Von Jürgen Fritz, Mi. 07. Apr 2021, Titelbild: phoenix-Screenshot
Die AfD wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz vom Prüf- zum Verdachtsfall hochgestuft. Aktuell liegt dies noch auf Eis, bis das zuständige Gericht über den Eilantrag der Partei entschieden hat, doch dies wird das Ganze womöglich nur etwas verzögern. Welche Auswirkungen wird eine solche Einstufung auf die AfD haben? Dazu sprach Dr. Sarah Schmid von der Hanns-Seidel-Stiftung mit dem Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte Dr. Hendrik Hansen.
Auf welcher Grundlage die Hochstufung der AfD vom rechtsextremistischen Prüf- zum Verdachtsfall erfolgte
Prof. Dr. Hendrik Hansen ist seit Anfang 2019 Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Zuvor lehrte er an der Andrássy Universität Budapest und der Universität Passau. Er hatte Vertretungs- und Gastprofessuren an der University of Puget Sound (Tacoma, USA) sowie in Erfurt und Regensburg. Mit ihm sprach die Leiterin von Verfassung, Europäische Integration und Gesellschaftliche Partizipation der Hans-Seidel-Stiftung Dr. Sarah Schmid.
Über den internen Prozess der Bewertung der AfD gebe es natürlich keine genauen Informationen, macht Prof. Hansen zunächst deutlich. Aber es ließen sich Rückschlüsse aus früheren Verfahren und aus Publikationen des Verfassungsschutzes über die Bewertung extremistischer Organisationen ziehen. Dabei erscheinen dem Extremismusforscher im Zusammenhang mit der AfD vor allem drei Aspekte relevant zu sein:
- Erstens würden Aussagen gesammelt, die auf eine verfassungsfeindliche Orientierung hinweisen,
- zweitens würden Verbindungen der AfD zu extremistischen Organisationen untersucht (z. B. zur Identitären Bewegung Deutschland) und
- drittens müsse die Zurechenbarkeit solcher Aussagen bzw. Verbindungen zur Gesamtpartei geprüft werden.
Letzteres sei hierbei ein entscheidendes Kriterium, denn nicht jede verfassungsfeindliche Aussage und nicht jede Verbindung eines Parteimitglieds zu einer extremistischen Organisation könne der Partei als Ganzes angelastet werden. Im Fall der AfD dürfte die größte Herausforderung in der Beantwortung der Frage liegen, wie stark innerhalb der Partei das Personennetzwerk sei, das bis April 2020 unter dem Namen Der Flügel auftrat. Es sei offenkundig, dass die Partei ein „besonders gäriger Haufen“ (Gauland) sei, in dem viele Positionen vertreten würden. Die Frage sei, ob verfassungsfeindliche Positionen in der Partei auch dominieren, so Hansen.
Ausschlaggebende parteiinerten Entwicklungen, welche die Hochstufung bewirkten
Auf den ersten Blick erscheine es so, als sei die AfD in den letzten Monaten verstärkt auf Mäßigung bedacht: Der Ko-Bundessprecher Jörg Meuthen habe in seiner vielbeachteten Rede auf dem letzten Parteitag der AfD Ende November 2020 jeder Form von Extremismus eine klare Absage erteilt; Personen, die im Verdacht stünden, rechtsextremistisch zu sein, wurden aus der Partei ausgeschlossen (Andreas Kalbitz) oder haben ihre Ämter verloren (z. B. Roland Hartwig, der bis Dezember 2020 Leiter der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz in der AfD war).
Bei genauerer Betrachtung seien diese Maßnahmen aber nur eine Reaktion auf Druck von zwei Seiten, meint Hansen: zum einen die immer stärkere Rolle rechtsextremistischer Personen und Einstellungen in der Partei, zum anderen die daraus resultierende Gefahr einer Einstufung der Partei als extremistischer Verdachtsfall. Ersteres lasse sich z. B. an der Debatte über Meuthens Rede beim Parteitag ablesen: Dessen Kritik am rechten Flügel der Partei und an der Solidarisierung mit den Protesten der „Querdenker“ riefen heftige Reaktionen hervor. Dass über den Antrag zur Missbilligung der Rede nicht abgestimmt wurde, habe Meuthen einer sehr knappen Mehrheit von 53 Prozent zu verdanken. 47 Prozent aber wollten eine solche Abstimmung und damit offensichtliche eine entsprechende Missbilligung von Meuthens Rede.
Das sieht der Professor als ein kleines Indiz unter vielen für die Stärke rechtsextremistischer Positionen in der Partei. Es zeige, dass der Kurs von Meuthen, für das „bürgerliche“ Lager wählbar zu bleiben, nur noch knapp die Zustimmung in der AfD finde. Dabei bestehe das Problem nur zu einem Teil in offen rechtsextremistischen Äußerungen. Die Strategie bestehe vor allem in ständigen Grenzüberschreitungen. Der bereits erwähnte ehemalige Vorsitzende der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz in der AfD, Hartwig, habe seiner Partei (strategisch) empfohlen, dass jede (mutmaßlich) rechtsextremistische Äußerung eines Parteimitglieds von höherer Stelle öffentlich gerügt werden müsse. Das würde die Partei davor schützen, dass ihr die Äußerung zugerechnet werde, so Hansen.
Anders formuliert: Auf diese Weise dürfe alles gesagt werden; man müsse nur darauf achten, dass der Verfassungsschutz es nicht der Partei insgesamt anlasten könne. Die Methode der gezielten Verschiebung der Grenzen des Sagbaren hat der Vertreter der Neuen Rechten und Mitbegründer des rechtsextremistischen Instituts für Staatspolitik Götz Kubitschek der AfD bereits 2017 in einer Strategie-Rede in Bad Dürrenberg empfohlen.
Folgen des Gerichtsbeschlusses, dass das BfV die AfD bis zum Abschluss des Eilverfahrens nicht als extremistischen Verdachtsfall einstufen darf
Die unmittelbare Folge dieses Gerichtsbeschlusses sei, dass die AfD als Gesamtpartei vorerst nicht mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden dürfe, macht Hansen deutlich. Das werde für den Verfassungsschutz aber nur begrenzte Auswirkungen haben, denn der Beschluss betreffe nicht die Beobachtung der Teile der Partei, die bereits heute offiziell als Verdachtsfall (Junge Alternative) oder gar als gesichert rechtsextremistische Bestrebung behandelt werden, so das Netzwerk des ehemaligen, im April 2020 aufgelösten Flügels. Gravierender seien dagegen die Konsequenzen für die Reputation des Verfassungsschutzes, denn die Entscheidung des Gerichts werde in der Öffentlichkeit als Rückschlag für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wahrgenommen.
Das Ganze sei jedoch differenzierter zu bewerten. Das Gericht spreche davon, dass die Entscheidung der Einstufung der AfD als Verdachtsfall „in einer dem BfV zurechenbaren Weise (…) ‚durchgestochen‘ worden sei“. Gemeint sei damit die Videoschaltkonferenz, in der das BfV am Mittwoch, dem 3. März 2021, die Landesämter für Verfassungsschutz über die Höherstufung informiert hatte. Dass der Inhalt dieser Besprechung an die Öffentlichkeit gelangte, sei in der Tat rechtlich gesehen eine Straftat und politisch betrachtet ein Skandal. Doch es sei voreilig, dies dem BfV anzulasten: „Es ist nicht erwiesen, dass das ‚Leck‘ im BfV zu verorten ist, und hinsichtlich der Durchführung der Videokonferenz hatte das Amt hier kaum eine Wahl“, macht Hansen deutlich. Deutschland habe aus guten Gründen eine föderale Struktur des Verfassungsschutzes, in der wichtige Entscheidungen im Verbund getroffen würden. Die Landesämter hätten sicherlich zahlreiche Informationen für das AfD-Gutachten zugeliefert, „so dass sie schon deshalb einen Anspruch habe, über die Entscheidung des BfV informiert zu werden“, so Hansen.
Konkreten Auswirkungen, falls es definitiv zur Einstufung der gesamten Partei als verfassungsfeindlicher Verdachtsfall kommt
Konkret wäre die Folge einer Einstufung der Gesamtpartei als Verdachtsfall, dass sie insgesamt mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden könne. Inwieweit dies zu einer Veränderung der Praxis der Beobachtung führe, sei fraglich, denn schon jetzt dürften, wie erwähnt, Teile der Partei beobachtet werden. Gravierender wären die Folgen für das Auftreten der Partei im Wahlkampf und für die Mitgliedschaft von Beamten.
Beamte und Anwärter auf das Beamtenverhältnis unterliegen besonderen Pflichten. „Sie müssen sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“ unterstreicht der Extremisexperte. Das bedeute, dass sie nicht nur im Dienst, sondern auch in ihrem Privatleben zur Verfassungstreue verpflichtet sind.
Zudem genüge es nicht, dass ein Beamter unsere politische Ordnung nicht offen ablehne – gefordert werde nicht nur die Neutralität, sondern ein klares, positives Bekenntnis. Selbstverständlich sei ein politisches Engagement von Beamten, das im Einklang mit diesen Prinzipien stehe, erlaubt, ja sogar erwünscht – aber sobald es um extremistische Parteien gehe oder um solche, die im Verdacht stünden, extremistisch zu sein, gerate ein Beamter in Konflikt mit seinen Pflichten.
Das bedeute nun nicht, dass Beamte, die Mitglieder der AfD sind, im Fall einer Einstufung der Partei als Verdachtsfall mit der sofortigen Entlassung aus dem Dienstverhältnis rechnen müssten. Jeder Einzelfall müsse hier gesondert geprüft werden. Insbesondere dürfte bei der Einschätzung der Einzelfälle die Ausrichtung des jeweiligen Orts- und Landesverbandes eine Rolle spielen. Doch je mehr sich bei der AfD der Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit erhärte, desto schwerer werde eine Mitgliedschaft in der Partei mit einer Beamtenposition vereinbar sein.
Auswirkungen auf die parteiinternen Flügelkämpfe
Die Flügelkämpfe in der Partei werden sich tendenziell noch verschärfen, glaubt Hansen. „Das zeichnete sich aber bereits im vergangenen Jahr ab“, der bereits erwähnte Bundesparteitag Ende November 2020 habe dies deutlich gezeigt. Dabei seien zwei Szenarien denkbar: „einerseits könnten die verbliebenen gemäßigteren Kräfte – die eventuell in der Partei zur Zeit noch eine knappe Mehrheit haben – versuchen, die rechtsextremistischen Kräfte zurückzudrängen. Dann aber müsste es zu zahlreichen Parteiausschlussverfahren kommen – in Ostdeutschland müsste sich die Partei von ganzen Landesverbänden trennen. Das käme einer Spaltung der Partei gleich“.
Das andere Szenario wäre, dass die rechtsextremistischen Teile gestärkt würden und sie die Partei in Zukunft noch stärker, als es jetzt schon der Fall sei, dominieren werden. Nach derzeitigem Stand vermutet der Politikprofessor, dass das zweite Szenario realistischer sei. Erstens seien die moderaten Teile der Partei seit Jahren in der Defensive. Das, was sie eine, sei vor allem die Ablehnung des Abdriftens der Partei in den Rechtsextremismus. Zweitens hätten sie keine überzeugende Führungsperson: „Jörg Meuthen hat jahrelang mit den Rechtsextremisten in seiner Partei paktiert – so war er z. B. Gastredner bei den ‚Kyffhäusertreffen‘ des ‚Flügels‘ und im ‚Institut für Staatspolitik‘.“ Erst als die Einstufung der Partei als rechtsextremistischer Verdachtsfall drohte, habe Meuthen sich stärker von diesen Teilen der Partei distanziert.
Einfluss der Einstufung als extremistischer Verdachtsfall auf die Anhänger der Partei
Darüber könne man nur mutmaßen, meint Hansen. „Einerseits dürfte die Einstufung wie ein Stigma wirken„ – und zwar unabhängig von der Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts, denn dass das BfV die AfD für einen rechtsextremistischen Verdachtsfall halte, sei ja nun bekannt geworden. „Das könnte Wähler abschrecken.“
Andererseits aber sei die AfD eine Partei, die nicht primär gewählt werde, um sie in eine Regierung zu bringen, sondern um Protest zum Ausdruck zu bringen. Das lasse sich u. a. daran erkennen, dass sie in Umfragen weiterhin stabil zwischen 9 und 11 Prozent liege, im Vergleich zu 12,6 Prozent bei der letzten Bundestagswahl (Anmerkung JFB: Durch die enorme Schwäche der Union in den letzten Wochen ist die AfD sogar auf 10 bis 12 Prozent gestiegen.)
Und diese Werte erziele die AfD ja trotz der parteiinternen Querelen und der drohenden Einstufung durch den Verfassungsschutz. Zudem habe die Partei spätestens seit Januar 2019, als das BfV sie als „Prüffall“ eingestuft hatte, das Stigma des Rechtsextremismus – ohne dass ihr das bislang erheblich geschadet hätte. Sollten aber aufgrund einer Einstufung als Verdachtsfall die rechtsextremistischen Kräfte in der Partei tatsächlich stärker werden, könnte diese Entwicklung Wähler abschrecken, so Hansen.
Auswirkungen auf die Parteibindung in den neuen Bundesländern
Im Osten sei die AfD schon seit Jahren – spätestens seit der Erfurter Resolution, mit der im März 2015 der Flügel gegründet wurde – in stärkerem Maße rechtsextremistisch als in den meisten Regionen Westdeutschlands. Wer z. B. in Thüringen AfD wähle, wähle den Ko-Landessprecher und AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag Björn Höcke. Trotzdem (oder deshalb?) habe die Partei dort bei der letzten Landtagswahl 23,4 Prozent der Stimmen bekommen. Maßgeblich dafür scheint für Hansen ein erhebliches Potential an Protestwählern zu sein. Die Partei Die Linke habe ihre frühere Funktion als Protestpartei in Ostdeutschland eingebüßt, schon allein deshalb, weil sie mittlerweile in mehreren Bundesländern mitregiere. Etliche Protestwähler hätten sich stattdessen der AfD zugewandt. Für diese Wähler werde die Einstufung durch den Verfassungsschutz eine geringe Bedeutung haben.
Es gebe aber auch andere Wähler, die v. a. von der CDU zur AfD abgewanderten, weil sie sich von ihr politisch nicht mehr repräsentiert sähen. Solche Wähler, die sich eine Partei mit einem konservativeren Profil wünschten, aber keine rechtsextremistischen Einstellungen hätten, müssten von den Unionsparteien wieder ernster genommen werden, so die Diagnose des Forschers. In der wehrhaften Demokratie sei es wichtig, Extremismus zu bekämpfen. Es sei aber auch wichtig, „dass die Volksparteien alle demokratischen Spektren abbilden, um keiner Wählergruppe einen Vorwand zu geben, Extremisten zu wählen“, so der Professor für politischen Extremismus und politische Ideengeschichte.
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Hier können Sie das gesamte Interview nachlesen: Hanns Seidel Stiftung.
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