Von Jürgen Fritz, 16. Jul 2018, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons
„Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben“ notierte Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) in seiner umfangreichsten Gedichtsammlung West-östlicher Divan, erschienen 1819. Aber betrachtet sich der moderne westliche Mensch überhaupt noch als Zwischenglied einer Kette? Hat er noch eine Verbindung zum Gestern, zum Morgen und zum Übermorgen? Oder lebt er nur noch im Jetzt und das ohne jede räumliche Begrenzung?
Vorbemerkung
Die Zeit trennt inzwischen mehr als der Raum, weil es den Raum nicht mehr gibt, schrieb Michael Klonovsky vor kurzem. Der moderne westliche Mensch betrachte sich nicht mehr als Zwischenglied einer Kette. Die Verbindung zum Gestern sei abgerissen und ob er je eine zum Morgen herstellen werde, sei fraglich. Der moderne westliche Mensch denke seine Enkel nicht nur nicht mehr mit, er glaubt oftmals gar nicht mehr an an die Existenz von Enkeln.
Dass sich die Angehörigen eines Volkes oder eines Kulturkreises stärker von ihren Vorfahren getrennt fühlen als von anderen zeitgenössischen Völkern und Kulturkreisen, sei welthistorisch beispiellos. Die Zeit trenne mehr als der Raum, weil es den Raum nicht mehr gebe. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel und die Ideologie der Globalisierung haben ihn aufgehoben, so Klonovsky.
Peter Sloterdijk, der zentrale Denker Deutschlands, wie manche ihn nennen, macht dagegen deutlich: Autoren, die erst zweitausend Jahre tot sind, sind nicht überholt, sondern Zeitgenossen, von deren Denken sich befruchten lassen zu dürfen, ein Privileg ist. Versuchen wir also dem Mainstream der Geschichtsvergessenheit, dem Mainstream der Zeitvergessenheit, dem Mainstream der Vergessenheit des Woher-komme-ich und Wer-bin-ich entgegen zu schwimmen, um so vielleicht neue Horizonte zu öffnen, die eigentlich alte sind, und um so den Blick auf das Jetzt zu ändern, dieses gleichsam in einen größeren, einen großen Kontext zu setzen und es aus diesem Blickwinkel zu sehen, in der Hoffnung hierdurch Dinge tiefer zu verstehen, als uns dies bislang möglich war.
Aufklärer und Gegenaufklärer
Europa ist der Kontinent des Geistes, der Kontinent der Aufklärung, der Kontinent der Wahrheitsliebe, der Kontinent der Erforschung der Welt. Die erste Aufklärungswelle in der Menschheitsgeschichte (der Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen, Wahrheitsliebe) sehen wir vor zweieinhalb Jahrtausenden in Griechenland, wo sie in Thales, Anaximander, Heraklit, Pythagoras, den Sophisten usw., vor allem aber Sokrates (Begründer der Ethik), Platon (prägte das Abendland wohl mehr als jeder andere) und Aristoteles (Begründer der Logik, der Biologie, der Physik, der Poetik, der Staatslehre …) ihren Höhepunkt findet, der über zweitausend Jahre nirgends mehr erreicht wird. Die zweite Aufklärungswelle sehen wir dann im Europa des 17. und vor allem des 18. Jahrhunderts.
Doch im modernen Europa arbeiten die Gegenaufklärer (Romantiker, Spinner und Machtversessene) schon seit dem 19. Jahrhundert gegen die Aufklärung, das heißt, gegen die Wahrheitsliebe an. Der christliche, sozialistische russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski und der jüdische, französisch-litauische Philosoph Levinas, die eine völlige Entgrenzung von Verantwortung und grenzenlose Liebe (Dostojewski) propagieren sind nur extreme Beispiele und Wegbereiter einer allgemeinen Entwicklung. Sie stellen die Moral, genauer: eine sehr fragwürdige, aus ethischer Sicht wenig durchdachte, ungenügend reflektierte und kaum haltbare Moral über die Wahrheit und zerstören jede individuelle Verantwortung des Menschen für sein Handeln, indem sie aus dem jüdisch-christlichen Geist heraus erklären: alle sind schuldig und jeder ist für die ganze Welt verantwortlich, was in eine völlige Entgrenzung und in eine Loslösung der Verantwortung für das eigene Handeln führt.
Der Krieg gegen den Hellenismus
Der eigentliche Kampf, der tobt und der das ganze 21. Jahrhundert prägen wird, ist von kaum jemandem verstanden. Es ist der Krieg des jüdisch-christlich-muslimischen „Denkens“ beziehungsweise der Einzäunung, wenn nicht der Verachtung des Denkens, der Verachtung der Vernunft, der Verachtung der Wahrheit und der Liebe zu ihr, zumindest aber ihrer Kontrolle, letztlich einer Loslösung von der Realität, ein Krieg gegen den Hellenismus (Denken, Wahrheitsliebe, Aufklärung), gegen die Wirklichkeit selbst, weil eine sehr fragwürdige, eine sehr einseitige jüdisch-christlich Moral, die sich mehr und mehr zu einer Hypermoral entwickelt, welche den Bezug zur Realität verliert, über die Wirklichkeit gestellt wird, philosophisch gesprochen: weil die Moral (das Sollen) über die Ontologie (das Sein) gestellt wird, noch genauer: weil die Moral sich vom Sein abkoppelt und damit die Bodenhaftung verliert.
In der europäischen Antike ist der Hellenismus dominierend, auch im römischen Imperium, was nicht heißt, dass es keine Religion gäbe, ja sogar Götter. Aber die Religion dominiert nicht die gesamte Gesellschaft. Sowohl der Einzelne wie die Polis haben ihre Freiräume von Religion. Niemand wird in seinem Privatleben gezwungen, an religiöse Dogmen zu glauben oder nach religiösen Regeln zu leben. Jeder kann frei entscheiden, ob er an ein Jenseits glaubt und wenn ja, wie er sich das vorstellt. Und aus der Politik, also den Entscheidungen, die das Gemeinwohl anbelangen, haben die Götter, genauer: die Berufung auf diese sich rauszuhalten.
Europa ist stark, allen anderen überlegen. Dann verbindet sich im 4. Jahrhundert Rom mit dem Christentum, Stichwort: konstantinische Wende. Das Imperium, das ohnehin schon im Niedergang begriffen ist, geht im Westen im 5. Jahrhundert völlig unter, unterliegt den Anstürmen der Germanen, die weitgehend unzivilisert sind, so gut wie keine Wissenschaften besitzen.
Der Geist emigriert von Europa in die persisch-arabische Welt
Jetzt ist Europa ca. tausend Jahre völlig vom Christentum, von der Religion beherrscht. Aristoteles ist über viele, viele Jahrhunderte völlig vergessen, hält aber Einzug in die arabische Welt, die jetzt auch einen kulturellen Aufschwung nimmt und Europa weit überlegen ist, weil sie den Hellenismus, weil sie die Liebe zur Wahrheit, zur wissenschaftlichen Forschung und den Realitätsbezug zumindest unter ihren Gebildeten übernimmt. Arabische Philosophie, Mathematik und vor allem die Medizin, die die griechischen Erkenntnisse aufgenommen und sogar weiterentwickelt hat im Geiste Aristoteles‘, ist nun weltweit führend.
Jedoch sehen sich die arabischen und persischen Gelehrten bald schon der Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt, weil ihre Forschungen der islamischen Lehre widersprechen. Manche werden regelrecht zu „Ketzern“ erklärt, so zum Beispiel Rhazes (865-925), der erste Denker im islamischen Kulturkreis, der ohne Einschränkung für die Autonomie der Philosophie eintritt. Dieser Angriff auf die Basis des wissenschaftlichen Denkens bleibt nicht ohne Folgen. Schließlich kommt die geistig-philosophisch-wissenschaftliche Entwicklung dort fast ganz zum Erliegen, je rigider der Islam, je mächtiger die Religion wird. Streng genommen ist es auch weniger islamische Wissenschaft und Philosophie, wie bisweilen behauptet, sondern arabische und persische.
Der Geist kehrt zurück in seine Heimat
Über die arabische Welt kommen Aristoteles und der Hellenismus nun im späten Mittelalter (ca. 1250 bis 1500) zurück nach Europa, in die Heimat. Es beginnen die Renaissance, der Humanismus, die Liebe zum und die Aufwertung des Menschen. Dieser wird nun nicht mehr primär als Sünder und von Natur aus verdorben angesehen, ein von religiösen Führern und Offizieren gerne suggeriertes Menschenbild, welches den politischen Machthabern dieser Welt stets gelegen ist, weil es die Untertanen leichter klein zu halten erlaubt. Daher auch die immer wieder zu sehenden Bündnisse aus Klerus und weltlicher Macht, die im Extremfall zusammen fällt und dann die absolute Kontrolle über die Unterstellten ausüben kann.
Wenig später beginnt aus diesem anderen, diesem von Renaissance (Wiedergeburt der griechisch-römischen Antike) und Humanismus geprägten Menschen- und Weltbild heraus die Entwicklung der modernen Wissenschaften: Kopernikus, Descartes, Galilei, der sich sehr intensiv mit der Physik des Aristoteles beschäftigt und diese entscheidend revolutioniert. Ab jetzt tritt Europa über Jahrhunderte einen einzigartigen Siegeszug um die ganze Welt an, das Christentum weicht vor den Wissenschaften immer weiter zurück. Am Anfang war Aristoteles, am Anfang war das wissenschaftlich-philosophische Denken.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert überholt Deutschland deswegen alle (!) anderen, weil es Deutschland ist, welches den Hellenismus mehr aufnimmt als jedes andere Land, auch dank der preußischen Bildungsreform im frühen 19. Jahrhundert Die gebildeten Deutschen des 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert sind regelrecht griechenlandversessen. Altgriechisch wird Unterrichtsfach in humanistischen Gymnasien. Überall lesen deutsche Gymnasiasten Platon, kennen Sokrates.
Seltsame neue Bündnisse entstehen, die eines zusammenhält: ein gemeinsamer Feind, die Ratio
Doch der Rückzug des Christentums vor den Wissenschaften und der Philosophie löst gleichsam tiefe Rachegelüste aus. Und nun scheint die Stunde der Rache mit den neuen Invasoren gekommen. Jetzt endlich kann das Christentum zurückschlagen.
Was wir bereits seit Jahrzehnten erleben, ist der Krieg gegen den Hellenismus. Und hier verbünden sich a) Neue Linke, welche sogar den historischen Bezug zu ihrer eigenen linken Tradition völlig verloren haben, b) christliche Offiziere und Generäle (Sloterdijk: „Cheerleader des Papstsystems“), sowie c) Islam-Anhänger, die alle starke Ressentiments gegen wissenschaftliches und philosophisches Denken haben – die Letztgenannten am meisten. Sie alle schließen nun seltsame Bündnisse und Pakte, verbünden sich gegen den Hellenismus (Denken, Rationalität, Vernunft).
Wer sie unterstützt ist d) das westliche und östliche Großkapital (Petrodollarmilliardäre, die ganze englische Fußballclubs für Milliarden aufkaufen und sich in alle möglichen hiesigen Großkonzerne einkaufen). Das Großkapital, sei es östlich oder westlich, hat primär ein Interesse: Geschäfte machen. Kultur und Demokratie, kulturelle und politische Freiheit sind hierbei nicht wirklich wichtig, wenn nicht sogar ein Störfaktor. Bevorzugt werden daher auch hier weniger aufgeklärte, weniger gebildete Menschen, da diese zum einen viel leichter über entsprechende Manipulation per Marketing und Werbung zu Konsumenten ihrer Produkte gemacht werden können und zum anderen zugleich ein Reservoir billigerer potentieller Arbeitskräfte bilden.
Die gesteuerte Immigration der Geistlosigkeit
Daher wird nun die Immigration der Geistlosigkeit gefördert und gesteuert, wobei diese eine seit Jahrzehnten bestehende Entwicklung nur fortsetzt und auf die Spitze treibt. Oder wie Sloterdijk schon vor fast eine Dekade (2009 in Du mußt dein Leben ändern) notierte: „Vorauseilende Entgeisterung ist seit Jahrzehnten der Zeitgeist selbst.“
So unterschiedlich die Interessen dieser Gruppen a bis d im Einzelnen sind, sie alle haben einen gemeinsamen Feind: die Aufklärung, die Wahrheitsliebe, die Vernunft, den Hellenismus, der selbstbestimmte Mensch und auch die Demokratie, die ebenfalls ganz dem Hellenismus entspringt und ausschließlich hier geboren wurde, sonst nirgends auf der Welt – in keinem einzigen Land auf diesem Planeten! Indem sie dies alles vernichten, zerstören sie aber (das kulturelle) Europa. Der Kampf gegen den Hellenismus, wo wir die Wiege der europäischen Kultur finden, der Kampf gegen den genuin europäischen Geist wird gleichsam in den Untergang Europas führen, zumindest des Europas, wie wir es bisher kannten und das zumindest einige Jahrhunderte für wissenschaftliches statt mythisch-esoterischem Denken stand, für Demokratie statt Absolutismus und Totalitarismus und für einen moralischen Menschenrechtsuniversalismus, zu dem die heutigen hegemonialen Kräfte nur noch ein rein instrumentelles Verhältnis haben, im Grunde gar keines mehr, sondern die Idee der Menschenrechte nach Belieben benutzen oder zurückweisen, je nachdem, was ihren eigenen Zielen gerade zupasskommt.
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