Thilo Sarrazin: SPD agiert nach Erdogan- und Putin-Muster

Von Jürgen Fritz, So. 02. Aug 2020, Titelbild: WELT-Screenshot

„Ich hätte nie gedacht, dass meine ehemalige eigene Partei, die SPD, so tief sinken könnte“. Dies waren die Worte von Thilo Sarrazin, nachdem die Bundesschiedskommission diese Woche beschlossen hat, das zu tun, wonach viele in der Partei seit zehn Jahren gedürstet haben: den Autor von „Deutschland schafft sich ab“ aus der deutschen Sozialdemokratie zu verbannen. Dies sagt vielleicht mehr über die SPD aus, als ihr lieb sein kann. Ein Rückblick, wie es dazu kam und was das für ein Mann ist, den die „Sozialdemokraten“ nun tatsächlich ausgeschlossen haben.

Die Jahre bis 2010

Thilo Sarrazin wurde im Februar 1945 in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in Gera, im Osten Thüringens geboren, ist heute also 75 Jahre alt. Sein Vater war Arzt und Schriftsteller, seine Mutter Künstlerin. Nach Abitur und Wehrdienst begann der 22-Jährige ein Studium der Volkswirtschaftslehre in Bonn, das er mit 26 abschloss. Mit 28 wurde er zum Dr. rer. pol. promoviert mit einer Arbeit über wissenschaftstheoretische Probleme der Wirtschaftsgeschichte aus dem Blickwinkel des Kritischen Rationalismus. Anschließend war er wissenschaftlicher Angestellter der Friedrich-Ebert-Stiftung und trat vor fast einem halben Jahrhundert in die SPD ein.

Ab 1975 war Sarrazin im öffentlichen Dienst des Bundes tätig, zunächst als Referent im Bundesministerium der Finanzen. Mit 32 wurde er bereits Referatsleiter im Bundesarbeits- und Sozialministerium, später dann wieder im Bundesfinanzministerium. Mit Mitte 30 schrieb er die Reden für den Bundesverteidigungsminister Hans Apel, wurde Büroleiter des Bundesfinanzministers. Auch nach dem Ende sozialliberalen Koalition im Oktober 1982 blieb Sarrazin, der SPD-Mann, im Bundesfinanzministerium. Man schätzte seinen Sachverstand und auch in der Kohl-Regierung war Sarrazin mehrfach Referatsleiter.

1989/90 übertrug man dem promovierten Volkswirt das Referat Innerdeutsche Beziehungen, welches zusammen mit dem damaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel und dem späteren Bundespräsidenten Horst Köhler die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion  vorbereitete. Später wurde Sarrazin bis 1997 Staatssekretär im Ministerium für Finanzen in Rheinland-Pfalz und von Januar 2002 bis April 2009 war er Berliner Senator für Finanzen. Mit 59 Jahren musste er sich einer Operation wegen eines gutartigen Tumors an Nerven des Innenohrs unterziehen, welche zur Folge hatte, dass seine rechte Gesichtshälfte ab nun teilweise gelähmt war. Im Mai 2009 wurde er zum Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank berufen und in dieser Position war er auch 2010, als etwas geschah, war das Leben des nun 65-Jährigen nachhaltig verändern sollte.

2010: Deutschland schafft sich ab

Wir schreiben jetzt also das Jahr 2010. Thilo Sarrazin ist 65 Jahre alt, ist seit über 35 Jahren in der SPD und hat, das darf man wohl sagen, eine beachtliche berufliche Karriere hingelegt. Der Mann kann etwas, das ist wohl allen klar, die mit ihm zu tun hatten oder haben. Doch nun passieren einige Dinge, die das Leben von Thilo Sarrazin nachhaltig verändern sollten und die auch Deutschland verändern würden.

Nachdem schon zuvor einige Thesen daraus bekannt geworden waren, erscheint am 30. August 2010, also vor fast genau zehn Jahren Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzenDas Buch wird zu einem der meistverkauften Hardcover-Sachbüchern in der Geschichte der Bundesrepublik. Bereits bis Anfang 2012 werden mehr als 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Deutschland schafft sich ab steht 2010 und 2011 insgesamt 21 Wochen lang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Und es löst eine breite und langanhaltende gesellschaftliche Kontroverse aus. Bereits im September 2010 legt man Sarrazin nahe, seine Vorstandsmitgliedschaft in der Deutschen Bundesbank aufzugeben und das SPD-Präsidium beschließt ein Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin einzuleiten.

Der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel (Lehramtsstudium der Gemanistik, Politik und Soziologie und dann kurze Zeit Dozent für Deutsch für Ausländer, ab ca. 31 Jahre dann Politiker), setzt sich persönlich für den Ausschluss Sarrazins ein. Gabriel erklärt, Sarrazin habe ein „hoffnungsloses Menschenbild“. Er führe keine Integrations-, sondern eine Selektionsdebatte. So viele Fakten und Aufdeckung von Lebenslügen war wohl zu viel für die Genossen. Das verziehen sie Sarrazin bis heute nicht. Doch der legte schon bald nach.

2012: Europa braucht den Euro nicht

Bereits im Mai 2012 erschien Sarrazins nächstes Buch: Europa braucht den Euro nicht. Darin gibt er zu verstehen, dass die einzige langfristige Chance für Europa in einem „Kontinent der Nationalstaaten“ bestehe, „der seine Kräfte dort bündelt, wo es zweckmäßig ist, und dort individuelle Flexibilität lässt, wo das einzelne Land dies wünscht“. Der Euro aber sei ein Zwangskorsett, wodurch „aus der Krise des Währungssystems eine Legitimitätskrise des politischen Systems“ entstehe. Außerdem nahm er Bezug auf eine Aussage Helmut Schmidts, der eine Verbindung zwischen dem Euro und Deutschlands Schuld am Zweiten Weltkrieg gezogen hatte. Und über die Befürworter von Eurobonds, vor allem in der SPD, den Grünen und der Linkspartei schrieb er:

„Sie sind außerdem getrieben von jenem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir all unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben.“

Auch dieses Buch wurde heftig diskutiert, Sarrazin wieder attackiert, wogegen Fachleute sein Buch durchaus insgesamt wohlwollend und positiv bewerteten. So schrieb beispielsweise der FAZ-Wirtschaftsjournalist Philip Plickert, Sarrazin schreibe „mehr Vernünftiges als viele seiner Kritiker“: „Seine volkswirtschaftlichen Analysen sind fundiert, sie enthalten vernünftige, faktenbasierte Argumente und rechtfertigen keine hysterische Kritik (etwa von Politikern, die Auftrittsverbote im öffentlich-rechtlichen Rundfunk forderten).“

Die Hetze gegen Sarrazin von Linksradikalen, -extremisten und Personen mit Migrationshintergrund nimmt zu

Doch die Hetze gegen den Buchautor von seiten von Immigranten, neuen Linksradikalen und -extremisten wurde jetzt immer geschmackloser. Die taz, bei der sich, wie nicht nur die WerteUnion meint, die Frage stellt, ob sie die Grenze von linksradikal zu linksextremistisch und verfassungsfeindlich nicht bereits überschritten habe, schrieb 2012: Sarrazin werde inzwischen „von Journalisten benutzt wie eine alte Hure“, die zwar billig sei, „aber für ihre Zwecke immer noch ganz brauchbar“, wenn man sie auch etwas aufhübschen müsse. Es frage sich nur, „wer da Hure und wer Drübersteiger“ sei.

Mely Kiyak, Tochter eines aus der Türkei stammenden kurdischen Einwanderers, der in Deutschland aufgenommen wurde, bezeichnete Thilo Sarrazin in einer Kolumne für die Berliner Zeitung sowie die linksradikale Frankfurter Rundschau als „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“.

Und der Deutsch-Türke Deniz Yücel schrieb wiederum in der taz über die Person „Thilo S.“: „[…] dem man nur wünschen kann, der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten.“ – Sarrazin hatte nie einen Schlaganfall. Der Deutsche Presserat rügte dies als Verstoß gegen den Pressekodex und stellte fest: Der Ausschuss halte die Bemerkung „für unvereinbar mit der Menschenwürde“.

2014: Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland

Doch die Masche der Linksradikalen und -extremisten sowie Immigranten aus einem bestimmten Kulturkreis fruchtete dieses Mal nicht. Denn Sarrazin ließ sich nicht einschüchtern und finanziell kam man an den Mann nicht heran. Schon bei Erscheinen von Deutschland schafft sich ab war der Autor über 65 Jahre, hatte seine Pension sicher und die Einnahmen aus seinen höchst erfolgreichen Büchern spülten zusätzlich eine siebenstellige Summe in die Kasse, so dass man Sarrazin ökonomisch nichts mehr anhaben kann. Natürlich haben all diese Anfeindungen psychisch auch bei ihm Spuren hinterlassen. An keinem Menschen gehen solche Anfeindungen und Diffamierungen spurlos vorbei. Aber wirtschaftlich ist der Mann nicht zu packen. Und genau das verleiht ihm die Möglichkeit, frei zu sprechen. Und das tat er weiter.

Schon im Februar 2014, keine zwei Jahre nach seinem letzten Buch erschien Der neue Tugendterror – Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in DeutschlandHierin legte Sarrazin seine zuvor schon in diversen Vorträgen vertretene Position dar, in Deutschland schränke ein Gleichheitswahn die Meinungsfreiheit ein. Zu den Axiomen des Tugendwahns gehöre inbesondere, dass das klassische Familienbild als obsolet abgetan werden, Kinder nicht mehr Vater und Mutter brauchen würden. Der Gleichheitswahn führe direkt in den Tugendterror, so wie er sich schon in der Französischen Revolution und im Stalinismus gezeigt habe. Die „Vorstellungen der 68er“ seien „marxistisch“. Damit stünden sie in eben dieser Tradition des Tugendterrors. Eine links von der Mehrheit stehende Medienklasse bediene sich der Sprache einer „politischen Korrektheit“. Diese erklärt Sarrazin im Kapitel „Dekadenz der Sprache – Dekadenz des Denkens“ unter Rückgriff auf George Orwells Roman 1984.

2018: Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht

Ende August 2018 erschien dann der nächste Bestseller, der es auf Anhieb auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste schaffte und zugleich den Ausschlag gab für den jetzigen Parteiausschluss: Feindliche Übernahme – Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. Darin legt Sarrazin dar, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland nicht einer liberalen Islam praktiziere, dies tue nur eine Minderheit, sondern einer konservativen Islamauffassung folge. Der konservative Islam sei aber gegen das freiheitliche Denken, gegen Gleichberechtigung, gegen Geburtenkontrolle gerichtet und verhindere oder erschwere zumindest wirtschaftlichen Erfolg und Integration. Genau deshalb seien islamisch geprägte Länder in Wirtschaft, Bildung, Kultur und Demokratie im Vergleich zu westlichen Staaten so rückständig. 

Und nun soll dieses Jahr, wieder Ende August Sarrazins neues Buch erscheinen: Der Staat an seinen Grenzen. Darin setzt er sich mit der Frage auseinander, ob Einwanderung wirklich immer und ohne Einschränkung so segensbringend ist, wie es die Bundesregierung zur Begründung der völligen Preisgabe der Außengrenzen seit 2015 behauptet und wie es in der Präambel des Migrationspakts behauptet wird: „Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt …“

Das Urteil stand wohl schon von vornherein fest

So viele Wahrheiten und scharfsinnige Analysen, so viele Fakten und Entlarvungen waren, wie gesagt, zu viel für die SPD. Und so versucht sie seit Jahren schon, Sarrazin aus der Partei, der er seit mehr als 45 Jahren angehört, hinauszudrängen. Nun ist es ihr also geglückt.

Bei der Verhandlung „stand das Urteil wohl schon von vornherein fest“, sagt Sarrazin nach dem Urteilsspruch der Bundesschiedskommission. Vier Stunden dauerte die „Beweisaufnahme“, doch die SPD-Schiedskommission ahme ein ordentliches Gericht nur nach. Man spiele quasi Gericht und sei doch keines. so Sarrazin, der ein 14-seitiges Dokument vorgelegt hatte, in welchem er Punkt für Punkt nachwies, dass seine Thesen in keinem Punkt dem „Hamburger Programm“, dem noch immer gültigen SPD-Parteiprogramm von 2007 widersprechen.

Der „Staatsanwalt“ im SPD-Puppengericht war Generalsekretär Lars Klingbeil. Der hatte der dezidierten Widerlegung durch Sarrazin wenig Substanzielles entgegenzusetzen, beschränkte sich vielmehr auf das, was wir von „mondernen Politikern“ der Neuen Linken zur Genüge kennen: Phrasen und Schlagworte, wie „Rassist“, „Rechtspopulist“ oder „Unterstützer der AfD“.

Sarrazin kommentierte dies anschließend wie folgt: „Während der gesamten vierstündigen Verhandlung gelang es der Gegenseite nicht, mir einen einzigen sachlichen Fehler oder eine rassistische Aussage in meinem Buch nachzuweisen. Ich werde jetzt den ordentlichen Gerichtsweg beschreiten.“

Ich hätte nie gedacht, dass meine ehemalige eigene Partei, die SPD, so tief sinken könnte

Gleichwohl gab der 75-Jährige, der immerhin seit 1973 SPD-Mitglied war, zu, dass auch für ihn dieser Vorgang „verstörend“ war. „Die Partei vollzieht Rituale statt sich an ihrem Programm zu orientieren“, sagt er. Er repräsentiert wohl für die neue SPD und ihre Parteiführung „all das, was sie in der SPD nicht mehr will“.

Lars Klingbeil, der für eine völlig andere SPD steht als Thilo Sarrazin, als Helmut Schmidt oder Willy Brandt, konnte dem ungeliebten alten SPD-Haudegen, keinerlei Faktenfehler nachweisen. Doch darum ging es auch gar nicht. Sie müssen sich bitte vorstellen, was das für einen Menschen bedeutet, der mit 28 Jahren in eine Partei eintritt, Jahre und Jahrzehnte lang für sie tätig war, teilweise in führenden Positionen, der seine inhaltlichen Positionen nie geändert hat und der dann hinausgeworfen, vor die Tür gesetzt wird, man ihm sagt: Dich wollen wir hier nicht mehr haben. Du bist keiner mehr von uns.

Wie tief seine Enttäuschung war, erkennen wir vielleicht an diesem Satz, in dem zugleich vielleicht wieder einmal eine tiefe Wahrheit enthalten ist, wie in so vielem, was er die letzten Jahrzehnte sagte und die letzten zehn Jahre niederschrieb und dabei mehr Mut zeigte als die meisten anderen in diesem Lande:

„Die heutige Entscheidung der Bundesschiedskommission der SPD war ein abgekartetes Spiel nach dem Muster der Justiz in Erdogans Türkei oder Putins Russland. Ich hätte nie gedacht, dass meine ehemalige eigene Partei, die SPD, so tief sinken könnte.“

Zugleich zeigte sich der 75-Jährige weiterhin kämpferisch:

Statement von Thilo Sarrazin zu seinem Ausschluss

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