Von Jürgen Fritz, So. 03. Mai 2020, Titelbild: Pixabay, CC0 Creative Commons
Die Landesregierungen haben beschlossen, dass der Lockdown gelockert werden soll, schwenken in der Coronakrise mithin immer mehr auf die FDP-, AfD- und Laschet-Linie ein, also gegen die vor- und umsichtige Merkel-Söder-Strategie. Das wird von vielen Fachleuten, wie Prof. Christian Drosten, Prof. Melanie Brinkmann, Prof. Karl Lauterbach, der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie, führenden außeruniversitären Forschungsorganisationen, wie der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft sowie Wissenschaftsjournalisten, wie Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, Ranga Yogeshwar und vielen anderen, also von tausenden mit der Materie beschäftigten Wissenschaftlern eher skeptisch gesehen. So könnte ein anderer, ein langfristig tragbarer, ein nachhaltiger Weg aussehen.
Ein Lockdown nach dem anderen oder ein einziger etwas längerer Lockdown
Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 wird uns, davon müssen wir ausgehen, mindestens noch ein bis zwei Jahre beschäftigen. Immer wieder werden Menschen an COVID-19 erkranken und sterben oder auch an Herzversagen. Andere werden die Krankheit überleben, aber bleibende Schäden an der Lunge, womöglich auch an anderen Organen, eventuell auch dem Gehirn davontragen.
Die eine Möglichkeit, mit der Pandemie umzugehen, besteht nun darin, dass wir immer, wenn zu viele auf einmal erkranken, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen wieder verstärken, so lange, bis die Krankenhauskapazitäten wieder ausreichend zur Verfügung stehen und wir einen entsprechenden Puffer aufgebaut haben, um dann wieder zu lockern bis die nächste COVID-19-Welle kommt, so dass wir dann erneut gezwungen sind, die Beschränkungen wieder anzuziehen usw. usf. Auf jede Lockerung folgt also wieder ein Lockdown, dann wieder eine Lockerung und auf diese der nächste Lockdown. Was dieses ständige Hin und Her, diese immer wiederkehrende Auf und Ab mit den Menschen psychisch und mit der Wirtschaft ökonomisch machen wird, kann man sich ausmalen, wenn sich dies über ein bis zwei Jahre hinzieht.
Der andere Weg wäre der, die Zahl der Infizierten so weit zu senken, dass bei allen Neuinfektionen eine Kontaktverfolgung möglich wird, um die Infizierten sofort aus dem Verkehr zu ziehen, bevor sie viele andere anstecken können. Das geht aber eben nur bei sehr niedrigen Fallzahlen. Wie aber soll das erreicht werden? Ganz einfach: Indem der erste Lockdown so lange durchgehalten wird, bis die Zahl der Infektiösen, die ansteckend sind, die also das neuartige Coronavirus weiterverbreiten können, auf ein so geringes Maß gebracht ist, dass es überschaubar wird. Betrachten wir das etwas genauer.
Bei entsprechender Reduktion von R könnte das Problem innerhalb von zwei, drei Wochen weitgehend beherrschbar sein
Ein Infizierter steckt im Schnitt andere nach 4 Tagen an (die ersten 3 Tage ist er noch nicht ansteckend und nach 5 Tagen merkt er erste Symptome und geht im Idealfall in Quarantäne, dazwischen zwischen Tag 3 und 5 erfolgen daher die meisten Weitergaben des Virus). Wie lange dauert es nun bei der veranschlagten Coronavirus-Generationszeit von 4 Tagen bis die Neuinfektionen halbiert sind:
R = 0,9 ==> 26 Tage
R = 0,8 ==> 12 Tage
R = 0,7 ==> 8 Tage
R = 0,6 ==> 5 Tage
R = 0,5 ==> 4 Tage
R = 0,25 ==> 2 Tage
Bei R = 0,9 dauert es also fast ein Monat, bis die Neuinfektionen und folglich mit Verzögerung die Zahl der Infizierten insgesamt sich halbieren. Bei R = 0,5 halbiert sich die Zahl alle 4 Tage und bei R = 0,25 halbiert sich die Zahl der Infizierten alle 2 Tage! Dann gehen die Zahlen also im Eiltempo nach unten. Wenn man es schafft, in den Bereich zu kommen, ist man ruckzuck ganz, ganz weit unten.
Wir haben aktuell ca. 27.600 aktiv detektierte Infizierte (Active Cases). Nehmen wir ferner an auf einen entdeckten Fall kommen nochmals fünf unentdeckte, so dass wir die Zahl mit sechs multiplizieren müssen, dann würden wir über ca. 165.600 aktive Fälle reden. Diese sind aber nicht alle ansteckend. Das Robert Koch-Institut geht davon aus, dass eine relevante Infektiosität zwar bereits zwei Tage vor Symptombeginn vorhanden ist, welche im Schnitt nach 5 bis 6 Tagen einsetzt (Inkubationszeit), und die höchste Infektiosität am Tag vor dem Symptombeginn liegt, also nach ca. 4 bis 5 Tagen nach der Infektion, aber die ersten drei bis vier Tage sind die meisten noch nicht ansteckend. Das Ende der infektiösen Periode ist momentan nicht sicher anzugeben. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass bis zum vierten Tag nach Sypmtombeginn (Tag 9 bis 10 nach der Infektion) vermehrungsfähige Viren ausgeschieden werden, eine andere Studie kam auf eine Ansteckungsgefahr bis zum achten Tag nach Symptombeginn (Tag 13 bis 14 nach der Infektion).
Auf jeden Fall ist ein Infizierter nicht die ganze Zeit ansteckend. Von den aktuell ca. 165.600 aktiv Infizierten sind also nicht alle ansteckend. Gehen wir von dem sehr ungünstigen Fall aus, dass 160.000 von ihnen infektiös wären (96,6 Prozent), dann ergibt sich bei einem Reproduktionszahl R von 0,25 folgende Berechnung: Wir hatten oben gesehen, dass bei R = 0,25, sich die Zahl der Infizierten alle zwei Tage halbiert:
0 Tage: 100% = 160.000
2 Tage: 50% = 80.000
4 Tage: 25% = 40.000
6 Tage: 12,5% = 20.000
8 Tage: 6,25% = 10.000
10 Tage: 3,125% = 5.000
12 Tage: 1,56 % = 2.500
14 Tage: 0,78 % = 1.250
16 Tage: 0,39 % = 625
….
Fazit
Sie sehen also bei einer Reproduktionszahl von 0,25 wären wir innerhalb von nur zwei Wochen bei deutlich unter ein Prozent der aktuellen Fallzahlen (0,78 %). Insofern spielt es auch keine sehr große Rolle, ob es aktuell 160.000 ansteckende Infizierte sind oder sogar nur 100.000. Letzteres wäre natürlich besser, aber bei 160.000 dauert es nur ein bis zwei Tage länger, um den gleichen Stand zu erreichen bzw. umgekehrt wenn es nur 100.000 ansteckende Infizierte sind im Moment, dann wären wir sogar noch ein bis zwei Tage schneller am Ziel, nur noch so wenige Infizierte in ganz Deutschland zu haben, dass wir diese leicht detektieren und für einige Wochen separieren könnten, um alle anderen zu schützen.
Das wäre also ein möglicher Weg. Nicht ein, zwei Jahre mit dem Virus leben und dabei immer am Abgrund entlang balancieren, sondern das Virus soweit unter Kontrolle bringen, dass Neuinfektionen nachverfolgt werden können, so dass nur noch die infektiösen Personen in Quarantäne müssen, alle anderen aber (über 99,99 Prozent) sich frei bewegen können, natürlich mit entsprechenden Abstands- und Hygieneregeln, bis dann ein Impfstoff entwickelt ist.
„Bis Ende Mai könnten wir deutlich unter 1000 Neuinfektionen pro Tag erreichen“
Dr. Viola Priesemann, die eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation leitet, welches sich wiederum weitgehend einig ist mit der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft, also den führenden außeruniversitären Forschungsorganisationen, sagt dazu:
»Es gibt den Wunsch, dass wir die Beschränkungen jetzt stark lockern – damit würde man aber in Kauf nehmen, dass die Ansteckungsrate und die Anzahl der Neuansteckungen wieder steigen. Dann müssten wir uns aber wahrscheinlich in ein paar Wochen wieder drastisch einschränken, um die zweite Welle abzudämpfen. Wir wären also wieder da, wo wir Mitte März waren. Wir plädieren deshalb dafür, die große Chance zu nutzen, die wir gerade haben:
Die Anzahl Neuinfektionen sind so niedrig wie lange nicht – wenn wir sie auf täglich nur noch einige Hundert bestätigte Fälle senken, können wir die Infektionsketten nachvollziehen und die Kontaktpersonen positiv getesteter Patienten isolieren. Je mehr wir die Ansteckungen jetzt nochmal drücken, desto schneller sind wir bei einigen hundert Fällen. Dann können wir uns auch wieder mehr Freiheiten erlauben. (…)
Die effektive Reproduktionszahl lag … in den vergangenen Wochen deutlich unter 1. Wenn das so bliebe, können wir Ende Mai einige 100 Fälle pro Tag erreichen.«
Wir sehen nur eine einzige nachhaltige Lösung
Und Dr. Viola Priesemann weiter zum Thema Lockerungen und einer langfristig tragbaren Strategie:
»Im Prinzip kann jede Beschränkung gelockert werden, wenn es dadurch nicht zu zusätzlichen Ansteckungen kommt. Leider wissen wir nicht, welche Risiken jede einzelne Lockerung mit sich bringt. Um damit Erfahrungen zu sammeln, sollten wir vorsichtig und schrittweise vorgehen. Wenn wir alles gleichzeitig lockern, ist das Risiko einer erneuten Infektionswelle sehr hoch. Außerdem dauert es zwei bis drei Wochen, bis wir die Effekte einer Lockerung sehen. In dieser Zeit kann es schon zu einer starken Ausbreitung kommen, ohne dass wir es merken. Damit würden wir riskieren, die Erfolge der Disziplin und Anstrengungen in den vergangenen Wochen wieder zu verspielen. Es gilt also, Maßnahmen einzeln und gezielt zu lockern und genau zu beobachten, welchen Effekt die Lockerung auf die Neuinfektionen zwei bis drei Wochen später hat. (…)
Als die Infektionszahlen exponentiell stiegen war das Ziel kurzfristig ganz klar, die exponentielle Ausbreitung zu stoppen. Das ist mit großem Einsatz gelungen. Die täglichen Neuinfektionen gehen seit Anfang April klar zurück. Auf den ersten Blick sieht es nun so aus, als seien wir am Ziel. Aber das ist nicht der Fall. Bei einer Entscheidung über ein Ziel muss einem bewusst sein, dass das Virus nicht einfach verschwinden wird. Er wird uns sehr wahrscheinlich noch einige Monate oder Jahre beschäftigen. Deswegen brauchen wir jetzt eine Strategie, die langfristig tragbar ist. Die einzige nachhaltige Lösung, die wir sehen, ist das Virus so weit wie möglich zurückzudrängen, so dass die verbleibenden Infektionsketten nachverfolgt und mögliche neue Infektionsherde so schnell wie möglich aufgespürt werden können.«
P.S.
- Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung kommt die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie in Ulm (ca. 800 Mitglieder).
- Die Gesellschaft für Virologie in Deutschland, Österreich und der Schweiz, mit Sitz in Erlangen hat sogar ca. 1.000 Mitglieder.
- Im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung arbeiten mehr als 500 Ärzte und Naturwissenschaftler gemeinsam an neuen Methoden zur Prävention, Diagnostik und Therapie von Infektionskrankheiten.
- Das Robert Koch-Institut als selbstständige deutsche Bundesoberbehörde für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten beschäftigt ca. 450 Wissenschaftler plus ca. 650 sonstige Mitarbeiter.
- Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig mit Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann (Physiker) als Leiter der Abteilung System-Immunologie, der zugleich Professor an der Technischen Universität Braunschweig ist, beschäftigt ca. 800 Mitarbeiter.
- Das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaiserslautern unter der Leitung von Prof. Dr. Anita Schöbel (Professorin für Angewandte Mathematik an der Technischen Universität Kaiserslautern) hat 330 Mitarbeiter.
- Das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen mit Dr. Viola Priesemann (siehe das Interview oben), die dort eine spezielle Forschungsgruppe leitet, hat ca. 230 Mitarbeiter.
- Das Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen mit der Direktorin Prof. Dr. Iris Pigeot (Statistikerin) hat über 150 Mitarbeiter.
- Hinzu kommen etliche Krankenhäuser und Hochschulen, an denen wissenschaftlich geforscht wird, so zum Beispiel das Institut für Virologie an der Charité in Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Drosten, eine der größten Universitätskliniken Europas.
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