Gegensatz dazu gehen die Anhänger des Naturrechts davon aus, dass das geltende Recht überpositiven Maßstäben untergeordnet ist. Diese überpositiven Maßstäbe können sein: a) göttliches Recht, b) die Natur als solche, c) die Natur des Menschen oder d) die Vernunft.
Die Wurzeln der Naturrechtslehre reichen weit zurück bis in die griechische Antike. Bereits im sechsten vorchristlichen Jahrhundert entwickelten Ionier, die in Milet und den Hafenstädten am Westrand Kleinasiens lebten, die ionische Naturphilosophie. Diese verstand Natur (physis) als ursprünglich und von absoluter, ewiger innerer Gesetzmäßigkeit. Die Ionier stellten die Natur dem menschlichen Gesetz gegenüber, dessen Gültigkeit nur auf Konventionen beruhe.
Auch die Sophisten beriefen sich im 5. Jahrhundert v. Chr. auf die Natur des Menschen. Sie forderten Veränderung und wandten sich gegen eine Ordnung von Herrschaft und Sklaverei, kritisierten den Staat und seine Gesetze, da sie der Natur des Menschen widersprächen. Von Protagoras von Abdera (ca. 490 v. Chr. – 411 v. Chr.) stammt der bekannte Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Zugleich wandten sich die Sophisten gegen eine absolute Wahrheit. Diese könne es nicht geben, meinten diese frühen Relativisten, auch keine objektive Wahrheit, sondern nur eine subjektive. Protagoras stellte sich auf den Standpunkt, dass er von den Göttern nichts wisse und niemand deren Existenz beweisen könne.
Damit wollten die Sophisten aufzeigen, dass zum Beispiel die Sklaverei nicht aus einem göttlichen Recht abgeleitet werden könnte, mithin der Mensch selbst das Maß aller Dinge sein müsse, übersahen dabei aber, dass dann zum Beispiel die Sklaverei ja auch nicht absolut oder objektiv verwerflich sein könne, wenn alles relativ oder gar subjektiv sei. Ohne eine objektive Wahrheit kann ja nichts objektiv verwerflich sein, auch keine Sklavenhaltung, kein Massaker an anderen Menschen, kein Völkermord und kein Holocaust. All das wäre dann ja auch nur relativ in Bezug auf eine bestimmte Position unmoralisch und eine tiefe Ungerechtigkeit, aus einer anderen Position dann aber womöglich durchaus richtig.
III. Naturrecht – Menschenrechte – Vernunftrecht
Dem Relativismus und Subjektivismus der Sophisten widersprach bereits Sokrates (ca. 469 – 399 v. Chr.) entschieden, dann Platon (ca. 427 – 347 v. Chr.) und Aristoteles (384 – 322 v. Chr.). Deren Gegenargumentation baute ebenfalls auf der Natur des Menschen auf.
Aus der Idee einer objektiven oder absoluten Wahrheit stammt auch die Vorstellung, jeder Mensch sei „von Natur aus“ (also nicht durch Konvention) mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet – unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Staatszugehörigkeit oder der Zeit und der Staatsform, in der er lebt. Natur wird dabei als Merkmal des Wesens des Menschen verstanden, nicht etwa als „Rechte der Natur“ gegen den Menschen. Insofern ist die Naturrechtsidee eng mit der Idee der Menschenrechte verbunden. Die Naturrechte werden demnach als vor- und überstaatliche „ewige“ Rechte angesehen.
Auch der Dichter Sophokles thematisierte in seiner Tragödie Antigone das Verhältnis von durch Menschen erlassenen staatlichen Gesetzen, die auch Unrecht sein können, und göttlichen Gesetzen: Gegen das Gesetz des Herrschers, alle Staatsfeinde bei Todesstrafe unbestattet den Vögeln zum Fraß zu überlassen, begräbt Antigone ihren Bruder, der beim Angriff auf Theben gefallen war, um die Gebote der Götter der Unterwelt zu erfüllen.
Die nach Platon und Aristoteles einsetzende stoische Philosophie sah den Begriff der Natur in einer Einheit mit dem ewigen Weltgesetz (lex aeterna), das zugleich auch lex naturalis sei, das Gesetz der Natur. Hier haben wir also ebenfalls keine Relativierung und Subjektivierung, sondern etwas Objektives und Absolutes, ja Ewiges, was natürlich nicht heißt, dass dieses auch immer erkannt wird, aber es ist da. An diesem objektiven logos, der Vernunft des Weltgesetzes, habe der Mensch, das Subjekt, über seine eigene Natur teil, und auf dieser vernünftigen Natur des Menschen beruhe das Naturrecht. Stabilität gibt diesem Gedanken, dass der Ausgangspunkt gemäß der aristotelischen Tradition die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur ist. Diese stoische Sicht liegt auch dem römischen Staats- und Rechtsdenken zu Grunde, denn die Stoa hatte erheblichen Einfluss auf das republikanische und besonders das klassische Recht der Kaiserzeit.
Das neuzeitliche und moderne Naturrecht wurde dann im 17. Jahrhundert maßgeblich von den Aufklärungsphilosophen Thomas Hobbes (1588 – 1679) und John Locke (1632 – 1704) sowie im 18. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) beeinflusst. Die katholische Kirche hält bis ins 21. Jahrhundert am Begriff Naturrecht fest, bindet das aber natürlich nach wie vor an das göttliche Recht (ius divinum). Die säkularen rechtsphilosophischen Ausprägungen des Naturrechts, die nicht aus religiösen Grundwerten hergeleitet sind, sondern von der Erkennbarkeit durch menschliche Vernunft, werden auch als Vernunftrecht bezeichnet.
IV. Die Wertebindung des Grundgesetzes
Das deutsche Grundgesetz nimmt in seinen Artikeln 1 und 79 zumindest indirekt Bezug auf das Naturrecht. Artikel 1 GG lautet:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“
Die Menschenwürde und die sonstigen Menschenrechte werden hier klar als „unantastbar“ als „unverletzlich“ und „unveräußerlich“ gekennzeichnet. Damit soll klar gestellt werden, dass sie nicht dem Zugriff des positiven, von Menschen gesetzten Recht unterliegen. Grundsätzlich gilt zwar, dass das Grundgesetz mit zwei Dritteln der Stimmen in Bundestag und Bundesrat geändert werden kann. Aber es gilt die sogenannte Ewigkeitsklausel, die in Artikel 79 Absatz 3 GG festgeschrieben ist:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“
Damit werden die Grund- und Menschenrechte dem Zugriff des Gesetzgebers für alle Zeiten entzogen, da diese Rechte sich aus der menschlichen Natur selbst ergeben, somit von niemandem abgesprochen werden können. Es wird also mit dem Mittel des positiven Rechts versucht, den Gefahren, die aus der Geltung positiven Rechts erwachsen können, entgegenzuwirken, indem bestimmte Dinge, nämlich insbesondere die Menschenrechte, der Verfügungsgewalt des Gesetzgebers und auch der Verfügungsgewalt der Mehrheit des Volkes entzogen werden.
Der gleiche Gedanke steckt auch schon in der Formulierung von der „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde. Damit ist gemeint, dass die Menschenwürde vor jedem positiven Recht schon da ist und somit weder verliehen noch weggenommen werden kann, aber natürlich mit Füßen getreten und daher mit aller staatlicher Gewalt zu schützen ist. Menschenwürde wird hierbei insbesondere verstanden als die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, als innere, unvergängliche Eigenschaft des Menschen, die gerade seine Natur als potentielles Vernunftwesen ausmacht, die ihm also eigentümlich ist und sein Mensch-sein gerade essentiell mit ausmacht.
V. Ausblick
Im nächsten Teil Radikalismus – Extremismus – Terrorismus – Islamismus wird es darum gehen, wie unser Staat sich insbesondere über den Verfassungsschutz vor solchen feindlichen legalen oder illegalen Übernahmen schützen kann, wie wir sie 1933 erlebt haben.
*
Aktive Unterstützung: Jürgen Fritz Blog (JFB) ist vollkommen unabhängig und kostenfrei (keine Bezahlschranke). Es kostet allerdings Geld, Zeit und viel Arbeit, Artikel auf diesem Niveau regelmäßig und dauerhaft anbieten zu können. Wenn Sie meine Arbeit entsprechend würdigen wollen, so können Sie dies tun per klassischer Überweisung auf:
Jürgen Fritz, IBAN: DE44 5001 0060 0170 9226 04, BIC: PBNKDEFF, Verwendungszweck: JFB. Oder über PayPal – 3 EUR – 5 EUR – 10 EUR – 20 EUR – 50 EUR – 100 EUR